Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Was für ein Narr ich war, zu denken, ich könne meinen Hass kontrollieren, ihn auf meines Vaters Mörder bündeln. Oh weh, das konnte nicht klappen. Er begann sich selbständig zu machen. Die Weibchen warfen wie wild, und bald konnte man kaum durch die Berge springen, ohne anderen Lemmingen auf die Pfoten zu trampeln. Überall waren sie, machten was brave Lemminge machten: sie fraßen und wurden gefressen. Und der weiße Tod hielt reiche Ernte, doch selbst er, so allgegenwärtig er war, konnte die Flut nicht aufhalten. Und mitten darin stand ich. Warum wusste ich nicht, ich sah nur, dass ich anders war.
Alles schien sinnlos, als sei das Leben nur der hohle Raum zwischen Geburt und Tod: gerade lang genug, um eines anderen Magen zu füllen. Da war sie, die große, eine Frage, die ein Lemming noch nie zuvor gestellt hatte, die er auch nicht stellen durfte, ja, die ihn gar nicht zu interessieren hat: Ist das wirklich alles? Ja, natürlich! Aber damals wollte ich das nicht einsehen, sah nur die anderen, wie sie blind durch eine grausame, tödliche Welt spazierten, an Fortpflanzung und Nahrung dachten. Zufrieden mit der Bedeutungslosigkeit. Da griff der Hass. Oh, sie waren so klein, so begrenzt, aber ich dachte in so viel größeren, besseren Dimensionen. Der Freund der Anmaßung ist die Verachtung, und sie wuchs, denn, von der Rechtmäßigkeit meines Wesens überzeugt, versuchte ich bald andere zu bekehren. Das heißt natürlich nicht, dass ich alle Fesseln meiner pelzigen Art abgelegt hatte. He, ich bin ein Lemming!

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