Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Gott, ein Punkt auf den ich erst später eingehen werde, was hatte ich damals Angst. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen mit geringer Bewölkung. Wir wissen alle, was das bedeutet, aber mein Vater musste mich ja unbedingt an diese Klippe schleifen. Sie Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen auf das taunasse Gras. Mir schlotterten die Knie, aber mein Vater stand aufrecht am Rand der Klippe und deutete mit ausladender Geste hinab in die tosende Tiefe. >Junge<, sagte er, >eines Tages, wenn ich nicht mehr bin...< Ich protestierte artig. >... Nein, nein, Junge, der Tag wird kommen <, fuhr er fort und blickte wehmütig in die Brandung. >An diesem Tage wird dies alles...<, er zeigte auf die scharfkantigen Felsen, die bedrohlich einladend sichtbar wurden, wenn das Wasser sich zurückzog, um Kraft zu sammeln.
>...DIR gehören.< Den väterlichen Stolz seiner Stimme konnte selbst das ewige Tosen nicht unterdrücken. Und eben jener Tonfall war es, der mich meinen Blick vom Himmel auf meinen Vater lenken ließ. Seine Augen, wie erwartungsvoll sie blicken. Und was sie erwarteten, war die Bestätigung dessen, woran mein Leben nie einen Zweifel hat aufkommen lassen, daß ich ein guter Sohn, ein guter Lemming war. Er wollte Dank und erhielt nur ein Zögern. >Was soll ich mit ein paar blöden Felsen?<, dachte ich. Und hätte ich diese Worte laut gesprochen, so hätten sie meinen Vater nicht mehr schmerzen können, als mein Zögern. Ich las die Enttäuschung in seinen Augen, sah, dass er sich verraten fühlte, verraten von dem Lemming, den er am besten zu kennen glaubte. Ich schwöre, dass ich das nicht wollte und ich wünschte, ich hätte damals einfach „Danke“ gesagte. Aber ich erkannte mich selbst nicht.
Bis heute weiß ich nicht, ob das Entsetzen in den Augen meines Vaters mir galt, oder der Schnee-Eule, die auf ihn herabschoss.

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