Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Die Schnee-Eule flog über mich hinweg, ohne Notiz von mir zu nehmen. Regungslos, niedergeschmettert und besudelt wie ich war, hielt sie mich wohl für ein lebloses Stück Scheiße. Leblos war ich nicht, denn kaum dass sie mordrufend an mir vorbei geschossen, sprang ich auf, rannte los, der traurigen Bestätigung meiner Furcht entgegen. Ich brauchte drei Tage nach Hause, genug Zeit für den kleinen Stein, den ich losgetreten hatte, sich in eine Lawine zu verwandeln, die alle, Lemminge und Schnee-Eulen, mit sich riss. Ich ertrank in meinem Hass, der sich endlich gegen mich wandte, ich erging in Selbstvorwürfen, die, so zerschmetternd sie auch waren, doch nichts gegen das anklagende Massaker waren, das mich erwartete.
Es ist recht schwer, die Konsequenzen einer Tat abzusehen, wenn man mit Mordgier in den Augen an der Kehle einer jungen Eule würgt. Mit den grausamen Folgen konfrontiert, ist es leicht zu sagen: Mein Gott, das hätte ich mir ja auch an zwei Pfoten abzählen können. Jetzt ließen sich nur noch die Opfer zählen. Eine Schnee-Eule fliegt, schlägt Beute, frisst, trägt die Beute zu ihren Jungen, füttert sie, fliegt, tötet, füttert, bis die jungen Mörder flügge werden, die behagliche Nestwärme verlassen, um in einer traurigen Welt den Lemmingen nachzustellen. Vielleicht war meine Rache weit über ihr eigentliches Ziel, den blutigen Mord, hinaus geschossen, vielleicht war sie vollkommener, als ich es zu hoffen gewagt, denn so wie einst die Schnee-Eule den Hass in mir säte, so pflanzte auch ich den Keim des Hasses in ihr, der sie zwang, die Bahnen ihres Weges zu verlassen. Sie brauchte nicht mehr die Jungen zu füttern, weite Strecken zu fliegen, auszuruhen. Die neu erworbene Freizeit nutzte sie, um jeden Lemming, den sie sah, zu töten. Sie fraß sie nicht, denn so viele Lemminge hätte sie kaum vertragen. Nein, sie stürzte auf sie hinab, zerfetzte, zerriss sie, ließ sie liegen, um weiter zu töten. Überall lagen sie, die verstümmelten Kadaver, Dutzende, die ich sah, Hunderte, die irgendwo vor sich hinmoderten. In ihren Augen las ich, dass sie wussten, wer ihren Mörder erschaffen hatte. Die Überlebenden versammelten sich, um mich zu vernichten.

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