Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

>Ob ich mir die Schuld an seinem Tod gebe?<, fragte Lemming. >Natürlich, verdammt noch mal. Was würdet ihr denn tun, wenn ihr in der einen Minute eurem Vater das Herz brecht und in der nächsten sein Blut in eurem Fell kleben habt?<
Lemming ließ seine Beine über den Rand der Klippe baumeln.
>Mutter nahm es gelassen. Wie denn auch nicht, ich meine, sie war ein kleines, wuscheliges Nagetier und die werden eben von Eulen gefressen. So ist das Leben.<
Er schnippte einen kleinen Stein über die Kante, sah zu, wie er im Nichts verschwand.
>Ob ich daran gedacht habe, mich umzubringen? Gründe dafür hätte ich eigentlich genug, ich meine, da entwickelt man erste Zeichen von Individualität und Vater stirbt! Meine Güte, wenn das kein Trauma ist, weiß ich auch nicht!<
Er beugte sich ein Stück weit vor, starrte in die Tiefe.
>Hätte ja von der Klippe springen können, hahaha. Herrgottnochmal, ich bin ein Lemming, aber was tat ich? Ich klammerte mich an ein Leben, das längst nicht mehr meines war.
Ach, scheiß Individualität.<

Es war ein üppiges Jahr, und kein Lemming musste hungern und nicht wenige teilten meines Vaters Schicksal, denn auch den Schnee-Eulen ging es gut. Irgendwann entdeckte ich, dass es bei weitem angenehmer war, ihnen die Schuld an Vaters Tod zu geben als mir selbst. Von all dem, was in mir wuchs, gedieh der Hass am besten, so gut, dass er den anderen Gefühlen das Licht nahm. Hass- und Schuldgefühle sind für einen Lemming, das darf ich wohl mit Fug und Recht behaupten, äußerst ungewöhnlich. Na, schön sind sie beide nicht. Aber ´mal ehrlich: Vor die Wahl gestellt, welche der beiden hätte ihr denn bitte gewählt? Na, dachte ich´s mir doch! Scheiß Schnee-Eule! Nie werde ich das Muster auf deinem Rücken vergessen, das mich lachend zurückließ, als Du meinen Vater stahlst!

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