Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Vorsichtig lugten die ersten Strahlen über den Gebirgskamm, zerrten die Sonne mit sich, die als verschwommene rote Scheibe durch den Nebel schien. Wind und Wärme schlossen eine Allianz, welcher der graue Schleier über der Klippe nicht standzuhalten vermochte. Ein erster, klarer Tag, am Ende eines langen Winters, und Lemming balancierte ausgelassen am Abgrund entlang. Er lehnte sich weit hinaus, und nur der Wind zerrte an seinem Fell, als wolle er Lemming vor dem tödlichen Sturz in die Tiefe bewahren. Er zog die Schultern nach vorn, legte die Vorderpfoten an, formte mit seinem Körper eine Höhlung, in die der Wind fuhr und ihn aus der Schwebe nach hinten warf. Lemming landete mit seinem Hintern auf dem Moos, lachte wie ein ausgelassener Lemming, streckte wohlig alle Viere von sich, als eine Bö seinen Bauch streichelte. Er sprach wieder: >Was? Habt ihr etwas geglaubt, nur weil ich ein Individuum bin und mein Leben nach totem Lemming stinkt, dass ich deshalb so humorlos wie ein Polarfuchs bin? Oder habt ihr etwas Angst gehabt, ich könnte springen?
Hm, vielleicht liegt tief unter dieser verfluchten Individualität doch noch etwas von einem vernünftigen Lemming, der einen prima Sturz von einer Klippe durchaus zu schätzen weiß. Seht doch nur, wie tief es hinab geht! Ein Sprung, so endgültig wie der Tod. Der Körper, zerschmettert von den Felsen, endlich hinabgezogen von den Wellen, doch in dem kürzesten aller Augenblicke, da man in die tosende Gischt eintaucht, wird man Teil des ewigen Wütens, des immerwährenden Sturmes der Wogen, der Unverrückbarkeit des Felsens, der einen zerbricht. Vielleicht wussten die anderen um diese Ewigkeit, die ich als Individuum nur erahne. Sicher ist, sie waren im Tode glücklicher, als ich im Leben, denn in mir brandet der Hass, so ewig, wie die Wellen, doch was einst Lemming, was einst Gutes in mir gewesen, ist nicht aus Fels, sondern aus Sand, verdammt bei jedem Ansturm mehr und mehr zusammenzustürzen. Und höre ich in mich, so höre ich die Ewigkeit nicht mehr, denn die Wogen haben alles in die Tiefe gerissen, haben keinen mehr, an dem sie sich brechen könnten, und der Hass liegt still und friedlich über meiner Seele, wie das weite Meer. Ich glaube, es ist falsch, sich umzubringen. Verfluchte Erkenntnis meiner Individualität. Ich darf es nicht tun. Nun, jedenfalls nicht, ohne noch jemanden mitzunehmen...

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