Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Sie hieß Lemming und war eins dieser kleinen wuscheligen Biester, die einen Lemming verrückt machen konnten. Und dieser Pelz, wahnsinn. Wir trafen uns an einem Tag, wie er schöner nicht hätte sein können, auf einer Wiese, so herrlich blühend, dass es eine Sünde war, sich ihr nicht zu ergötzen. Nun, wir waren jung und widmeten unsere Aufmerksamkeit der Paarung. Ich hörte mich selbst belangloses Zeug reden, war selbst bei der Verlustliste meiner Familie ( Eulen: 15, Lemminge: 0 ) nicht ganz bei der Sache, denn mit jedem Atemzug sog ich ihre Paarungsbereitschaft ein, und es dauerte nicht lange, da sah ich meinen vor Geilheit bebenden Körper auf sie springen, und mich selbst rammeln, als gäbe es kein Morgen mehr. Ach, für einen Moment lang war ich, wie ich sein sollte. All die Gedanken, die mein armes Hirn auf dem Weg zu ihr zum kochen brachten, waren fort. Oh, Liebe war es, so dachte ich, denn ich mein neues Ich weigerte sich blind einem natürlichen Trieb nachzugeben. Auch danach wollte ich sie lieben, tat es auch und glaubte es zu tun, doch während jener wenigen, sorglosen Augenblicke, da wir es wie die Lemminge trieben, da war es gut. Versteht das nicht falsch, aber das Liebesleben der Lemminge ist nicht gerade durch seine grenzenlose Ekstase bekannte, aber das war es auch nicht, was mich bewegte. Es war richtig, es war normal. Als ich meine Ladung neuer Lemminge in sie schoss, begriff ich dies nicht, denn Normalität lernte ich erst schätzen, als ich Lemmings kleinen, flauschigen Bauch ein letztes Mal sah, ehe die Wellen sie von den Felsen ins Meer rissen.

Lemmings Grabwerkzeuge wuselten durch mein Fell, und mit der angenehmen Entspannung kamen die Gedanken zurück, stürmten gegen die Reste meines alten Ichs, das mehr und mehr zu zerbersten drohte. Oh, dachte ich, was für ein verdammter Bastard von einem verantwortungslosem Lemming ich doch bin. Hier liegt Lemming, der Lemming den ich liebe, und ich zwinge sie dazu, kleine Lemminge in eine von Eulen gebeutelte Welt zu werfen, die sicherlich eine Menge zu bieten hat, aber gewiss eine große Lebensaussicht. Verdammt, gibt es nicht schon genug von uns. Wie konnte ich es wagen, oh wei, nur aus purer Geilheit. Na prima, kaum ein paar Wochen ein Individuum und schon einen Charakterfehler von der Größe von Vaters, ach nein, meiner Klippe. Verdammt. Oh, diese Schuld wird über mir schweben, wie diese Schnee-Eule dort oben, und genau wie sie, wird Strafe für meine Schwäche auf mich herabstürzen, und mich eines Tages... He, Moment mal. Arrggg...<
Die Reste meines Lemming-Daseins starteten meinen Überlebensinstink. Ratternd kam er in Gang. Lemming sprang ebenfalls auf. Wir entschieden uns für die alt bewährte Lemming Fluchtstrategie: getrennt fliehen, einsam sterben. Die Schnee-Eule entschied sich für Lemming. Ich sah´s aus den Augenwinkeln heraus, als ich versuchte, die Felsen im Zickzacklauf zu gewinnen. Ich rannte schneller, dann langsamer, blieb endlich stehen, schüttelte den Kopf, rannte wieder los und während ich so rannte, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß ich auf meiner Flucht anscheinend meinen Überlebensinstinkt und meinen gesunden Lemmingverstand verloren hatte: Ich hatte kehrt gemacht und rannte zurück. Meine Güte, ich glaube, ich schrie sogar!

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