Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Der Lauf des Lebens schlägt mitunter recht seltsame Wege ein, und das fatale an der Individualität ist, dass man den Weg nicht einfach geht, sondern sich ständig fragen muss, warum es denn gerade diese Richtung ist, warum der Weg so holprig, so steinig ist, warum die Füße bluten müssen, warum man überhaupt weiter soll, wenn es doch kein Ziel gibt. Solche Fragen machen das Wandern nicht gerade leichter, das könnt ihr mir glauben. So kam es, als ich dem Nest euphorisch und siegreich den Rücken kehrte und kaum zehn Schritte gegangen war, dass mein Weg mich geradewegs in den tiefsten Schwermut führte, meinen friedlichen Ozean, dessen hasserfüllte Wasser sich über mir schlossen, als mein Gewissen mich hinabzog. Der erste Tag meines langen Untergangs also. Nun, da ich ja zum ersten Mal ertrank und ich es in meiner Einfall nicht besser wusste, kämpfe ich dagegen an. Zugegeben, ein Fehler, denn je mehr ich gegen mein Gewissen ankämpfte, desto mehr füllte sich mein Meer, und sein Grund sank weiter und weiter, bis ich ihn nicht mehr erreichen konnte, um meine Schuld abzulegen, um wieder auftauchen, vielleicht sogar leben zu können. Na, was soll´s, Pech gehabt!
Gut, ich war zu dem geworden, was ich verachtet habe, ein Schlächter an Wehrlosen. Aber nein, nicht so selbstkritisch! Ich war ein Held, ganz eindeutig, ich hatte gemordet, um zu leben! Hatte ich? Ja, natürlich! Ja, Ja, Ja! Kein Zweifel! Oder doch! Nein, ich war gut, und mögen meine Motive noch so egoistisch, noch so widerlich gewesen sein, ich hatte die Lemmingheit doch zumindest vor drei weiteren gierigen Mördern bewahrt, habe Verbrechen begangen, nahm Schuld auf mich, um andere zu erretten. Man, das ist wohl selbstlos, ha!
Ein schneller Atemzug, bevor ich wieder versank. Ich war einer Schnee-Eule entkommen, entkommen durch meine Individualität. Die Eule flog davon, um ihren Hunger anderweitig zu stillen. Hatte ich mein Leben auf anderer Kosten verlängert? Pfui, wie niederträchtig! Aber nein, ein Lemming mehr oder weniger, was soll´s, ich meine, wer weiß wie vielen ich das Leben gerettet habe, indem ich den drei kleinen Rackern für immer ihre gierigen Mäuler gefüllt hatte. Was ist einer, gegen so viele! Nichts? Ich bekam Oberwasser, erhob meinen Kopf über die Fläche meines Hasses und sah, dass ich gut war.
Ein unendlich zorniger Schrei hinter mir, beschwerte mein Gewissen um ein oder zwei Gebirge, und als ich in die Tiefe schoss, wehrte ich mich dennoch, warf mich zu Boden, verhielt mich still. Die Schnee-Eule war zurückgekehrt, und ihr Schrei war wie ich: hasserfüllt, gierig nach Rache. Hm, vielleicht war es keine gute Idee, den Kleinen die Flügel auszureißen und sie ihnen in die Kehlen zu stopfen.

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