Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Lemming tastete nach einem weiteren Stein, hielt ihn hoch.
>Ja, ja<, sagte er, >das war schon seltsam, weiß gar nicht wie ich´s euch beschreiben soll. Aber ich versuch´s einfach mal, vielleicht verstehe ich es dann selbst. Beobachtet den Stein.<
Lemming ließ den Stein über den Rand fallen. Der Wind drückte ihn gegen die Klippe und der Stein prallte vom kalten Fels ab, wirbelte einige Schritt von der Felswand fort, um in seinem unaufhaltsamen Fall aufs Neue vom Wind gegen den Fels getragen zu werden. Weiter und weiter fiel er holpernd in den dunklen Schlund, als wollte weder die Wand noch der Wind sich seiner erbarmen, so als stießen sie in von sich, bis dass er in die dunkle, gischtgepeitschte Tiefe stürzte.
>Seht ihr!<, sagte da Lemming,> ich meine, das war viel zu langsam. Stein fällt, Stein schlägt auf, keine Zeit den Fall mit Gedanken zu füllen. Und so war es an jenem Tag: jeder Schritt, den ich auf Lemming zu machte, schien eine Ewigkeit zu dauern, gut, vielleicht waren meine Gedanken auch zu schnell, und mir kam es nur wie eine Ewigkeit vor. Was weiß ich. Ich bin ein Lemming und dementsprechend unerfahren in solchen Dingen.<

Ich rannte also, und wurde von meinen Gedanken überholt. Langsam schoss die Schnee-Eule auf Lemming hinab, die, zäh wie der Harz, der von den Bäumen fließt, hakenschlagend über die Wiese jagte. Schritt. Was mache ich hier eigentlich. Schritt. Hallo, Echo. Schritt. Wahnsinn,
ich laufe schreiend auf eine Schnee-Eule zu. Schritt. Verdammte Individualität, das ist der Grund. Oh du grausame Wahrheit. Schritt. Dort rennt sie. Schritt. Ich liebe sie. Schritt. Ich muß sie retten. Schritt. Stirbt sie, sterbe ich! Schritt. Oh nein, wie erbärmlich bin ich, denn das ist die Wahrheit. Schritt. Ich bin kein Held, ein Feigling bin ich. Schritt. Ein Egoist. Schritt. Will sie um meinetwillen retten. Schritt. Das ist es. Die traurige Wahrheit. Schritt. Oh, ich liebe sie, klar, kein Zweifel, deshalb will ich sie ja auch retten, selbst wenn ich dafür sterben muss. Doppelschritt. Wie bitte soll ich denn weiter leben in dem Bewusstsein, dass der Lemming den ich liebe, von eine beschissenen Schnee-Eule gefressen wird, während ich versuche mein lächerliches Leben durch Fluch zu verlängern? Schritt. Schritt. Es ist die Angst vor diesem Leben, die mich den Tod suchen lässt. Reine Feigheit. Schritt. Bitter, bitter, naja vielleicht bin ich doch ein Held, wo ist da schon der Unterschied. Schritt.
Es gibt Dinge, die die Ewigkeit zerreißen, die einen aus dem Schlaf in die Realität schleudern, kleine Dinge, vielleicht Gedanken, vielleicht Geräusche, manchmal ein Bild, manchmal eine Erinnerung. Schritt. Dieses Muster kenne ich doch...

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