Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Der Nebel war fort, die Sonne stand voll am Himmel und Lemming schlug heulend auf den Boden ein. > Schwanger war sie<, schrie er.> Auf Knien flehte ich sie an, nicht zu gehen, bei mir zu bleiben. Die Masse wich von mir fort, ungläubig, dass ein Lemming sich gegen sein Schicksal zu wehren bereit war. Oder erkannten sie nur meinen Wahn? Töricht schienst Du mir, oh mein geliebter Lemming. Ich habe dich gerettet, rief ich, lass uns abhauen, sollen die anderen doch verrecken, was interessiert es uns, ich liebe Dich, komm mit mir.<
Sie sah mich an, strich über mein Fell und fragte: >Ach, Lemming, warum kommst du denn nicht mit uns?<
Ach, tausendmal verfluchte Individualität. Nie ließest du zu, anderen zu folgen. Immer war dein Weg der Rechte. Ich konnte nicht und doch wünschte ich, ich hätte es getan. Ich ertrank in meinem Hass, verachtete sie, die Narren, die ihr Leben fortzuschleudern imstande waren. Ich hasste sie, als sie ihren kurzen Marsch antraten, ich hasste sie, weil sie mich zurück ließen, weil ich ihnen nicht zu folgen vermochte, weil ich Angst hatte, mit mir allein zu sein. Und ich hasste mich, als ich sah, wie ich den anderen nachlief.
Was für ein Anblick. Wie eine lange Schlange wand sich die Flut der Lemminge die Klippe hinauf und der Druck der Masse stieß die Vorderen in die Tiefe. Oh, ich Narr! Selbst in diesem Augenblick hätte ich noch gern geglaubt, in den Augen der Stürzenden Angst zu erblicken. Angst vor der Tiefe, Angst, dass ihre Entscheidung vielleicht doch nicht so klug gewesen sein könnte. Vielleicht hätten sie sich gewehrt, nur um von der Masse in einen Tod getrieben zu werden, den sie nicht länger wollten, den sie fürchteten. Ach, wie tragisch! Aber ebenso wenig wie Lemming mir ein letztes Mal zuwinkte, mir ihre Liebe zeigte, so wenig wankten die Lemminge in ihrem Entschluss. Kein Zweifel kam auf und ich war angewidert, als ich bemerkte, dass ich neidisch auf sie war. Ich wünschte, ich hätte Lemming sagen können, wie sehr ich sie wirklich zu lieben glaubte. Aber als ich in die Tiefe blickte, sah ich nur ihren toten Leib, blutig zerschmettert. Es dauerte nicht lange, bis die Wellen den letzten Leichnam mit sich in die Tiefe rissen. Ein Volk war im wahrsten Sinne des Wortes untergegangen.

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5378 Beiträge veröffentlicht!