Das Licht der Hajeps
von doska

 

Kapitel 2

Kapitel 2

Sie brauchte gar nicht viel zu überlegen, die Menschen trieben Margrit samt Tobias einfach dort hin. Hier war alles spärlich mit Petroleum-Lämpchen beleuchtet, an manchen Stellen sogar überhaupt nicht. Die Wände glänzten feucht. Abgeblätterter Putz zeigte die nackte Betonwand, herausgebrochene Teile ließen wiederum das Stahlgeflecht sehen. Spinnenweben hingen zuweilen tief von der Decke herab, wirkten so, als wären sie strähniges, staubiges Haar. Die Masse Mensch stampfte dumpf und dicht gedrängt die steinerne Treppe hinunter, um unter den Gleisen hindurch zum anderen Bahnsteig zu gelangen.
Tobias bekam vor Aufregung einen roten Kopf, als auch er mit seinen kurzen Beinchen die stillgelegte Rolltreppe neben den Stufen in Angriff nahm. Er hatte Angst daneben zu treten, denn er sah bei diesem Gedränge so gut wie nichts!
Margrit achtete auf ihn und versuchte dabei, hinüber auf den Bahnhof zu lugen. Gott sei Dank verbreiterte sich dort der Menschenstrom.
Unten angekommen war Tobias froh, endlich wieder ebene Erde unter den Füßen zu haben, doch Margrit nahm ihn trotz seines Protestes bei der Hand. Sie war in Sorge, dass er ihr verloren gehen könnte. Außerdem erschien es ihr so, als würde alles hinter ihr plötzlich wesentlich schneller werden.
Undeutlich wanderte dabei ein Schreckenswort bis zu ihr hinunter, hallte grausig wider in den düsteren Tunneln.
„Aliens!“ reimte sich Margrit aus dem Geschrei zusammen. Sie blieb stehen und ihr Herz begann heftiger zu pochen. Doch dann riss sie sich zusammen, jagte durch den Tunnel, den verdutzten Tobias dabei mit sich zerrend. Sie schob, quetschte sich genau wie alle anderen hinter ihr, bis es wieder eine weitere Treppe hinauf und ans Tageslicht ging.
Dort atmete sie erst einmal tief durch. Doch auch hier war es wieder sehr voll. Hälse wurden gereckt, Köpfe schauten sich um. Tageslicht blendete Margrit. Wo war Paul, wo Julchen? Hatte Paul Muttsch bereits gefunden? Oder irrte die genau wie Margrit hier umher? Würde heute Margrits schreckliche Vermutung, dass sie gar nicht mehr lebte, zur Gewissheit werden?
Plötzlich tönte wieder dieser Schrei. Das gleiche Wort? Es kam jetzt Gott sei Dank von unten, ließ einem aber trotzdem das Blut in den Adern gefrieren.
Die Menge hatte dabei einen regelrechten Hopser nach vorn gemacht. Irgendjemand stürzte dabei zu Boden, rappelte sich jedoch wieder hoch und fluchte laut und schmerzerfüllt.
Was konnte unten passiert sein? Würde das “Schreckliche“, was es auch immer war, bald ans Tageslicht und zu ihnen gelangt sein? Ach, es gab heutzutage nicht wenig Leute, die durchdrehten, sobald es nur enger wurde, die herumphantasierten und ihre Ängste plötzlich hinaus schrieen. Und wenn dort doch Aliens waren? Warum dann aber mitten unter den Menschen? Es gab doch einfachere und weniger gefährlichere Möglichkeiten für Hajeps zu töten? Vielleicht hatten sie ja auch wieder einmal eine täuschend echte Holografie verwendet – nur um so ein bisschen Panik auszulösen, damit alles einander niedertrampelte, erdrückte, zerquetschte? Oder die Menge war, was ebenfalls sehr häufig vorkam, auf einen Menschen aufmerksam geworden, der inwendig zum Roboter umfunktioniert, in wenigen Minuten seine Aufgabe als Bombe oder ähnlich Schrecklichem erfüllen sollte ?
Das Bienengesumm hatte sich inzwischen in hysterisches Gebrüll verwandelt.
„Nur ruhig, Tobias ... ganz ruhig!“ schrie Margrit gegen den Lärm an, nicht nur um das Kind, sondern insgeheim auch sich selbst ein kleines bisschen zu beruhigen und sie hielt dabei das Fliegengewicht weiterhin beim dünnen Ärmchen so fest gepackt, wie den Koffer in der anderen Faust.
Der Druck von hinten war nun so stark geworden, dass er auch Margrit fast zu Boden riss, und zwar in dem Moment als sie sich auf die Zehen stellte, um wieder mal nach einem Taschentuch Ausschau zu halten. Da blinkte tatsächlich eines etwa vierzig Meter vor ihr in diesem brodelnden Hexenkessel auf, tauchte jedoch sofort wieder unter, was nicht verwunderlich war.
Margrit ahnte, sie musste sämtliche Passanten überholen, um bis nach vorn zu gelangen ... aber wie kam sie aus diesem irrsinnigen Strudel heraus? Vielleicht war das Taschentuch ja auch nur eine Einbildung gewesen? Sie verengte die Lider und blinzelte abermals durch ihre schmutzige Brille, und da ... endlich ... kam es tatsächlich wieder zum Vorschein, schwankte zwar arg und verschwand erneut, kämpfte sich jedoch tapfer wieder hoch und dieser Vorgang wiederholte sich in ziemlich kurzen Abständen.
Das war bei diesem Gewühl eine großartige Leistung und erforderte gewiss viel Kraft. Margrit straffte die mageren Schultern, sie wollte endlich so stark sein, wie der Mensch dort vorne – aber war es auch wirklich einer ? Wenn es nun dieser Außerirdische war, der sie nur anlocken, aus dieser Menge hinaus haben wollte, was dann ? Unsinn, warum sollte er es gerade auf sie und Tobias abgesehen haben ? Tatsächlich gelang es ihr, sich mitsamt dem schluchzenden Tobias, weil dem schier der Arm dabei abzureißen drohte, und dem zerbeulten Koffer vorbeizuquetschen.
Endlich erkannte Margrit - wenn auch nur undeutlich – Pauls gestreiften Ärmel .
„Ich komme!“ brüllte sie mit aller Macht, an den vielen verfilzten Haarschöpfen vorbei, obwohl sie wusste, dass ihr das bei diesem Spektakel gar nichts nutzen würde.
„Wir sind gerettet!“ schrie sie ebenso laut zu Tobias hinunter, der natürlich kein einziges Wort von ihr verstand.
Schließlich blieb sie in einem günstigen Moment wieder stehen, ließ sein Ärmchen los und drückte den Jungen, der die ganze Zeit seine beiden Lungenflügel ausgiebig trainiert hatte, tröstend an ihre Hüfte.
Glücklicherweise sah Margrit das Taschentuch als hoffnungsvollen Orientierungspunkt an gleicher Stelle wieder.
"Keine Angst, Tobi!“ schrie sie deshalb wieder aus Leibeskräften. ”Gleich ist alles vorbei, denn wir haben Paul gefunden. Ich habe Julchens Haarzipfel gesehen, er muss sie auf dem Arm haben ...aber wo ist Muttsch ?“
Dummerweise schob die Menschenmenge Tobias und Margrit überall hin, nur nicht nach dort, wo die beiden wirklich sein wollten! Wie Tobias “Blaui“ in einem reißenden Fluss, kamen sie sich vor.
Da lockerte sich mit einem Male die ungeheure Enge - wusste der Himmel warum - jemand packte Margrit an der Schulter, so grob, dass es richtig weh tat und riss sie zurück.
„Das Alien!” schoss es ihr durchs Gehirn. Margrits Kopf fuhr herum und Entsetzen ließ dabei sämtliches Blut aus ihrem Gesicht weichen. Sie starrte in diese Augen .... samtig braun waren sie und blitzten sie selig an.
“Ach du bist es nur !“ keuchte sie erleichtert.
„ Was heißt hier nur ? Wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt ? “ knurrte Paul.“ Beinahe wäret ihr auch noch an mir vorbei ! Habt ihr mich nicht gesehen ?“
Margrit nickte. „Oh, Gott, hab` ich mich erschreckt, davon muss ich mich erst einmal erholen ! “ keuchte sie und lehnte ihre heiße Stirn an seine Brust. Julchen die Paul immer noch auf dem Arm hielt streichelte ihr deshalb tröstend übers Haar.“ Arme Mama !“ wisperte die Kleine.
„ Du hast dich erschreckt ?“ empörte sich Paul. „ He, ich hatte Freude erwartet, dass du mich endlich wieder hast. Margrit jetzt enttäuschst du mich aber...“
“Ach, komm Paul, sicher hast du diese Schreie auch gehört ...na egal !“
„ Das ist nicht egal ! Sag bloß du hast mich verdächtigt solch ein komisches Alien zu sein ...!“
„ Das ist doch jetzt Wurst ! Wo ist Muttsch ? Sie ist nicht gekommen, richtig ?“
„ Richtig ! Also, das ärgert mich jetzt doch... das mit dem Alien, pah !“
„ Ärgere dich nur weiter, aber halte mich fest. denn ich muss erst mal verkraften, dass wir Muttsch nun doch nicht gefunden haben....!“
„ Scheiße, die arme Oma !“ heulte Tobias.“ ...und der arme Munk ?“
„ He, der bunte Schirm hinter deinem Rücken. Paul ? Der kommt mir aber bekannt vor ?“ keuchte Margrit verdutzt. Paul grinste.
Nun schlich sie um ihn herum und Tobias folgte ihr„.Muttsch ? “
„Oma ?“ kreischte Tobias begeistert, Paul lachte in sich hinein und Julchen quietschte vor Vergnügen.
„Margrit, Tobias ! “ krächzte die alte Dame von Tränen halb erstickt. Als erstes plumpste ihr natürlich Tobias in die ausgebreiteten Arme. Beide kreischten so laut, dass es sogar den allgemeinen Lärm übertönte. “ Ist es nicht herrlich in solch einer wirren Welt sich trotzdem wiederzusehen ?“ meinte Muttsch schließlich und musste sich dabei auf ihren Schirm stützen, denn ihr war ein bisschen schwindelig.
„ Da hast du recht !“ schniefte Margrit und konnte nachdem Tobias seine Oma losgelassen hatte, ihre Mutter ebenfalls an ihr Herz drücken.
Paul gemahnte: “Vorsicht, vorsicht, deine Mutter könnte ja in dieser langen Zeit in Wahrheit längst ein Alien geworden sein !“ Sie starrte ihn entgeistert an und er lachte prustend los.
„ Also, wirklich, Paul !“ schimpfte sie ,“ das finde ich gar nicht witzig !“
„ Ich schon !“ quietschte er.
Sie nahm ihre Mutter in die Arme „ Ich bin unendlich glücklich, dass du es geschafft hast zu überleben, Muttsch ...und Paul ist ein Schuft, jawoll ! “ Sie warf ihm, der sich die Lachtränen mit seiner breiten Hand wegwischte, dabei einen strafenden Blick zu . „ ....mich dermaßen anzuschmieren, und meine Mutter vor mir zu verstecken pfui !“
„ Aber so war es doch eine richtig geglückte Überraschung, das musst du schon zugeben ,Margrit. Außerdem habe ich nicht gelogen ! Du hast mich gefragt, ob deine Mutter gekommen ist, aber sie war schon einige Stunden vor uns da !“
„ Hä, hä, hä !“ sagte sie.
„ Außerdem, Margrit, wer hat schon immer gesagt, dass eure Muttsch noch am Leben sein wird, wer?“ Paul klopfte sich stolz an die Brust.
„ Der Paul natürlich !“ riefen die Kinder im Chor.
„ He, die mögen mich ja plötzlich ?“ murmelte Paul verdutzt.
Aber Margrit hörte ihm nicht mehr zu. Beide Frauen mussten einander wenigstens in kurzen Worten schildern, was sie so alles in diesen vierzehn Tagen ohne einander durchgemacht hatten.
Tobias hatte indes die Zeit genutzt sich endlich Munk, Omas meist verdrießlichem Kater, zuzuwenden, den sie immer in einem kleinen, fest verriegelten Körbchen unvernünftiger weise mit sich zu schleppen pflegte.
Nachdem Munk Tobias zur Begrüßung durch die Gitterstäbe hindurch tüchtig gekratzt hatte, was eigentlich nicht ungewöhnlich für diese Katze war, drängte Paul seine Familie zur Eile, denn der Zug sollte gleich kommen.
Man quetschte sich wieder an den vielen zerlumpten Leibern, die beladen waren mit Rucksäcken, Kisten, Koffern, zusammengerollten Zelten und Decken mit größter Kraftanstrengung vorbei. Paul lief vorne weg, um notfalls den Weg frei kämpfen zu können. Muttchen tappte hinter ihm drein, meist ein wenig schwankend, in ihren dick besohlten Herrenschuhen, erst danach kamen die Kinder.
Es kam vor, dass selbst Paul einfach nicht mehr gegen diesen stinkenden Brei von Mensch ankam, ja von diesem regelrecht zurück auf Muttsch und die Kinder gedrückt wurde. Das waren dann Momente, in denen er nicht nur seine durchdringende Stimme als "Waffe“ einsetzte, sondern auch den Koffer, sofern er diesen hochbekam und nach allen Seiten mit bedrohlicher Miene schwenken konnte.

So war es direkt ein kleines Wunder, dass die Familie schließlich den richtigen Zug nicht nur erreichte, sondern auch darin alle zusammen Platz hatten!
Zwar fanden Tobias, Julchen, Paul und Margrit keine Sitzgelegenheiten mehr, doch hatte man für Muttchen auf der gegenüberliegenden Seite ein recht schmales, immerhin sicheres Plätzchen am Fenster ausfindig machen können.
Nun stellte sie das Körbchen mit dem Kater neben sich und den Schirm dahinter. Munk lief drinnen in kleinen Schritten im Kreis und so hatte Muttchen mit ihm erbarmen, nahm ihn einfach aus dem Korb und setzte ihn sich auf den Schoß.
Muttchen wirkte sehr erschöpft und nachdem sich Paul eine Zeit lang über ihre Unvernunft, da der Kater so viel leichter verloren gehen könne, ausgelassen hatte, wandte er sich mit strafendem Blick an Margrit.
„Du hättest deine Mutter verschonen sollen, in dem du eben gleich uns allen diese lange Flucht erspart hättest, meine liebe Margrit. Im übrigen ist es bei den heutigen Zeiten nie gut, sein Wohngebiet zu verlassen. Wissen wir, was es mit dem neuen auf sich haben wird? Aber du musstest ja gleich Berlin verlassen, und bis hierher. Nur weil du irgendetwas über Hajeps gehört hattest! Und was wird nun? Womöglich fahren wir geradezu zu ihnen hin.”
„Ohne Schei...äh.ich meine ..ganz in echt?“ krächzte Tobias. Er wischte sich mit dem Handrücken erfolglos über die Nase.
„Ich will auch nich zu denen hin, nee!“ nuschelte Julchen undeutlich, da sie wieder den Ärmel zwischen den Zähnen hatte. ”Weil, ich mag keine Spinnen!”
„Riesengroße Spinnen!” verbesserte sie Tobias und zog dabei den Schnodder in seiner Nase hoch.
„Tobias!“
„ Riesengroße Spinnen!” echote Julchen artig und noch etwas blasser im Gesicht geworden.
„Riesengroße Kreuzspinnen!“ korrigierte sie Tobias abermals.
„Riesengroße Kreuz .... wo ist hier das Klo, Mamms?”
„Mein Gott, Kinder!“ ächzte Paul. “Bin wohl ein richtiges Seelentrampel! So meinte ich das natürlich nicht! War nur blind daher geredet, o.k.?“
Julchen schaute ihm prüfend ins Gesicht.
“Aber du bist doch gar nicht blind!“ stellte sie fest.
„Tja“, begann Paul vorsichtig, denn er spürte, wie Margrit ihn beobachtete, “also ...hm ... sieh mal ... das ist so ...“
Weiter kam er nicht, denn sofort wurde er von einer alten Frau in einem abgewetzten Persianermantel unterbrochen.
“Du hast völlig recht, meine Süße", begann die einfach und tätschelte der Kleinen über das verfilzte Blondhaar, „man muss schon blind sein, um nicht zu erfassen, was sich überall tut. Keinem von uns wird es gelingen, den Hajeps zu entkommen!“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. “So ist es leider! Wir leben eben in ´Runa´, der Endzeit! Eines Tages musste es ja passieren, denn wie oft haben die Menschen schon Gott versucht .... Jahrhunderte lang! Die Hajeps, sie sind die apokalyptischen Heere, von denen geschrieben steht. Denkt an die Weissagungen unserer berühmten Seher, die vom Ende der Welt berichteten. Und es hat sich bereits vieles ereignet von dem, was sie einst vorhergesehen haben. Pasua wird dazu auf die Erde kommen.”
„Iiiih! Die, die Kreuzspinne wird kommen!“ krächzte Julchen.
”Und noch mit all` ihren Spinnenfreunden!“ setzte Tobias hinzu.
„Stümmt! Aber bestümmt sind sie trotzdem ekelig!“ keuchte Julchen. “Auch wenn sie nett miteinander befreundet sind!“
„Ach, wisst ihr, was die Frau da erzählt, stimmt ja alles gar nicht!“ raunte Paul den Kindern zu, einen dankbaren Blick dabei von Margrit erhaschend. “Nichts wird kommen, denn seit rund zehn Jahren regiert nur ´Scolo´ diese Welt.”
„Aber ´Scolo´ wird von ´Pasua´ gelenkt!“ beharrte die Alte, die sehr gute Ohren zu haben schien. “Wir Menschen müssen nun durch eine neue Hölle hindurch. Die meisten werden dabei grausam sterben, denn jeder von uns hat ja irgendwie Dreck am Stecken!“
„Ich nich!“ schimpfte Julchen tapfer. “I...ich hab` nich` Dreck irgendwie stecken, denn ich wasch` mich sogar manchmal, stümms?“
Tobias nickte nur stumm hinter seiner Mama hervor, hinter der er sich geflüchtet hatte, denn die Alte erschien ihm mächtig unheimlich.
„Auch Kinder sind nicht ohne Sünde!“ drohte die trotzdem weiter. “Wie oft habt ihr zum Beispiel euren Vater oder eure Mutter geärgert, da möchte ich nicht ... na, wie heißen doch diese kleinen frechen Tierchen ...? ”
„Mäuse?“ krächzte Julchen stirnrunzelnd.
„Ja, richtig, die meine ich! Da möchte ich nicht Mäuschen sein!"
Margrit errötete und Paul grinste nun doch hämisch zu Margrit herüber. Aber nur so ein bisschen, dann war er sofort wieder ernst!
„Das jüngste Gericht muss also tagen“, fuhr die Alte einfach fort. “Ob ihr`s glaubt oder nicht, ´Pasua´ wird wirklich auf dieser Erde landen und zwar mitten in Deutschland, weil es dort nämlich am Schlimmsten gewesen ist. Vielleicht werden dabei nur wenige - die Auserwählten ...“, ihre Augen funkelten stolz, “... am Leben bleiben!“
„So ein Blödsinn, woher haben sie denn das?“ entfuhr es Margrit ungläubig.
„Also, wenn sie darüber nicht Bescheid wissen, wäre es wohl das Beste, ich würde sie aufklären ...!“ mischte sich plötzlich eine dunkle Männerstimme selbstbewusst ein. Diese kam von der gegenüber liegenden Seite her.
Alles stutzte und sogar die Alte schwieg.
„He, das bist ja du -hu? Und schon wieder im selben Zug!“ stammelte Julchen verdutzt.
„Du meine Schei ... äh ... stümmt !“ bestätigte auch Tobias und saugte an seiner Unterlippe.
Jetzt erkannten auch Paul und Margrit die muskelbepackte Gestalt hinter all den anderen Passagieren wieder, und die war eigentlich wegen der enormen Größe gar nicht zu übersehen.
„Wie ... wie hast du das nur geschafft?“ stotterte die Kleine weiter.
„Aber Julchen, du hörst dich ja gar nicht begeistert an. Willst du mich denn nicht hier haben?“ fragte der junge Kerl etwas gekränkt zurück.
„Do- och!“ erwiderte das Mädchen verlegen und hob die schmächtige Schulter hoch, bis zum dreckigen Kinn.
Tobias kramte stumm wieder mal seinen ´Blaui´ hervor, um den notfalls dem Kerl an den Kopf zu werfen.
Paul sagte ebenfalls nichts und starrte den Hünen nur missmutig an, einesteils aus dem Grunde, weil er eine höchst persönliche Abneigung gegen den hatte, anderenteils, weil er erst jetzt entdeckt hatte, dass der Bursche im Gegensatz zu den übrigen Menschen geradezu beklemmend sauber und gepflegt aussah. Außerdem wirkte er weder unterernährt, geschweige denn unausgeschlafen. Ja, er schien sogar genügend Zeit zu haben, mit irgendwelchem Muskeltraining den Tag zu vertrödeln.
Paul bemerkte außerdem, dass Muttchen von ihrem Platze aus offensichtlich die gleichen Beobachtungen gemacht hatte, denn sie musterte den großen Kerl, der direkt neben ihr stand, gründlich. Sie drückte den Kater, der sich gerade die Pfoten lecken wollte, sicherheitshalber an ihre Brust.
Der Bursche schien von alledem nichts zu bemerken. Er grinste nur Julchen ziemlich breit an.
“Na, dann ist ja gut, meine Süße! Ich dachte schon, du magst mich nicht!“
„Oh, ich mag dich ...“, erwiderte Julchen atemlos, “... so ein ganz kleines bisschen!“ Sie zeigte ihm dabei mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Spalt.
Der Bursche nickte zufrieden.
“Dann will ich dir verraten, dass ich bei diesem ´wahnsinnigen Zufall´ etwas nachgeholfen habe! Er blinzelte Julchen pitzbübisch zu. “Bin euch nämlich die ganze Zeit gefolgt!“
„Und warum haben wir dich die ganze Zeit nich hinter uns gese – hän?!“ hakte Julchen ziemlich gedehnt nach.
Die grünen Augen blitzten. „Ihr ward sehr beschäftigt und auch ein so großer Mensch wie ich kann sich in einer solchen Menschenmenge unauffällig bewegen ohne euch aus den Augen zu verlieren.“
Julchen blinzelte ein paar Mal nachdenklich, nickte dann aber verstehend und es wurde so still in diesem Abteil, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.
Das war die Gelegenheit für Margrit, den augenscheinlichen Hajep-Forscher endlich ungestört über das auszufragen, was ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge lag: “Sie glauben doch sicher nicht solcherlei Ammenmärchen über ein ´Pasua´. Ich meine sowas vom jüngsten Gericht oder Ähnlichem.“ Und sie wies dabei mit dem Kinn nach der Alten.
Margrit war kaum überrascht, dass die Frau, noch ehe sich der Hüne verständlich machen konnte, bei diesem ´Stichwort´ wütend einhakte.
„Ammenmärchen?“ kreischte die. “Ich habe doch gesagt, dass sich sämtliche Prophezeiungen längst bewahrheitet haben!”
„Ach nein, und von wem sollen denn diese niedlichen Prophezeiungen hergekommen sein?“
„Die sind nicht niedlich! Viele Seher haben das prophezeit. Der bekannteste davon ist wohl ...na ... wie heißt der doch gleich?“ Die Alte kratzte sich in ihrem fettigen Haar. “Es war was französisches!“
„Hach, ich liebe es auch manchmal französisch!“ rief plötzlich irgend jemand von den Fahrgästen.
Alles lachte los.
“Hach, lacht nur ... lacht!“ krächzte das Weib. “Aber das Lachen wird euch noch im Halse stecken bleiben. Hm, ja, ich glaube es war Nostradamus. Hat der nicht gesagt, dass erst nach den vielen Naturkatastrophen der große Schreckenskönig kommen wird?“ Sie rieb sich nachdenklich die niedrige Stirn.
„Schreckenskönig?“ grinste Margrit ungläubig, nachdem es endlich wieder etwas ruhiger geworden war.
„Aber, ja, der Wiedererweckte! Der große König von Agoulmois!“
„Ja, und? Hier herrscht nicht Agul -na - dings!“
„Aber das System von Agoulmois ist eben ´Pasua´! Es wird regieren zur guten
Zeit! Seht her, es wird alles wahr werden.“
Wie eine Hexe hob die Alte nun ihre mageren Arme, deren Handgelenke aus den fast kahlen Ärmelenden des Persianermantels ragten, wie zwei bleiche Äste.
Alles schwieg beklommen, nur der Kater auf Muttchens Schoß fing deshalb begeistert zu schnurren an.
„Was gibt es da zu schnurren?“ grollte das Weib und sie zog den Persianer enger um ihre magere Brust.
Unser Hüne musste darüber schon wieder losprusten, mühte sich aber seinen Lachkrampf ein wenig einzudämmen.
“Es ist nur so lustig ....“, quietschte er hervor, „was aber auch alles in die Hajeps, seit sie unsere Erde besetzten, hineininterpretiert wird! Mal sind es Schlangenmenschen, Insektenwesen, Schleimwesen oder sogar Roboter ohne Herz und Seele.“
„Oder Spinnen!“ krächzte Tobias dazwischen.
„Urg, ich mag keine Spinnen,“ keuchte Julchen.
„ Äh,... hm, dabei glaube ich, das die Hajeps den Menschen sogar ähnlich sind,“ stellte der Bursche einfach in den Raum. “ Denn sie brauchen Nahrung. Sie haben riesige Gewächshäuser. Brauchen Wesen aus Blech Pflanzen ? Ich sage ...Nein !“
Alles stutzte und dann wurde es so lebhaft, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte, denn jeder hatte plötzlich mit jedem seine Beobachtungen über Hajeps auszutauschen. Draußen hinter dem Fenster zog indes ein nicht gerade anheimelndes Bild vorbei. Es waren die kahlen, düsteren Wände des Tunnelgewölbes die dort unfreundlich und laut vorbeiratterten.
Die Passagiere waren so miteinander beschäftigt, dass keiner bemerken konnte, wie es plötzlich vom Verdeck des kleinen Abteils her polternd hinunterdröhnte, ja, dass es sogar ein wenig zu beben begann und dass das Licht in diesem kurzen Moment ausgeblinkt war.
Da der Kater wegen dem dämmrigen Licht ganz vorzüglich sehen konnten, hatte er hinter der Scheibe so etwas wie einen grünen, vom Verdeck abgerutschten Fuß entdecken können.
Munk blinzelte jetzt genauer dort hin. War das nun bloß so ein dämlicher Fuß oder gar ein verirrtes Flatter-piepsbällchen?
Munk hatte Hunger und so schien wohl eher der Wunsch Vater des Gedankens zu sein, dass er sich für die letzte, ausgesprochen leckere Möglichkeit entschied.
Er blieb zwar sitzen, Katzen können das trotz höchster Aufregung, doch der Schwanz peitschte arbeitsam hin und her. Sollte er nun gegen die Scheibe springen und somit Frauchen auf die Beute aufmerksam machen oder nicht ? Aber das Schicksal hatte ihm die Entscheidung abgenommen, weil das zappelnde „Etwas“ sofort wieder verschwunden war.
Oben polterte es noch unangenehmer. Munks spitze Ohren zuckten verdrießlich.
Aha, es schienen also mehrere wohl recht große Geschöpfe zu sein! Sie waren vermutlich vorhin unbeholfen auf das Verdeck des Zuges gesprungen .... kein zartes Flatterbällchen also! Jammerschade! Er beleckte sich bei diesem trübsinnigen Gedanken das Barthaar, rollte sich dann aber wieder für ein Nickerchen zusammen.
Sein unbefellter Geschlechtsgenosse zweibeiniger Art hatte wohl nicht ganz die Natur, über einige Dinge des Lebens einfach hinwegzusehen, denn er konnte sich, obschon er die gleichen Beobachtungen gemacht hatte, danach überhaupt nicht mehr entspannen.
Er brach sogar in Schweiß aus, holte sich nach raschen und prüfenden Seitenblicken unauffällig ein kleines Papiertüchlein aus der Tasche seiner Jacke und betupfte sich mit bebenden Fingern die Stirn. Gott sei Dank, hatte niemand außer ihm und diesem alten Kater das grün behaarte, nackte Bein von dort oben hinabrutschen sehen. Für einen Moment hatte er wahnsinnige Angst gehabt, die grässliche Katze würde fauchend gegen die Scheibe springen und so alle Menschen auf das dramatische Geschehen, was eigentlich in aller Stille hätte vonstatten gehen sollen, aufmerksam machen.
Er krauste nun die schönen Brauen und verstaute das leicht nach seinem Lieblings-rasierwasser duftende Tuch wieder. Er atmete kaum und lauschte. Warum waren die da oben nur so laut ? Gab es etwa wieder Unstimmigkeiten ... oder was war geschehen? Den Sprung von den Stangen, die aus dem halb zerstörten Mauerwerk des Tunnels herausragten, auf das Verdeck dieses vorbeifahrenden Zuges, hatten ´Sie´ ja ganz gut bewältigt, doch was war nun?
Er zupfte nervös an dem blütenweißen Kragen seines Hemdes herum. Warum blieben sie nicht ruhig liegen, damit niemand sie hörte? Oder hatte gar ein Mensch - etwa vom Nachbarabteil - die polternden Geräusche gehört, war inzwischen ebenfalls hinaufgeklettert und kämpfte mit ihnen? Womöglich waren es sogar mehrere Menschen die ... er unterbrach sich, entsetzt über diesen Gedanken und schaute wieder zum Fenster. Am Ende verloren sie ´es´ sogar dabei? Würde er ´es´ etwa dort gleich hinabstürzen sehen? Vielleicht explodierte ´es´ dann? ´Es´ sollte gewaltiger als sämtliche einstigen Atomwaffen dieser Erde sein – welche “Scolo“ gleich bei der Ankunft vernichtet hatte. Womöglich aber ging “es ” auch nur irgendwie anders verloren? Allerdings wäre dann sein ganzes Lebenswerk ... der wahnsinnige jahrelange Einsatz umsonst gewesen!
Er hielt bei dieser Vorstellung den Atem an.
Wenig später erhellte wieder Tageslicht das kleine Abteil.
Jedoch sah der Himmel düster aus. Schwer hingen Wolken - wie riesige schmutzige Wattebäusche über den Wiesen und kleineren Wäldchen und die mageren Kühe der wenigen Bauern rupften - schlecht vor dem zu erwartenden Regen geschützt - das letzte saftige Gras ab, versuchten sich Speck anzufuttern für den kommenden Winter.
Die Passagiere schauten immer noch auf den Burschen. Die große breitschultrige Gestalt vor dem Fenster, welche fast die Jacke zu sprengen drohte, hob sich dagegen ab, wie ein mächtiger dunkler Schatten.
„Es ist jedenfalls nie gut, völlig auf zu geben ,“hörten ihn jetzt die Fahrgäste.
Er selbst war jetzt ziemlich erleichtert, weil es auf dem Dach des Zuges endlich still geworden war.“ Man sollte auf Auswege hoffen, so lange es irgend geht!“ Er lächelte der kleinen Familie etwas mühselig zu.
„Hm,“ knurrte Paul“... dennoch kann man sich nicht all zuviel vormachen!"
„Genau,“ rief eine ziemlich schrille Stimme plötzlich von hinten aus dem Wagen.
“Sie jungscher Schnösel, wollen uns doch bloß irgendwie einlullen, weiß der Himmel aus welchem Grund.” Die Passagiere machten Platz, damit man die Frau besser sehen konnte, denn sie war ziemlich klein. Sie trug das Haar eng am Kopfe und zu einem Knoten gebunden.
"Genau,“ mischte sich jetzt deren Zwillingsschwester ein, und die Menge rückte darum noch etwas mehr zur Seite. Die Dame fuhr sich, nicht weniger nervös, durch ihre schlecht gemachte Dauerwelle, durch welche sie einem Schaf nicht unähnlich sah.“...denn die Hajeps kämpfen ja kaum persönlich gegen uns ...“
Der Bursche nickte ganz ruhig, doch innerlich fragte er sich, worauf die beiden eigentlich hinauswollten.
“Hajeps hetzen neuerdings sogar wilde, unbekannte, Bestien auf uns!“
“Bestien?“ wiederholte er und schaute dabei möglichst erstaunt drein. Inwendig hingegen war er wieder völlig aufgewühlt. Konnten es “seine“ gewesen sein?
“Jawohl, Bestien!“ bestätigte nun auch deren Schwester mit rollenden Augen. “Denn, wir haben sie selbst gesehen..."
Wieder holte er tief Luft, um sich zu beruhigen. Hatten `sie` sich denn gar nicht nach den, von ihm angegebenen, Wegen gerichtet? Weshalb konnten `sie` sich wohl unter die Menschen gemischt haben?
“Wo?“ fragte er.
“Na, vorhin in Magdeburg,“ meldete sich wieder, die mit den Schafslocken, ” ... als wir die Treppen in den alten Bahntunnel hinabgestiegen sind...”
“Ach, dort!“ sagte er und hoffte immer noch, dass es nicht `seine` gewesen waren.
“Hat man da nicht die fürchterlichen Schreie gehört ...? ALIENS! ALIENS!” riefen jetzt beide Schwestern aus vollem Halse. Sie hielten keuchend inne. “Das waren WIR! Aber niemand hört ja auf einen heutzutage. Scheint alles unwichtig zu sein!“
„Nein, nein, so ist es nicht!“ versuchte er sie zu beruhigen. “Ich habe ihr Rufen durchaus gehört ...”
„Wir auch ...! meldete sich Margrit.
„Ich auch! Ich auch!“ tönte es jetzt von allen Seiten.
„Na, also ...“Der Bursche zwang sich, weiterhin seiner Stimme einen möglichst ruhigen Klang angedeihen zu lassen, doch er spürte wie seine Hände feucht wurden. “Und wie viele - äh, Untiere - waren es?“ fragte er.
„Na, so ...neun!“ sagte die mit den Schafslocken.
“Verdammt! Hatten `sie` sich etwa getrennt? Waren jetzt nicht alle auf diesen Zug gesprungen?“ Und ...äh ...wie sahen sie denn aus?“ erkundigte er sich einfach weiter.
Die beiden Schwestern schauten ihn verdutzt an. Merkten sie etwa, wie sehr er um Selbstbeherrschung bemüht war? `Sie` hatten doch versprochen keinen Bahnhof zu betreten und geschlossen eine Abkürzung zu nehmen, die er ganz genau kannte, um dann auf diesen Zug zu springen? ” Haben Sie denn tatsächlich, ich meine, einen Anlass für ihre Angst gehabt?“ hörte er sich weiterfragen.
„Unverschämtheit!“ empörten sich die beiden Damen, “Meinen Sie denn wir hätten uns das Ganze nur eingebildet?“
„Nein, das will ich damit nicht gesagt haben ...!”Er hob abwehrend beide Hände.
„Das sagen Sie aber!”
„Es könnten aber auch Holographien irgendwelcher ...na ...hm ... Kreaturen gewesen sein!” schlug er jetzt vor.
„Das waren sie auf gar keinen Fall! ”
Der Hüne war noch nachdenklicher geworden. Zwar mochte inzwischen einiges anders verlaufen sein, als gedacht, aber er hätte `sie` doch über Funk in eine andere Richtung verwiesen. Sein `Chesbulak` war allerdings bisweilen gestört gewesen. Hatten ihn nicht alle verstanden? Wer war nicht mitgekommen? Oder befand sich etwa sogar niemand von ihnen auf diesem Dach und er hatte sich die Geräusche nur eingebildet? Aber die Katze war doch vorhin auch unruhig geworden?
„Ich fand sie grässlich, so grausig, so ...“fuhr jetzt einfach eine der beiden Damen fort.“...wie die da oben an den Stahlträgern herumturnten...”
„T..turnten?“ ächzte er.
„Jawoll, turnten! Denn sie hatten überlange Arme...”
„ Ach, du meine Schei ... ”
„ Keine Angst Tobi!“ Julchen packte die zittrige Hand ihres großen Bruders. “DIR passiert nichts ... ja ... ja, du hast ja mich!“
„Und den Blaui!“setzte Tobias noch hinzu.”...den hab`ich auch noch!”
Fast das ganze Abteil schmunzelte.
„Das ist nicht witzig!“erklärte die Frau gekränkt, und die andere nickte bestätigend mit ihrem Schafskopf dazu. “Schließlich haben wir als Zeugen miterlebt, wie eine junge Dame, die berechtigterweise auf die Geschöpfe feuern wollte ... von solch einem Tier gebissen wurde, ja richtig angefallen wurde sie von diesem Biest...“
„Angefallen?“ wiederholte der Bursche entgeistert, dann schluckte er. Also war das Mädchen wohl doch einer dieser besagten `Pajonite` gewesen. “Scolo“ oder
“Chiu-natra“ hatten bereits “Lunte“ gerochen und waren hinter “ihnen ” her. Doch die hatten sich gegen diesen hochgefährlichen “Pajonit ” hoffentlich erfolgreich durchsetzen können? Und wenn nicht? Dann sah es ausgesprochen schlecht für ihn ...eigentlich ...für alle aus. Wenn die „Pajonite” nur einen von “ihnen“ lebend bekamen, würde der sie alle über “kurz oder lang” an “Scolo“ oder wen auch immer verraten, denn niemand konnte ihnen standhalten. Es war klar zu erkennen, dass zumindest “Chiu-natra ” inzwischen den Diebstahl des kostbarsten Gutes längst bemerkt hatte, denn sonst würde man sich nicht so viele Umstände machen und die paar entflohenen Sklaven dermaßen “dezent“ verfolgen lassen. “Scolo“ oder wer auch immer trug also inzwischen doch Sorge um ein Diebesgut, dem man früher eigentlich gar keine sonderliche Beachtung geschenkt hatte? Das war wirklich seltsam! Was konnte diesen spontanen Meinungswandel ausgelöst haben? War es womöglich “Pasua“ selbst, das plötzlich darauf wert legte? Würden die Kriegsflotten Pasuas doch schon bald hier sein? Wie es auch sein mochte, er durfte auf keinen Fall weiterhin über Funk mit „ihnen“ Kontakt halten, denn es war sehr anzunehmen, dass jetzt jemand mit dabei zuhörte. Er biss sich auf die Lippe, dann sagte er langsam und mit fester Stimme: “Ich glaube nicht, dass der Dame wirklich etwas passiert ist!“
„Aber sicher ist ihr etwas passiert!“ protestierte die Frau.
“Und es war noch ein so junges - solch ein hübsches - Mädchen!“ jammerte die andere dazwischen.
„Eine der Bestien sprang einfach, nachdem das Mädchen nach oben auf diese ekelhafte Horde mit “irgendetwas Komischem“ gezielt hatte - wir beide hatten diese Viecher erst gar nicht gesehen - von oben herab und verbiss sich direkt in deren Genick! ”
„Und ...?” fragte er.
„He, erschüttert Sie das denn gar nicht?“ riefen die Schwestern.
Leider hatte er gegrinst, versuchte aber sich schnellstens zusammenzureißen.
„Na, ich dachte ...!“Er brach lieber ab.
„Nichts ...dachten Sie!“ konterte die Frau mit dem Haarknoten erregt. “Sie sind völlig gefühlskalt!“
„Ja...fast wie ein Hajep?“ rief die andere mit den Schafslocken.
„Dieses Wesen ...“jammerte jetzt die Frau mit dem Knoten weiter.“ ... es ...“, sie musste schlucken,“ hat sich einfach auf die junge Passantin gestürzt, sie ...“die Dame verzog nun angeekelt und entsetzt das Gesicht“, sie einfach in den Hals gebissen, einfach so ...“Sie kniff ihrer Schwester, wohl um das bildlich darzustellen in den Nacken, “Sehen Sie und es hat dabei richtig geknirscht!“
Die Schwester war froh, dass es bei ihr nicht knirschte und Tobias hatte sicherheitshalber Julchen zu sich und hinter seine Mutter gezogen. Der Junge lugte nur mit einem Auge hinter Julchens rechter Schulter hervor und klammerte sich auf der anderen Seite an Pauls Schenkel fest. “Sch...Scheiße ...echte Scheiße ! W...war sie t...ot?“ keuchte er.
„Ja!“ riefen beide Schwestern, wie aus einem Munde.
Der Hüne atmete erleichtert aus und Tobias verschwand völlig hinter Julchen.
Mein Gott, durchfuhr es den Hünen indes. Wer von den beiden Gruppen hat nun das berühmte Diebesgut? Diese neun oder die anderen sieben?
“Ach, rief der alte Herr, der immer noch neben dem Burschen stand. “Ich hab`
sie auch gesehen. Es war eine ganze aufgebrachte Horde. Hajeps schicken sie uns, hetzen sie auf uns - als Plage - jawohl, als weitere Plage! Das ist wohl noch so ein raffinierter Schachzug uns zu vernichten."
„Und? Wie sehen sie denn genau aus?“ wandte sich Margrit an ihn.
Paul zupfte Margrit vorsichtig am Ärmel. “Was hast du denn davon, wenn du weißt wie sie ausschauen?“ wisperte er. “Davon wird unsere Situation doch nicht besser? Oder?“ Margrit schob sich ihre Brille zurecht. “Ich finde es halt besser, wenn ich vorbereitet bin, auf das, was auf uns zukommen könnte.“
„Ich ...ich weiß aber, wie sie aussehen!“ nuschelte Tobias undeutlich hinter Julchen hervor. Und ein zittriger Finger schob sich nach oben, so als ob er sich melden würde. “ Ganz Scheiße sehen sie aus. So echt Scheiße wie Spinnen immer ausschauen!“
„Stümmt“ ächzte Julchen und zog dabei einen Faden, diesmal aus dem Saum ihres Pullovers.” So wie Kreuzspinnen, Tobias und mit vielen Freunden ! Das hast du vergessen!“
„Stümmt“
„Es sind lediglich, den uralten, in unseren Museen ähnlich dargestellten Steinzeitwesen ...nur etwas klobiger!“ erklärte der junge Bursche möglichst ruhig, doch innerlich schlug ihm das Herz bis zum Halse. Hatten “sie“ sich retten können, nachdem sie den Pajonit kampfunfähig gemacht hatten? Oder waren weitere als Menschen getarnte Hajep - Roboter zur Hilfe gekommen?
„Ich ...äh ...habe solche Wesen vor...hm ... langer Zeit auch einmal gesehen!“ fügte er mit belegter Stimme hinzu.
„Aber sie sind schrecklich!“ stieß die kleine Frau mit dem Knoten immer noch entrüstet, ob dessen Ausgeglichenheit hervor. “Sie tragen zwar weite Umhänge mit Kapuze über ihre fast nackten Körper ....aber sie haben grünes Kraushaar auf dem Kopf und auf den Armen, gelbe vorstehende Zähne im Gesicht ...!“
„Ja, ja, ja, sie haben richtig scharfe Zähne!“ pflichtete deren Schwester eifrig bei,“...und sie sind tückisch und haben ganz kleine tiefliegende Augen, unter ihren wulstigen Stirnen ...die wie glühende Kohle im Dunkeln leuchten, sie haben klobige Pranken und sind riesig.“
Der Hüne sah jetzt gar nichts mehr hinter Julchen und sagte.” Naja, ob riesig oder nicht ist bei mir so eine Sache.” Mir reichen diese ...äh ...Bestien nur ... na, sagen wir mal .....“Er bewegte jetzt seine flache Hand waagerecht neben sich, um deren Größe den Kindern vor Augen zu führen.“... bis hier ...!“Margrit sah, dass er sich die Hand, bis nur knapp zu seiner Schulter, hielt. “Ha, und davor haben wir doch keine Angst, nicht wahr?“ Ein zitteriger Haarschopf kam zögernd hinter Julchens Schulter zum Vorschein und als sich schließlich ein
Auge zeigte, zwinkerte ihm der junge Hüne einfach zu. “Auch wenn sie ein bisschen grün sind, stimmt`s ? Denn, was macht das schon, das bisschen moosige Farbe, pah! Die haben nämlich in Wahrheit selbst Angst, wisst ihr!“
„Ohne Sch ...äh...in echt jetzt? Die ... die ... haben auch Schiß?“
„Das ist anzunehmen, Tobias!“ erklärte der Bursche und wusste in diesem Augenblick, wie recht er damit hatte. Er räusperte sich. Sollte er nun weitersprechen oder nicht? Schließlich sagte er fest: „Wahrscheinlich sind sie beim Bau einer der großflächigen `Zuanos`, wegen der unmöglichen Lebensbedingungen fortgelaufen. Es ..es ist wirklich fabelhaft, wie sie das geschafft haben, denn man spielt mit seinem Leben, wenn man das wagt. Und das Trowes Menschen anfallen ...“Er lachte möglichst vertrauenserweckend.“... ist ein Märchen ...!“
„Das ... das ist ja eine Unverschämtheit kreischte die kleine Frau mit den Schafslocken von hinten wütend aus der Menge. “Wollen sie etwa darauf anspielen, dass ich und meine Schwester gelogen hätten?“ Diese nickte empört.
„Die Steinzeitwesen sind gewiss auf der Flucht!“ erklärte er so freundlich wie zuvor, “Es sind Gowanus = besonders starke Sklaven für den Bau und werden sich kaum mit Beißereien aufhalten. Die Menschen sollten sich nicht unnötig bange machen lassen, sondern lieber überlegen, wie sie das Problem Hajep am besten anpacken könnten und dazu gehört zunächst einmal ...dass sie alles Fremdartige und Ungewöhnliche nicht unbedingt als etwas Feindliches ansehen sollten. Ganz im Gegenteil sollten sie ihre Panik unterdrücken, vielleicht sich eher mit diesen Untervölkern der Hajeps zusammentun, denn DIE kennen ihre Herren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit länger als wir!“
Da wurde es wieder laut im Abteil. Denn Meinungen mussten unbedingt darüber ausgetauscht werden. Viele berichteten, dass auch sie etwas über außerirdische Sklaven gehört hätten. Menschen wären bereits den unterschiedlichsten Wesen begegnet. Doch man war sich nicht im Klaren, ob die nun wirklich alle so harmlos waren, wie es ihnen wohl der junge Mann weiß machen wollte. Einige lästerten wieder hinter vorgehaltener Hand über den kecken Burschen und böse Blicke wanderten dabei wieder zu ihm. Doch Margrit schaute ihn nicht nur mit vor Begeisterung leuchtenden Augen an, sie verließ ihren Platz, obwohl sie Paul daran zu hindern suchte und schob sich bis zu ihm durch.
„Endlich ein Mensch der trotz aller Wirrnis die Ruhe bewahrt.“ stieß sie hervor. “Wie konnten Sie nur ein derartiges Wissen und Einfühlungsvermögen erlangen? Wer sind Sie wirklich?”
Obwohl es laut war, hatte er sie verstanden. Er lächelte, deutete eine Verbeugung an und nahm ihre Hand.
„Mein Name ist George de Mesà und es ist mein Hobby, Filme und Tonaufzeichnungen über die Lebensart und kriegerische Vorgehensweise “Pasuas und Scolos“ gegen die Menschen zu machen und letztere genau zu analysieren.“
„Hajeps sind scheu und gefährlich! Solch ein Wissen, wie Sie es haben, kann man nicht ganz alleine erlangen!“ konterte Margrit stirnrunzelnd. “Los, endlich heraus mit der Sprache, wer hilft ihnen, wer unterstützt Sie?“
Für einen Moment zögerte er.
“Mir hilft niemand!“ sagte er etwas leiser und aus dem Augenwinkel sah er, wie auch Paul seinen Platz verließ, scheinbar um zu diesem Muttchen hinüberzulaufen.
„Das nehme ich Ihnen aber nicht ab!“ meinte Margrit und schaute ihm fest ins Gesicht.
„Pech gehabt!“ knurrte er grinsend und wich ihrem Blick aus.
„Na schön, sprechen wir von etwas anderem, Sie sind Franzose? Ihr Name klingt irgendwie danach."
„Zur Hälfte ...!“erklärte er verschmitzt,“... und wer sind Sie?“ Er betrachtete sie nicht nur sehr interessiert, sondern behielt auch noch immer ihre Hand in der seinen. Er hatte schöne lange Finger und seine Hand war wunderbar warm und fest.
„Oooch, nichts besonderes. Ich heiße Margrit Schramm, war für sechseinhalb Jahre Schulpsychologin, Religionslehrerin und so weiter und jetzt bin ich nichts ... naja ... vielleicht Mutter!“ fügte sie hinzu.
„Mutter ist mehr als sie denken!“ erklärte er nachdenklich und nun sah er, wie sich auch Tobias durchs Gedränge schob. Wohl um zu seiner Mamms zu kommen. Ihm folgte dicht auf den Fersen Julchen. Wieder mal einen ihrer Ärmel im Munde habend.
„Wollen Sie später, wie sicher fast all die Menschen hier, nach Frankfurt?“ fragte der Hüne.
„Wir steigen in Hornberg aus, um dem Gedränge zu entgehen und machen uns am nächsten Tag mit dem Rad nach Coburg auf,” gab Margrit indes bereitwillig Auskunft, “von dort weiter nach Reichenberg bei Würzburg, wo wir für immer bleiben wollen.“
„Und wovon wollen sie leben?“ fragte der Bursche weiter und setzte sehr eilig selbst hinzu. “Sie werden sicher in einer der Fabriken, die dort erstaunlicherweise noch völlig intakt sind und die Würzburg und die anderen in der Nähe liegenden Ortschaften mit dem Notwendigsten beliefern, arbeiten, nicht wahr?"
„Nein!“ sagte Margrit ruhig und trat einen Schritt zurück, da sich Tobias bis zu ihnen durchgewühlt hatte und sich nun mit misstrauischem Blick auf George vor sie schob. Auch Julchen hatte sie nun erreicht und klammerte sich besitzergreifend an Margrits Arm.
„Nein?“ wiederholte der Bursche erstaunt. „Und mit welcher Arbeit werden Sie sich dann über Wasser halten?“
Er schien ziemlich hartnäckig zu sein.
Margrit sah in diese rätselhaften grünen Augen. “Ach, wir werden ...“ begann sie etwas zögerlich, wurde aber von Paul ziemlich hektisch von hinten am Hemd gezupft.
„Ich kann mich auch über Wasser halten!“ erklärte nun stattdessen Tobias. “Ich kann nämlich schwümmen ...oder ich bau` mir ein Floß und ...nein, besser ein Schiff, solch ein ganz großes oder ... ”
„Bist du verrückt geworden?“ zischelte Paul zu Margrit, während sich die dunkle Gestalt zu Tobias hinunterbeugte, um ihn bei all dem Gesprächslärm besser zu verstehen.„Willst du ihm über uns ALLES verraten? Mein Gott, du hast gewiss bereits viel zu viel erzählt!"
„Komm, Paul, erst andauernd blöde Witze über verwandelte Menschen machen und dann plötzlich selbst daran glauben. Das geht bei mir nicht durch !“ Margrit beobachtete aufmerksam , wie nett sich der junge Bursche nun mit den beiden Kindern unterhielt.
„ Muss es aber, Margrit, „ wisperte Paul trotzdem weiter. „ ...denn diesmal bin ich mir wirklich nicht so sicher ...!“
„ Also, Paul wirklich, das hätt` ich echt nicht von dir gedacht, dass ausgerechnet du so einen Quatsch ....“
„ Das ist vielleicht gar kein Quatsch, Margrit, Herr du meine Güte, begeistere dich doch nicht so !“ .
„ Ich begeistere mich für wen ich will, Paul !“
Der junge Bursche hingegen schaute weg, blickte wieder aus dem Fenster. Er tat dies weniger aus Verlegenheit oder gar Neid, sondern er beobachtete mit schmalen Augen recht konzentriert den Himmel. Würde dort bald ein Trestin oder gar Djetano wie aus dem Nichts erscheinen? Wer hatte den “Pajonit“ in den Tunnel geschickt? Man konnte systemtreue Hajeps oder Loteken, die der Rehanan - Bewegung angehörten ziemlich gut an ihren Emblemen erkennen. Er selbst würde darauf achten, obwohl es vielleicht keinen Sinn ergab, sobald nur eines ihrer höchst beweglichen Jäger aus den Wolken hervorzischte. Aber er musste sich in acht nehmen, denn sowohl “Chiu-natra“ Oberhaupt der Rebellen, als auch “Gisterupa“ Undasubo und damit Oberhaupt “Scolos“ waren sehr gut im Suchen und somit auch im Finden!
Paul warf einen gereizten Blick auf den Burschen, der plötzlich zusammenfuhr, nachdem er mit einem winziges Ding, das wie eine Brille aber auch wie ein Fernrohr aussah den gesamten Himmel nach irgend etwas abgesucht hatte. Der Kerl verstaute nun das komische Ding mit fahrigen Fingern und schob sich dann so brüsk durch die Menge Richtung Nachbarabteil dass sich einige der Passagiere nicht nur lautstark empörten, sondern auch ihre Fäuste nach ihm ausstreckten. Paul schob währenddessen ziemlich erleichtert seine Margrit nebst Kinder zurück auf ihr altes Plätzchen.
„Wir müssen in einer halben Stunde aussteigen,“ knurrte er, „Ich hoffe der komische Knabe kommt nicht wieder und verfolgt uns ... !
„ Ach, Paul“, Margrit schüttelte verärgert den Kopf, “ hör` doch endlich damit auf, ja ?“
„ Der kommt mir aber wirklich sehr eigenartig vor.“
„Mir auch ....“ meldete sich Muttchen, die das trotz ihrer schlechten Ohren gehört hatte.
„ Siehst du Muttsch, gibt mir recht ...!“
„ Paul, wie kannst du nur !“ fauchte Margrit. „ Nicht genug, dass du den Kindern damit Angst machst, jetzt ziehst du auch noch Muttsch mit hinein !“
„ Wo zieht er mich mit hinein ?“ mokierte sich Muttchen „ Meinst du denn ich habe das nicht auch längst bemerkt ? Bin ich denn dumm ?“
„ Siehst du !“ triumphierte Paul, inwendig hatte er jedoch plötzlich Gewissensbisse. Oh Gott, konnte er eigentlich so unverblümt über dieses merkwürdige Fernrohr sprechen ? Muttsch hatte doch ein schwaches Herz! „Also dieser Bursche, ....äh ....der ist ....hm ....nicht so ganz in Ordnung ...!“ versuchte er das ganze abzuschwächen.
„ Meine Meinung !“ gab ihm Muttchen recht. „ Meinst du denn, jemand Normales würde bei diesem schlechten Wetter ohne Schal herum laufen ?“
„ Genau... äh ....tja !“
„ Wieso ...tja ? „
„Muttsch, reg` dich jetzt bitte nicht auf!“
„ Reg` ich mich doch gar nicht!“ Sie runzelte die Stirn.
Paul dachte kurz nach. Vielleicht war Muttsch doch gefestigter als gedacht ?
„Also dieser Bursche könnte ...“, er sprach jetzt leiser, nicht nur wegen Margrit, die war Gott sei Dank gerade mit Tobias beschäftigt, weil der ihr wohl noch einige Fragen über die komischen Ungeheuer aus den Tunnelgewölben zu stellen hatte, sondern auch wegen der Fahrgäste, denn er wollte dem seltsamen Hünen nicht schaden, falls der wieder kam.
„ Ja, was ist ?“ rief Muttchen laut. „Warum wirst du jetzt plötzlich so leise, ich kann dich gar mehr richtig verstehen!“
Paul zuckte zusammen , dann beugte er sich zu ihr hinunter. „Er könnte ...“
„ Sicher könnte er sich den Tod holen, aber das geht mich nichts an ! Pah !“
„ Muttsch !“ fauchte er. “ Er könnte ein Hajep sein !“
„ Ein Hajep?“ kreischte sie .
„ Schscht, um Himmels Willen, sei nicht so laut !“
„ Nein, so sieht kein Hajep aus !“ Muttchen lachte ungläubig.
„ Aber vielleicht ein gut verkleideter, Muttsch !“
„ Dann ist er aber sehr geschickt.“ entfuhr es Muttchen mit großer Anerkennung.
„ Hm ....es könnte aber gefährlich werden, wenn ...“
„ Aber natürlich könnte es gefährlich werden ....“
Paul seufzte erleichtert.
„ ...für den Hajep, denn er wird sich bei dieser Kälte noch den Tod holen. So ein Unverstand so was, tzississsis ! “
„Stümmt ...“bestätigte Tobias jetzt , ehe Paul noch etwas dazu sagen konnte. Er hatte wohl immer noch Mühe seinen Schrecken vor den grünen Neandertalerwesen zu überwinden, denn er rollte vor lauter Nervosität seinen Blaui von einer Hand in die andere und Munk, der dies von Muttchens Schoß aus sah, schnurrte deshalb wonniglich.
„ Aber die hören ja alle nich auf dich, Muttsch ...“, bemängelte Tobias. “Auch die Anderentaler ... die sind bestümmt auch immer zu leicht angezogen, darum haben die so lange Zähne ...”
„Lange gelbe Zähne!“ verbesserte ihn Julchen und war dabei sich den Faden ihres Ärmels um ihr Handgelenk zu wickeln.“ Das hast du vergessen, Tobias !“
„...lange gelbe Zähne ...“, wiederholte er eifrig, ”mit langen Zähnen kann man nämlich besser klappern , wenn einem kalt is, .... huch ?“
Der Ball war wieder einmal Tobias kurzen Fingern entschlüpft.
Munk riss deshalb die Augen vor Begeisterung weit auf, und Tobias kreischte erschrocken: “Mein Blaui? Wo ist jetzt mein Blaui ?“
“ Mein Munk? Wo ist jetzt mein Munk ?“ hörte man Muttsch fast gleichzeitig loskreischen.
„ G...ganz ruhig bleiben, Tobias !“ stotterte Margritt. „ Muttsch ! Denk` an dein schwaches Herz!“
„ Und was habe ich schon immer gesagt ?“ brüllte Paul. „ Was habe ich gesagt ? Aber es hört hier ja keiner auf
mich ! “


Inzwischen hatte der geheimnisvolle junge Bursche die Toilettenräume erreicht und dabei nicht bemerkt, dass er die Türe hinter sich für eine handbreit offen ließ.
Er keuchte vor lauter Aufregung, war völlig außer Atem. Er musste “sie“ von da oben sofort herunterholen, koste es was es wolle, denn in wenigen Minuten würden weitere „Pajonite“ oder sogar Loteken “Chiu-natras“ auf den Zug springen, das wusste er, da er das zur Wolke getarnte “Trestine“ gerade noch rechtzeitig durch den “Jawubani“ hatte erkennen können. Sogar das typische Zeichen der brutalen Jäger war, zwar nur schemenhaft - aber doch durch den Nebel der Wolke für einen Sekundenbruchteil zu sehen gewesen.
Atemlos schaute er sich um, seine Hand fuhr dabei zum Gürtel, von welchem er aus einem kleinen Täschchen, einen Ring herauszerrte an dem ein winziger - nur zwei Zentimeter langer - Stift steckte. Er schob sich diesen Ring über den Mittelfinger und drückte danach erst das Fenster herunter, um von dort nach oben zu klettern oder zumindest etwas hinaufzurufen ... wenn er noch Zeit dazu hatte!
Er rief nach ihnen ... doch keine Antwort kam oder der Zug ratterte zu laut. Der Wind sauste ihm um die Ohren und peitschte das Haar über Nase und Augen, während er sich mühte, dort oben irgendjemanden ausfindig zu machen. Angst und Panik schnürten ihm schließlich den Hals zu, derweil er den Himmel nach dem „Trestine“ absuchte. Gerade als er ein Bein über die heruntergeschobene Scheibe schwenken wollte, um hinaufzuklettern, ging unangenehm quietschend die Toilettentüre hinter ihm auf.
„Pajonite!“ schoss es ihm durch den Kopf. “Ich habe mich verrechnet ...habe schon wieder ihre verflixte Intelligenz unterschätzt ...“ Er war wie gelähmt, als sich ein kräftiger Arm von hinten um seine Kehle legte, eine gewaltige Pranke um sein Handgelenk krallte und ihn vom Fenster fortzerrte, daher hatte er keine Muße darauf zu achten, dass gerade Munk an ihm vorbeigejagt und dann durch die angelehnte Toilettentüre geflitzt war.
Der Bursche drückte seinen Zeigefinger gegen den Ring und dessen Stift verlängerte sich um ein Vierfaches. Ein feiner bläulich schimmernder Lichtstrahl sauste zischelnd durch die nur haarfeine Öffnung des Stiftes. Doch leider ging der Schuss nur in die Decke. Das Dach des Waggons qualmte ein wenig und dann zeigte sich dort ein kleiner Spalt durch welchen das Tageslicht schimmerte.
„Kor kamta bo di me jala?“ krächzte der Bursche mühselig. Was ungefähr so hieß, wie :Was wollt ihr von mir haben? „Noi ... noi jàlo ta dendo la me! Tes ... kor bo notore juka bo ara dána.“ ächzte er verzweifelt weiter. “Ich ...ich habe es nicht bei mir! Das ...was ihr sucht müsstet ihr längst besitzen!“
Plötzlich hörte er ein tierisches Ächzen hinter sich, es klang fast wie ein Lachen! Er zog erstaunt sein Kinn etwas an und versuchte auf diese Weise den Arm zu erkennen, der ihn Richtung Toilette schleppte. Dieser war sehr breit und muskelbepackt, und sehr haarig ...vor allem aber war er grün ...jawoll ...GRÜN!
„Worgulmpf!“ krächzte George erleichtert.
Der so benannte ließ ihn - vor lauter Freude am ganzen Körper bebend - endlich los und fletschte höflich die langen gelben Zähne, als der Junge herumfuhr und ihn anstarrte.
„Fengi, Georgo!“ knurrte das gewaltige Geschöpf, “Pa ...“Er kreuzte die Pranken, neigte dabei den Oberkörper.”...itun?“
„Fengi, Worgo!“ wiederholte George, den typisch hajeptischen Gruß, und verneigte sich ebenfalls mit gekreuzten Armen, wobei die Handflächen je einmal nach links und einmal nach rechts, also nach außen weisen mussten.
Er sprach weiter in fließendem Hajeptisch und der Trowe verstand : “Mir scheint, euer “Diebstahl“ hat “Chiu-natra ganz schön ins Schwitzen gebracht. “
Beide hatten sich wieder zu ihrer vollen Größe aufgerichtet.
„ Xer ! Konki ? .... Woher weißt du das?“ fragte das Geschöpf und hielt den Kopf fragend schief.
„Ich nehme an, „Pasua“ hat sich unerwartet gemeldet und eine andere Meinung als die Loteken über euer Diebesgut, ” begann ihm George einfach weiter auf hajeptisch zu erklären und lachte sarkastisch. Chiu-natra scheut jetzt keine Mühe, um bei “Pasua” doch noch einen guten Eindruck zu machen. Er schickt euch sogar deshalb zu Wolken getarnte Trestine hinterher ...und setzt womöglich nicht nur einfache Iskune oder Pajonite gegen euch ein, sondern gar sie selbst, also edle höchst lebendige Loteken!“
” Loteken?“ wiederholte der Trowe.
Der Bursche nickte.
Worgulmpfs kahles grünes Gesicht wurde merklich heller ... man konnte fast sagen, es wurde blass vor Angst!
„ Xorr ! Sie können ruhig kommen. Wir erwarten sie!“ knurrte das etwas streng riechende Geschöpf und seine gelb und orange gesprenkelten Augen unter der wuchtigen Stirn blitzten dabei vor Stolz.
Abermals nickte der Bursche und erwiderte weiterhin auf Hajeptisch.
„Ich kenne eure Furchtlosigkeit. Habt ihr die Sache um die es geht bei euch oder ...“Er musste plötzlich schlucken.” Oder habt ihr euch getrennt und eure Kameraden ...?“ Er konnte den Satz vor lauter Aufregung einfach nicht mehr zu Ende bringen, und hatte dabei ein merkwürdig enges Gefühl im Halse.
Worgulmpf warf den Kopf soweit zurück in den Nacken, dass ihm die Kapuze seines Mantels hinabrutschte und den Blick auf sein abstehendes krauses und giftgrünes Haar freigab. Er schien sich über die Angst des Burschen irgendwie zu amüsieren.
„ Kontriglusia ! Wir haben die Waffe der Wunder bei uns!“ brummte Worgulmpf auf hajeptisch und senkte wieder den klobigen Schädel. „Du kannst sie haben, wenn du uns - wie versprochen - den Plan gibst!“
George wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn.
„Habt ihr euch etwa alle in diesem Toilettenraum versteckt?“ fragte er weiter auf Hajeptisch. Er wies zur Toilettentür, hinter der es inzwischen ziemlich laut rumorte und zwischendurch ein leises Fauchen zu hören war.
„Jala bar dendo!“ Worgulmpf hielt ihm zuerst zwei dann drei Finger seiner Pranke entgegen. “Pir tlin ... Tliha sagunat dedi goruma! ”
„Nur vier ? Wo sind die anderen ? Dann fehlen also elf ? Weit mehr als die Hälfte! Ihr habt euch getrennt ?“ ächzte er entsetzt. “Ihr wisst, was das für euch ...für uns alle bedeuten kann?“
Worgulmpf nickte betrübt.
„Tumi takun! Sehr gefährlich!“ sagte George langsam. „Zumal sich deine Freunde mitten unter die Menschen gemischt hatten, die darüber in Panik gerieten. Aber vielleicht war das auch ihre Rettung, denn ... schnapp dir mal ganz bestimmte Ameisen unter lauter anderen Krabbelviechern!“ Er grinste.
„Und ihr seid nur fünf ?“ fragte er sicherheitshalber noch einmal.
„Uru jala dedi nirat orban!“ antwortete Worgulmpf und versuchte zurück zu grinsen, doch es wurde nur eine verzerrte Grimasse.
„Ach so ! Ich bin ein alter Esel. Sieben hätten ja auch in dem kleinen Toilettenraum alle zusammen kaum Platz. Wo sind denn jetzt die übrigen drei ?“
Worgulmpfs Blicke wanderten zum hinteren Wagen.
„Igitt ..und was haben die Passagiere dazu gesagt? Ich hatte sie gar nicht kreischen gehört?“
Worgulmpf fuhr mit der Faust leicht gegen die Toilettentür. “Gulmur ukam ton! Udil!“ brummte er. Die sprang vollends auf. Zwei wüst ausschauende Gesichter - halb Tier halb Mensch - zeigten sich feixend. “Malgat!“ knurrte der größere von ihnen und hatte auf unseren Burschen sein lotekisches Gewehr gerichtet.
„Ihr ...ihr habt sie getötet?“ entfuhr es George stockend.
Die Zwei schüttelten grimassenartig grinsend ihre wilden Köpfe und im Hintergrund hörte man immer noch ein Fauchen.
„Ach so ...!“ George lachte jetzt auch, während er das Gewehr genauer betrachtete ... es ist also nur ein “Jolbata“ mit dem ihr sie in sekundenschnelle betäubt habt...Richtig ?“ Wieder wanderte sein Blick fragend in die unförmigen Gesichter der Tierwesen. “Woher habt ihr es?“ Seine Augen blieben an einem von ihnen haften. “Hatte etwa wieder “Gulmur“ seine langen, flinken Fingerchen im Spiel?“
Alles nickte begeistert, bis auf Gulmur selbst, der stolz und verlegen zugleich auf seine höchst beweglichen langen nackten Zehen schaute.
„Ibo me!“ fauchte Worgulmpf ungeduldig und streckte die geöffnete Pranke dem Burschen entgegen.
„Denda, denda!“ Der Bursche machte einen scheinbar entsetzten Schritt vor ihm zurück. “Wie heißt es bei den Menschen doch immer so schön? Erst die Ware dann das Geld! In diesem Falle ...erst die Wunderwaffe und dann ... bekommt ihr das zweite Drittel meines Planes!"
Das Herz des jungen Burschens klopfte jetzt vor Aufregung, denn die Trowes waren eindeutig in der Überzahl, sie konnten, wenn sie nur wollten, ihm den Plan entreißen, doch die “Bombe“ war eigentlich für sie recht unwichtig, da sie nicht damit umzugehen verstanden.
Er war also am Ziel und das nach so vielen unendlich langen Jahren ...und doch noch immer so fern. Worgulmpf zögerte mit flackerndem Blick, dann wanderten seine stechenden und bunt gesprenkelten Augen zu seinem Sohn Gulmur. Dieser musterte noch einmal prüfendend den hochgewachsenen Burschen und nickte dann.
Es raschelte auf der Toilette und schließlich zeigte sich hinter der Tür noch ein Gesicht, bei welchem man nur sehr mühselig erkennen konnte, dass es sich um das eines weiblichen Wesens handelte, so kantig und derb war es geschnitten. Man hatte für die Trowenfrau bereitwillig Platz gemacht.
„Nun?“ fragte George. “Was ist?“
„Mira!“ knurrte das wuchtige Weib, fletschte höflich die vorstehenden gelben Zähne und hielt ihm nun ein etwa zehn Zentimeter langes und fünf Zentimeter breites kernförmiges Metallgebilde entgegen.
Der Bursche musste sich Mühe geben, dass ihm bei diesem Anblick nicht die Knie weich wurden, denn genau so war ihm “DANOX“ die “WAFFE“ stets beschrieben worden, und als er den zweiten Teil seines Plans hervorholte, glaubte er auf der Stelle ohnmächtig werden zu müssen, so schwummerig war ihm mit einem Male.
Nach einigem Zögern übergab er der Trowin feierlich den Plan, die ihm vorsichtig den gelblich brauen Stein in die geöffneten Hände legte.
Hinten im Toilettenraum quiekte währenddessen, ein kleines Trowenkind und hüpfte, mit irgendetwas Felligem in den Armen, selig im Kreise herum. Jemand aus der Meute schob sich schützend vor den Kleinen und lugte der Trowin über die Schulter, die mit ihren gewaltigen Pranken den Plan auseinandergefaltet hatte.
„Tes wan tai wunga arito!“ rief sie ihrem Gefährten Worgulmpf zu, dieser atmete erleichtert aus.
George hatte sich inzwischen ebenfalls vergewissert, ob er auch wirklich erhalten, was er gewollt hatte und sein Blick verharrte dabei wie verzaubert auf der feinen Inschrift des oberen Teils der “Bombe”.
„DANOX!“ murmelte er und das klang fast wie ein Gebet. Sein Finger fuhr tastend über die seltsamen keilförmigen Schriftzeichen, die in der Mitte der “Waffe” prangten und dann über die eingravierte Schlange darunter.
Er drehte die Wunderwaffe auf den Rücken. Alles stimmte, denn der “Bauch“ des „Dinges“ war nicht nur abgeplattet, er setzte sich auch aus lauter hell orange getönten kleinen schuppenförmigen Steinchen zusammen. Und in manch einer Schuppe war ein Baum eingemeißelt worden, oder eine Wolke oder was das auch sonst immer darstellen sollte.
Er wendete das Ding wieder zurück.
„Ach wenn ihr wüsstet wie wichtig für uns diese sonderbare Waffe ist ...“ Er hatte nur ein Flüstern und dann ein Rascheln und Schritte vernommen und deshalb sah er sich erstaunt um, die Trowes waren inzwischen fort.
Die im Rhythmus des schaukelnden Zuges auf und zu schwenkende Toilettentüre gab den Blick auf einen nett gekachelten aber leeren Raum frei, also hatten sich die Trowes in das Nachbarabteil begeben.
Doch wie sollten sie von da aus wieder völlig ungesehen hinaus? Nun, sie würden schon mit allem weiteren fertig werden, denn sie hatten ja seinen Plan! Doch warum waren sie ohne Gruß verschwunden?“
Die Lösung dieser Frage lag ganz nahe, denn plötzlich hörte er ein überraschtes Kinderstimmchen in seiner Nähe murmeln : “Du liebe Scheiße! Da liegt ja mein Blaui?“
Dann vernahm er schnelle etwas kurze Schritte, die an ihm vorbeihasteten und wenig später das Geräusch schmatzender Freudenküsse im Toilettenraum und dann : „Heee, du ...uh ...Geo - orge? Hast du vielleicht den Munk gesehen?“
„Den was ..äh ...den Munk?“ brabbelte der wie im Dämmerzustand und dann blickte er seitwärts über die kräftige Schulter. In wenigen Augenblicken, sah er Tobias neben sich stehen und er riss sich zusammen. “Ja, ist euch denn irgendetwas abhanden gekommen?“ fragte er möglichst ruhig und schaute dem Kleinen ins Gesicht in der Hoffnung dessen Blick möge nicht zu lange auf dem funkelnden Metallkern in seinen Händen verweilen.
Tobias nickte, der Kleine war plötzlich wieder so traurig, dass Tränen in seinen großen Augen schimmerten, behielt aber die Fingerchen in der linken Hosentasche, wo sich eine kugelförmige Wölbung abzeichnete.
„Na, wenigstens hast du deinen “Blauli“ wiedergefunden!“ sagte der Bursche in tröstendem Ton.
„Er heißt nicht “Blauli“...“Tobias krauste die sommergesprosste Nase und seine Stimme klang vorwursvoll.“...sondern “Blaui ...ohne ...LLLL...!“
„Ach soooo ... ohne ...LLLLL!“ Der Bursche ließ den Rucksack dabei von der Schulter gleiten und öffnete diesen. „Leider habe ich euren Munk nicht gesehen, aber ich helfe dir gerne, warte einen Augenblick, ja?“ Er versenkte vorsichtig die “Bombe” tief im Rucksack zwischen viel Papier - das sollte Erschütterungen dämpfen - neben dem Fernrohr und dem “Sochanten”, ein Codiergerät, das er erst neulich mit viel Mühe Nireneska, dem hajeptischen Oberkommandierenden von Eibelstadt hatte entwenden können.
„Ich ....ich gehe schon mal den Munk im Nachbarabteil suchen!“ schlug das Kind plötzlich vor und war sogleich an ihm vorbei und an der Tür.
„He, heee ... lass` man gut sein! ...Wir machen das gemeinsam, okay?“ keuchte der Bursche entsetzt, denn er dachte an all die schnarchenden Passagiere. Im nu hatte er sich den Rucksack über die Schulter geworfen und war Tobias hinterhergeprescht. Er hielt ihn am Arm zurück. Tobias brüllte zu seiner Überraschung, deshalb schmerzerfüllt auf, denn er konnte ja nicht wissen, dass dem Kind noch immer beide Ärmchen weh taten.
„Schrei nicht so ...!” rügte er den Jungen verärgert. “Wir suchen Munk zunächst in unserem Abteil, hast du gehört ... in UNSEREM! “ Oh, Gott, auch er war viel zu laut.
„Ja, aber ...warum ...?” krächzte Tobias wesentlich leiser, weil zu Tode erschrocken über den plötzlichen Befehlston. „Da haben wir doch schon gesucht und da is er nich und das weiß ich ganz genau!“
Der Kleine schob die rotgenuckelte Unterlippe weit vor und George ahnte, es fehlten nur Sekunden und der Bengel würde völlig in Tränen ertrunken sein.
”Ich gehe nicht...” fauchte der Kleine plötzlich und stemmte die Füßchen gegen den Boden,” ...ehe ich nicht den Munk wiedergekriegt hab`, so!“
„Ach, meinst du etwa mit... Munk ...eure alte Katze?“ unser Bursche tat so, als wäre er überrascht.
„Ja, die meine ich ...“schniefte das Kind.“...und die heißt Munk! Aber die ist keine DIE!“ setzte der Kleine ziemlich hastig hinzu und wischte sich dabei über die Nase. “Die ist ein ER ... nämlich ein KATER!“ ”
„Ach, so-oh, das wusste ich nicht!“ log der Bursche weiter.
„Und Munk ist gar nicht ALT!“ empörte sich das Kind weiter. “Nee, das is´ er nich! Er is´ nämlich immer noch hübsch!“
„Tatsächlich?“ fragte George. Habe nie gehört, dass Katzen hübsch sein können? dachte er verdrießlich, setzte jedoch ein betrübtes Gesicht auf und sagte :
”Armer Junge, ich hatte ja GAR nicht gewusst, dass du mit: Munk, diesen bildhübschen Kater meinst, wirklich ein prächtiges Tier...aber DER ist vorhin durch das geöffnete Fenster, siehst du das da ...?( Er wies auf das Fenster, welches er vor etwa einer Viertelstunde, selber aufgerissen und zu schließen vergessen hatte ) .... ins Freie gehopst!”
„I...iiins Freie?“ wiederholte Tobias zutiefst erschüttert.
„Sehr richtig!“ bestätigte der Bursche und kam sich nun doch ein wenig gemein vor, er änderte aber seine Taktik um keinen Deut, denn schließlich ging es hier um Wichtigeres, als um ein paar Kindertränen. “Du verstehst recht gut,“ lobte er Tobias ” Bist ein kluger Junge!“ Er tätschelte dem Kind die Wange, über die nun leider doch eine dicke Träne kroch und da flitzte auch schon die nächste hinterher. Tja, Tobias war ziemlich gut im Weinen!
„Keine Angst!“ hörte sich der Bursche zu seiner eigenen Überraschung sagen. “Euer Kater wird sich dabei nichts gebrochen haben, so jugendlich wie der noch ist!“
„Ja, das ist er!“ Tobias zwängte die Lider zusammen, damit keine Tränen mehr kamen.
„Und dieser alte Zug fährt langsam! Sei daher nicht traurig, dass er euch verlassen hat. Das ist keine Untreue! Munk hatte lediglich... äh ...Hunger! Deswegen ist er nur gehoppst ...!“ Das tröstete den Jungen zwar etwas, aber
nicht völlig, dennoch ging er willig in sein Abteil zurück.

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Munk hing indes vertikal und ziemlich verstört in fester Umklammerung. Er zeigte daher jedermann sein flauschiges Bauchfell. Er hatte wieder “ mehr- als – drei — Mal “ sehr laut gefaucht, aber man hatte nicht auf ihn gehört.
Nach längerer Überlegung hatte er sogar seine Krallen ausgefahren, Katzen zeigen nicht gerne ihre Krallen, und damit, was noch anstrengender war, nach allen Seiten ausgiebig und gründlich gekratzt und sogar mit einem Zahn, er besaß nicht mehr viele, zugebissen! Aber sie hatten eine feste lederne Haut und sehr viel Haare darüber und sich daher nur köstlich darüber amüsiert.
Jetzt fuhren viele derbe Hände von allen Seiten kraulend über seinen gesamten Körper! Diese Zweibeiner rochen nicht nur aufdringlich, sie hatten überhaupt kein Benehmen!
Munk fauchte nochmals. Er war zornig – sehr zornig sogar - und begann deswegen, was wiederum sehr mühselig war, sein Fell zu sträuben und zwar vom Kopf bis zum Schwanz.
Er sah jetzt aus wie eine zum Leben erwachte Bürste, aber wieder waren seine Bemühungen umsonst. Unzählige gesprenkelte Augen, unzählige deswegen, weil Munk mehr als drei Paar gezählt hatte, funkelten ihn belustigt an und das kränkte ihn sehr. Ja, man strich ihm sogar den, zu einer dicken Fuchsrute mühsam, aufgestylten, Schwanz von der Wurzel bis zur Spitze verwundert entlang.
Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Er hatte bloß das Bällchen für Tobias gesucht! War für Tobias über sämtliche Kisten und Koffer geprescht, hatte sich für Tobias dabei an manch einer Wade vorbeigekrallt, dabei hatten ihm die unangenehm kreischenden Passagiere kaum etwas ausgemacht, denn es ging ja um Tobias ! Und das “Ding“ war auf phantastische Weise immer schneller geworden, nur weil er - Munk - ihm dann und wann einen winzigen Stoß mit der Pfote gegeben hatte, bis es durch den Türspalt gesaust war und er hinterher musste.
Und dann war ihm das hier passiert. Hatte er das für diesen aufopferungsvollen Einsatz verdient? Nein! Munk war völlig fertig mit dieser ungerechten Welt!







Als Tobias seiner Großmutter mit zitterndem Stimmchen verraten hatte, wie es um Munk stand, wollte sie zuerst die Notbremse ziehen und war nur deswegen knapp davon abzuhalten gewesen, da George sich beeilt hatte zu Tobias Worten noch hinzuzufügen, dass der Kater wohl inzwischen bereits etliche Kilometer von ihnen entfernt wäre, da brach Muttchen vollends in Tränen aus. Sie weinte lange und herzzerreißend, zum einen deshalb, weil sie ihren Kater nie wieder sehen würde, zum anderen aus dem Grunde, da sie sich Vorwürfe machte, das Tier in letzter Zeit nicht genügend gefüttert zu haben. Eine knappe viertel Stunde später, kam die kleine Familie zu dem traurigen Schluss, dass der Kater wohl für immer verloren war. Muttchen weinte weiter sehr eindrucksvoll und Tobias half ihr dabei, denn der konnte das - wie wir schon wissen - ebenfalls hervorragend!
Schließlich rang man sich, zu Georges Entsetzen, doch noch dazu durch, im Nachbarabteil nach dem Kater zu suchen. Paul entdeckte als erster, dass sich dieses - es war das Letzte des Zuges - nicht mehr hinter ihnen befand. Es hatte sich sozusagen in Luft aufgelöst.
Das alles war ausgesprochen mysteriös und beängstigend. Man setzte deshalb darüber den Fahrer des Zuges in Kenntnis, doch der zuckte nur die Schultern. Er schien wohl in diesen Zeiten, die verrücktesten Dinge gewohnt zu sein. Über den Kater musste er jedoch lachen und Muttchen schon wieder weinen und dessen knappe Bemerkung : ”Sportliches Kerlchen!“ hatte sie auch nicht mehr trösten können. Da Paul ohnehin dem jungen Mann misstraute, der immer wieder versucht hatte, mit Tobias Kontakt aufzunehmen, um ihn zu beruhigen, verließen die vier schließlich, auf Pauls anraten, von diesem ENDLICH ungesehen ihren angestammten Platz, und begaben sich zum Ausgang, Tobias dabei gemahnend, dass er diesmal nur ja seinen Blaui festhalten sollte. Tobias tat wie ihm geheißen, seine Hand ruhte gewissenhaft in der Hosentasche, über dem Blaui, wie über der Erde das Firmament.
Wie sie angenommen hatten, wollte in Hornberg, die Ortschaft bestand nur aus fünfundzwanzig bis dreißig Häusern, kaum jemand aussteigen. Doch Margrit und Paul hatten gelernt, sich nicht zu lange in großen Menschenmassen aufzuhalten.
Ein feuchter kalter Herbstwind, schlug der kleinen Gruppe entgegen, die nun dem Zug entstiegen war, und sich nach allen Seiten suchend umsah. Der Bahnhof befand sich hügelaufwärts und so konnte man ganz gut die gesamte Umgebung überblicken.
Wo war das kleine Gehöft, das die Fahrräder hatte? Man sollte es bereits von hier aus sehen können. So hatte es jedenfalls Renate beschrieben, die zu einer geheimen Fluchtorganisation gehörte.
Sie waren damit so beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wie wenig später eine große, dunkle Gestalt hinter ihnen ausstieg und erst recht konnten sie nicht sehen, wie auf der anderen Seite, unter dem Zug hervor, sieben merkwürdige Schatten kletterten.
„Ha, da ist es!“ Margrit wies auf ein niedriges Fachwerkhaus und verglich es mit dem Foto auf ihrer Karte. “Dort müssen wir hin.“ Alles blickte auf die Karte.
„Na, dann los!“ bemerkte Paul und warf eine kurzen Blick hinter sich auf den Zug, der nun abfuhr und wo alsbald auf der gegenüberliegenden Seite der Schienen eine dichte immergrüne Dornenhecke zu sehen war.
Der Bahnhof schien völlig menschenleer zu sein. Doch aus dem alten Haus nebenan, konnte man Stimmen und Gelächter hören. Die kleine Familie hatte eine ganz schöne Strecke zu laufen.
Die Koffer waren unhandlich und schwer. Paul trug außerdem auch noch Muttchens Gepäck auf dem Rücken (es war ein großer rot gestreifter Pastikrucksack, dessen Nähte schon überall angerissen waren), denn Muttchen war zu schwächlich, um das auf einer solch langen Strecke zu schaffen. Sie weinte noch immer und Tobias sah das und weinte deshalb zur Gesellschaft immer wieder mal mit. Endlich standen sie vor der Tür des besagten Gehöftes.
Nebenan war der große Schuppen. Die Tür war dort auf und ein blauweißes Fahrrad lugte zwischen alten Lumpen hervor.
Tobias hatte es, trotz tränenverhangenem Blicks, als erster entdeckt, er hörte deshalb sogar für einen Moment zu schluchzen auf und teilte seinen Fund den Erwachsenen mit. Daraufhin öffnete sich endlich die Tür, denn die Klingel hatte nicht funktioniert, aber dafür der Hund, der laut und heiser drinnen im Hause anschlug.
„Was wollen Sie?“ Die Frau musste sich bücken, denn sie hielt einen Spitz am Halsband zurück. Aus kleinen wasserblauen Augen blickte sie durch den Nieselregen zu Margrit hinüber.
„Sind sie Frau Weller?“ erkundigte sich Margrit zögernd. Die Alte nickte zwar, blinzelte jedoch misstrauisch.
„Sie wurden uns von der Fluchtorganisation als hilfreiches Mitglied genannt und ...“, Margrit kam nicht mehr weiter.
„Organisation und Mitglied?“ unterbrach die Alte sie. “Nicht, dass ich wüsste!“ Sie grinste seltsam und zeigte dabei ihre wenigen Zähne. Sie betrachtete nachdenklich Pauls muskelbepackte Oberarme, sah ihm ins regenfeuchte Gesicht. Ihre Miene wurde ängstlicher. „Okay, okay! Ihr bekommt euer Rad, könnt es haben, meinetwegen!"
„He, nicht nur eines sondern drei!“ erinnerte sie Paul. Er hatte sein Gepäck auf den nassen schlammigen Boden neben seine Füße gestellt, genau wie Margrit. .
„Drei?“ Die Frau zog die Schultern hoch.
„Richtig!“ Paul rieb sich die klammen Hände.
„So viele habe ich nicht!“ Die Frau zerrte den zappelnden Spitz in den Flur zurück, ihre Augen blitzten von dort aus wieder tückisch zu ihnen hinüber.
„Sie wurden aber dafür bezahlt“, Paul grinste, “und zwar für drei !“ Er hielt ihr diese Anzahl mit seinen kräftigen Fingern entgegen und wedelte so komisch damit, dass Margrit und die Kinder lachen mussten, nur Muttchen weinte noch immer.
„Nein, nur für eins“, brummelte die Alte. “Na, wo hab` ich jetzt wieder die Leine?“ Sie blickte suchend in ihrem schäbigem Flur umher, während der Spitz in einer Tour an ihrer Hand bellte. „Moment!“ Dann zog sie die Tür blitzartig zu. Im Inneren des Häuschen war sie in Sicherheit und der Spitz endlich ruhig.
Paul sauste jedoch die drei Stufen hoch und schlug mit beiden Fäusten gegen die abgewetzte Tür.
“Was soll das? Sie geben uns sofort die drei Fahrräder sonst schlage ich die Tür ein, alles klar?“
Wenig später erschien die Frau in einem recht gut erhaltenen, jedoch etwas zu engem Mantel, den sie wohl nicht lange hatte, denn sie trug ihn mit auffälligem Behagen. Über den Kopf hatte sie sich wegen dem Regen eine durchsichtige Plastiktüte gestülpt.
Sie schimpfte zwar noch immer, machte jedoch alle Anstalten dazu, endlich zum Schuppen zu gehen. Freilich bemühte sie sich noch, ihren zerfledderten Schirm aufzuspannen, während der Spitz, der ständig an der Leine zerrte, sie daran hinderte.
“Ha, Bijou! Wirst du wohl endlich still halten?“
Der Schirm war mittlerweile aufgegangen, und als sie sah, wie Margrits Blick auf ihrem Mantel ruhte, strichen ihre kräftigen Finger mit einer fast anmutigen Bewegung über dessen Stoff. Es war ein ockerfarbener leicht beschädigter Kamelhaarmantel, und sie war sich voll und ganz bewusst, dass sie für diese schrecklichen Verhältnisse ein recht kostbares Stück trug.
Margrit musterte die Frau nachdenklich, während sie gemeinsam über den Hof zum Schuppen liefen. Bestimmt hatte sie diesen Mantel für die Fahrräder bekommen. Würde sich diese schlampige, recht gehässige, Frau als genauso großzügig erweisen? Sie sah in diese kleinen flinken Augen und hatte so ihre Zweifel.


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Worgulmpf gebot indes seiner aufgeregten Meute zu schweigen. Auf sein knappes Zeichen duckten sich die Trowes lautlos, die sich zufälligerweise genau hinter diesem Schuppen und dessen angrenzender Hecke versteckt hatten und nur der Kater fauchte, weil der Papageienkäfig, den man zuvor in dem Schuppen entdeckt und in welchen man das kleine “Fauchwesen“ kurzerhand gesperrt hatte, fast dabei zu Boden gestürzt wäre.
Doch der Kleine hatte aufgepasst und streichelte nun “WROL“ wie er das “Fauchwesen“ nannte, denn es schien keine Stimme zu haben, mit drei Fingern durch die engen Stäbe des Käfigs hindurch, was mit einem weiteren hilflosem Fauchen quittiert wurde.
Worgulmpf fuhr deshalb abermals zusammen, blickte stirnrunzelnd auf seinen jüngeren Sohn und fuhr sich dabei nachdenklich mit der Hand über den regenfeuchten Sklavenkittel.
Hatten die Leute etwa das leise Fauchen gehört? Wieder spähte er unsicher zwischen zweien der immergrünen Zweiglein hindurch. Es konnte noch so gefährlich werden, Trukir pflegte dennoch seinen kleinen dicken Kopf durchzusetzen.
Vorhin hatte er so lange herumgequengelt, bis man ihm erlaubt hatte, sich jenen abstrakten Wunsch zu erfüllen, den Käfig aus dem Schuppen zu holen. Und was war nun?
Furchtbares würde vielleicht geschehen, wenn sich das struppige “Brüll- wesen“, das an die Schuppentür gebunden worden war und sie schon lange gewittert hatte und gewiss deswegen so aufgeregt war, von seiner Schnur losriss?
Traurig ging sein Blick zum “Jolbata“, mit dem Gulmur, die sechs schwatzenden und nach einem komischen Fortbewegungsmittel suchenden Erdlinge bereits anvisierte, denn dieses war die einzige Waffe und sie hatten nur noch wenig Schuss.

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Frau Weller zupfte derweil zögerlich und linkisch an den Sachen herum und murmelte in einem fort dabei, dass diese Zeiten ganz besonders fürchterlich für hilflose alte Frauen wären, bis Paul und die ganze Familie mithalfen und sie schließlich nur noch alles dirigierte.
Das erste Fahrrad - das blau weiße - war überhaupt nicht mehr zu gebrauchen. So lädiert war es. Und auch das zweite befand sich in einem schlimmen Zustand, aber immerhin ließen sich die Pedalen bewegen, auch wenn es entsetzlich quietschte und dann fehlte auch noch das dritte Fahrrad, nach dessen Verbleib sich Paul sogleich sehr unfreundlich erkundigte, denn er hatte nicht vor, die ganze Strecke bis nach Reichenberg zu Fuß zu bewältigen.
Die Frau zuckte nur ängstlich mit den Schultern und lief dann hastig zum Haus zurück, den vor lauter Raserei nach allen Seiten schnappenden Spitz hinter sich her zerrend.
„Aber, es wurden uns doch drei Fahrräder versprochen und von diesen funktioniert keins richtig!“ Paul heftete sich als Einziger des kleinen Trupps, schäumend vor Wut, ihr dicht an die Fersen. Die anderen blieben zurück und begutachteten weiterhin die Fahrräder.
„Es wurde nur eins bezahlt!“ Am Treppenabsatz ihres Hauses wandte sich die Alte nach Paul um, weil sie fürchtete, von Paul verprügelt zu werden und der Hund, der jetzt mehr einer durchnässten Teppichrolle glich, schüttelte nervös den Pelz. „Was kann ich dafür!“ Sie trat einen Schritt vor dem Spitz zurück, damit ihre Beine nicht noch nasser werden konnten, als sie es schon waren.
„Aber sie besaßen doch drei intakte Räder!“ brüllte Paul zornesrot hinter ihr. “Sie hatten die doch der Dame, die von der Fluchtorganisation kam, gezeigt!“
Wieder folgte ein Schulterzucken, die Alte wollte die Stufen schnellstens hinaufsteigen, doch der Hund stand ihr im Weg. Er winselte quietschig und wedelte mit seinem verregnetem Schwanz.
„Nein, sie gehen da jetzt nicht wieder hinein!“ brüllte Paul fassungslos. Das klang drohend und es folgte eine zögerliche Pause.
Zwei kleine flinke Augen blinzelten zu Paul hinüber.
“Die Teile von dem blauweißen Fahrrad habe ich schon vor einigen Wochen verkauft und dann ... hm .. er kam halt vor euch, dieser dunkle junge Mann - ziemlich groß übrigens!“ Ihr spitzes Gesicht zeigte schon wieder das seltsame Grinsen an. „Der bot mir dieses Kettchen, echt Gold, übrigens, und mit Anhänger! Rarität heutzutage! Na ja, und dafür hat er eben ein Rad von mir gekriegt. Hatte einen sicheren Blick, der Bursche, denn er nahm sich gleich das Beste!“
„Das Beste?“ wiederholte Paul fassungslos.
„Tja, tut mir leid, mein lieber Freund! “ Die Alte versuchte möglichst anteilnehmend drein zu schauen. “Aber wenn ihr euch beeilt, holt ihr ihn eventuell noch ein.“ Sie machte eine kurze Pause, wobei sich, unbeabsichtigt oder nicht, der Ausdruck ihres Gesichts wieder ins völlige Gegenteil verkehrte.
Mit einem Satz war Paul bei der Alten und riss ihr das Kettchen vom Hals.
„Wir haben für drei Räder bezahlt und bekommen nur das eine klapprige. Dafür behalte ich ihr schönes Kettchen.“
Die Alte kreischte vor Wut, aber Paul wandte sich kopfschüttelnd um und kehrte, die Fäuste tief in die Hosentaschen geschoben, zu Margrit zurück.
Diese hatte inzwischen im Schuppen vergeblich nach Ersatzteilen gesucht und viel Müll ausgeräumt. “Nun, wo ist das dritte Fahrrad?“ fragte sie.
„Sie hat keines mehr!“ antwortete er apathisch.
„ Und was machen wir jetzt?“
„Weiß nicht!“ Paul zuckte die Schultern. “Oh, ich könnte diese ...diese ...“
„ ...du meinst bestümmt Arschgeige, stümms ?“ mühte sich Tobias sehr eifrig Paul zu helfen.
„ Aber Tobias ...“
„ T`schuldigung ...!”
Margrit kicherte.
„Also, diese ...“ begann Paul von neuem. „ Hm ...äh ...A...“
„ Paul ?“
„Was ist denn ? Alte Dame ....hatte ich sagen wollen... in ihre einzelnen Teile zerpflücken!“ Paul gab der Blechbüchse, die hier, wie so vieles, mitten im Weg lag, einen Tritt und die rollte ins Gebüsch hinter den Schuppen genau vor zwei nackte Füßchen. Kleine haarige Hände ergriffen sich- unbemerkt hinter den Zweigen - das seltsam blitzende Ding und gesprenkelte Augen betrachteten es neugierig, flink drehten grüne Fingerchen die Büchse hin und her und zupften an dem halb zerfetzten Schild, das daran klebte.
„...denn es fährt bald kein Zug mehr.“ fügte Paul indes verdrießlich seinen Worten hinzu. “Kaum jemand findet sich noch, diese Strecke als Zugführer abzufahren! Bald wird der ganze Verkehr lahmgelegt sein, und die Hajeps haben auch hier, das, was sie schon immer wollten!“
„Kein weiteres Rad also!“ wiederholte Margrit matt.
Er nickte verzweifelt. “Es hilft nichts!“ sagte er schließlich.
„Wir müssen irgendwie weiter! Dann laufen ich und Muttchen eben zu Fuß."
Margrit sah sich suchend nach den wenigen Häusern um
„Vielleicht hat jemand anders hier ... ein Rad! Es ist ja nur ein einziges!“
„Wir haben nichts Wertvolles zum Tauschen Margrit.”
„Na, dann, vielleicht viele kleine Dinge!“
„Die brauchen wir doch dringend selbst!"
„Aber, du hast doch so viel und vor allem schwer zu tragen, Paul ...“
„Das schaffe ich schon. Mache dir mal keine Sorgen."
„Notfalls kann auch ich helfen!“ schniefte Muttchen tapfer und spannte ihre mageren Oberarme.

„Ja,ja,“ brummte Paul nur, ohne es wirklich ernst zu meinen. „Ich werde bestimmt bald auf dein Angebot zurückkommen.“

Manches an dem Fahrrad war so zerschlissen, dass es eigentlich repariert hätte werden müssen. Dennoch trieb Paul zur Eile an, denn sie wollten noch vor dem Dunkelwerden, eine kleine Hütte in den Bergen erreichen, die ihnen ebenfalls empfohlen worden war. Dort lebte völlig vereinsamt ein alter Schäfer, der freundlicherweise sofort bereit gewesen war, nicht nur ein Quartier der kleinen Familie zuzusichern, sondern auch ein warmes Essen.
„Die Löcher in den Reifen scheinen nicht zu groß zu sein!“ erklärte Paul. “Wenn es schlimmer wird, werden wir eben am “Neuen See “anhalten und die Räder flicken, solange es hell ist."
Durch die Arbeit der Hajeps bei der Wiederherstellung wichtiger Naturgebiete der Erde, hatte sich das Landschaftsbild in einigen Teilen „Dauchans“ unbeabsichtigt so verändert, dass man es kaum wiedererkannte. Darum tauchte - besonders hier- bei den Menschen überall der Name neu auf, speziell was die Flüsse und Seen anbetraf, denn es kam nicht selten vor, dass, durch die Veränderungen des Erdreiches, plötzlich welche versiegten und an unbekannten Stellen wieder entstanden.
Daher begriff Margrit ihren Paul sofort, blickte auf die primitiv gezeichnete Karte, nickte, steckte sie wieder in ihre dicke Strickjacke zurück und setzte Julchen, wie besprochen, vor sich in den Kindersitz. Hinten drauf sollten immer abwechselnd, mal Tobias oder einer der Koffer kommen.
Wie Margrit es vorrausgesehen hatte, konnte Muttchen sich nicht von ihrem Korb trennen, aber sie trug später wieder ihren Rucksack auf dem Rücken, und den Schirm über ihre rechte Schulter, der an einer Schlinge gebunden war.
Ständig schwer zu tragen hatte Paul, er schleppte mal einen, mal zwei Koffer, die zwar nicht sonderlich groß waren, aber dafür prall gefüllt. Nur damit mal beide Kinder auf dem Rad sitzen konnten

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Winzige gesprenkelte Augen in einem riesigen klobigen Gesicht hatten ihnen zunächst hinterhergeschaut. Nun atmete Worgulmpf erleichtert aus. Bei Ubeka und Anthsorr, da hatten sie ja noch einmal Faisan (Glück) gehabt! Doch für wie lange? Er setzte nämlich den Blunaska nur ungern ein. Einesteils, weil ihm die Angst vor technischen Dingen anerzogen war und er fürchtete etwas falsch zu machen, anderen Teils, weil er auch nicht wusste, wenn er dessen Energien verbraucht hatte, wie man ihn wieder aufladen konnte.
Beklommen suchte er wieder den Himmel ab. Dünne giftgrüne Lippen pressten sich dabei noch fester zusammen. Akir, da war noch kein Trestine zu entdecken!
Dennoch konnten sie da sein sein! Ihre Tarnungen waren meist linti (perfekt), so wie alles an ihnen linti war. Vielleicht war es doch gut, wenn er jetzt den „Blunaska“ einsetzte, den Gulmur ebenfalls erst kürzlich gestohlen hatte, und wenn man versuchte die Trestine durch Trugbilder zu irritieren.
Doch ob ihm das auch wirklich und vollständig glücken würde? Was war wenn dieses Gerät bereits einen Defekt hatte? Auf welche Weise würde es einen dann darauf aufmerksam machen? Denn er konnte nicht lesen. Vorsichtig strich einer seiner krallenbewährten Finger - den fünften hatte er am Handgelenk - über das kleine blaue Sensorenfeld jenes Amuletts, welches er an einer Kette um den Hals trug. Er blinzelte nach oben. Feuchtigkeit wurde plötzlich von allen Seiten zusammengezogen und umschloss schließlich als eine Art Nebelzelt die kleine Schar. War das ein Beweis, dass das Ding funktionierte? Der Blunaska, der in diesem Fall wie ein Amulette aussah, sendete nun regenbogenfarbene Strahlungen in einem bestimmten Rhythmus abwechselnd nach allen Seiten aus. Worgulmpf wusste, dass in diesem Nebelzelt nun jenes Trugbild entstehen musste, das er zuvor eingegeben hatte. Vom Flugzeug aus betrachtet müssten jetzt also keine Gestalten mehr zu sehen sein, sondern nur noch diese Landschaft mit viel Gebüsch, in welcher Worgulmpf sich mit seiner Meute sicherheitshalber versteckt hatte. Doch er hätte jetzt auch ruhig das Dickicht verlassen und ganz offensichtlich über die Wiese oder jenen Weg dort hinten entlang wandern können. Denn der Blunaska sollte alles was Wärme abgab mit dieser sonderbaren Nebeltechnik insofern unsichtbar zu machen, indem er einfach die Umgebung, die eigentlich hinter den Gestalten war, wieder vollständig hervortreten ließ.
War es Worgulmpf geglückt? Wo gab es Zeichen an dieser Maschine, dass alles erfolgreich vonstatten gegangen war? Hach, womöglich amüsierten sich die Schergen Chiu-natras bereits über Worgulmpfs Unbeholfenheit mit technischen Dingen umzugehen. Er zuckte hilflos mit den muskelbepackten Schultern, während er weiter durch den Nebel spähte der ihn und die sechs Flüchtlinge umgab.
Kalire (listenreich) war es jedenfalls von ihm gewesen, nicht nur ein Abbild seiner Schar in das letzte Abteil des Zuges mit Hilfe dieses Blunaska - und DA hatte das Ding funktioniert! - zu simulieren, sondern dieses letzte Abteil auch noch plötzlich abhängen zu lassen. Niemand hätte dazu die Wahnsinnskräfte haben können, außer Trowes!
Ein bisschen stolz zuckte nun doch einer seiner Mundwinkel hoch.
Dieses Abteil war, da die Strecke an jener Stelle abschüssig gewesen, zurückgesaust und genau auf jene zwei “Lais“ zu, die sich zuvor von dem Trestine getrennt und auf Fensterhöhe des Zuges manövriert hatten, damit von dort aus gleich einige der brutalen “Pajonite” oder auch nur “Iskune“ Roboter in das Abteil klettern konnten.
Gewiss waren dabei ein paar von diesen Robotern beschädigt oder gar völlig zerstört worden und das Trestin hatte von oben aus Rache jenes Abteil zur sofortigen Entgleisung gebracht.
Was dann passierte war vermutlich noch fürchterlicher gewesen.
Hatten nämlich einige der betäubten Menschen die Entgleisung überlebt, so waren sie sicher geweckt worden, denn Loteken pflegten niemals einen Hojank (Spaß) zu versäumen. Sie hatten sich an den noch halb betäubten Passagieren sicherlich ausgetobt, weil keine Trowes zu finden gewesen waren.
Der wuchtige Körper Worgulmpfs zitterte bei diesem Gedanken. Jedoch nicht aus Mitleid um die Menschen, solche Gefühle waren selbst ihm fremd, sondern eher aus Angst um sich selbst.
Was würde geschehen, wenn sie ihn jakitan (schnappten)? Er war als “WOKEA“ (Rebell) bekannt. Wenn sie ihn diesmal bekamen, würden sie wohl ihre Quälerein verstärken. Er war sich nicht sicher, ob sie vorhatten, ihn dabei am Leben zu lassen, oder ob sie weiterhin wert darauf legten, dass später wenigstens sein kräftiger Körper - der wirklich außergewöhnlich stark war-, noch funktionierte, oder wollten sie nur seinen Schädel und somit seinen aufrührerischen Verstand?
Seine Seele hatten sie ja bereits fast vollständig getötet. Er war ein rastloser und schlafloser Mann geworden, geplagt von unbeschreiblichen Schüben von Angst.
Ursprünglich waren sie ja zwei Familien gewesen, welche die Flucht aus dem “Lager” gewagt hatten. Zwei Familien und deren Freunde. Letztendlich jedoch hatten sie sich zerstritten. Slorbungra Oberhaupt von acht Köpfen, war nämlich plötzlich der Meinung gewesen, die “Zauberwaffe” lieber selbst zu behalten, als sie weiterzugeben, vielleicht konnten sie ja auch deren Geheimnis selber lösen und sich mit der großartigen Waffe in einem entscheidenden Augenblick siegreich verteidigen. Oder sogar damit ihr Volk endlich von der brutalen Sklaverei befreien, die Hajeps schließlich von der Erde vertreiben und einen eigenen freien Staat auf diesem Planeten gründen. Ein Plan zur Flucht wäre eigentlich gar nicht nötig, denn man würde sich schon bald alleine in dieser ziemlich unkomplizierten Menschenwelt zurechtfinden!
Vergeblich hatte sich Worgulmpf bemüht, Slorbungra darauf hinzuweisen, dass bisher noch kein Flüchtling mit dieser Erde richtig klargekommen war. Hajeps hatten entlaufene Sklaven stets in ziemlich kurzer Zeit wieder einfangen können, und brutal vor den Augen möglichst vieler ihrer Kameraden bestraft, manchmal - wenn sie die nicht besonders dringend brauchten - sogar hingerichtet.
Oh, Slorbungra, hoffentlich irrtest du nicht, und du, der du nur Lagerleben und gehorchen gewöhnt bist, fandest dich frei und in diesem Bergland zurecht, und bist listenreich deinen Verfolgern entkommen, denn sonst ... schlimm wird es dann auch für uns.
Er hatte Slorbungra nicht die Waffe geben müssen, denn nach alter Trowensitte war um den Grund ihres Streites, gegeneinander gekämpft worden, Mann gegen Mann, Körper gegen Körper und ...obwohl Slorbungra jünger war, hatte er - Worgulmpf- ihn besiegt und zu Boden gedrückt.
Oh, Slorbungra, wirst du bereits gefoltert, oder dein Weib oder gar eines deiner Kinder oder deine sechs Freunde, die dir in großer Treue gefolgt sind ? Verratet ihr alle in diesem Augenblick vielleicht wo wir sind? Wer bereits die Wunderwaffe hat?
Er schaute verzweifelt nach hinten. Sie mussten ihr Versteck endlich verlassen, aus diesem Dörfchen hinaus und in ein Wäldchen kommen und jenen langen Weg nehmen hinauf und dann durch die Berge und später durch dichte Wälder und an Wiesen vorbei und an einer großen Menschenstadt mit Namen und schließlich sollte es eine der uralten Schnellstraßen entlanggehen und dann würden sie zu noch einer Stadt kommen und dann dicht am Feind an Zarakuma vorbei waren sie in Eibelstadt, wohin sie sich zuletzt wenden sollten. Doch auch wirklich sicher, so wie es der geheimnisvolle Georgo versprochen hatte?
Er war ein Verrückter, denn er hatte sich über die “Bombe”, unangemessen gefreut, die sein Sohn Gulmur von dem senizischem Tänzer “Tesderanda” geschenkt bekommen hatte, nur weil es Gulmur durch eine List gelungen war, den, vor einer furchtbaren Tracht Prügel, durch einen der lotekischen Aufseher, zu retten.
Worgulmpf sollte mit seiner Familie und den Freunden vorab zu einer Gruppe Lumantis flüchten, die unter der Erde lebte. Er wusste, dort waren sie tatsächlich vor Chiu-natras Robotern und Pajoniten in Sicherheit. Doch wie waren Lumantis? Er hatte bereits schlechte Dinge über Lumantis gehört. Sie lebten in einer strengen Kasten - Hierarchie, ähnlich der des Hajepsystems. Er wusste nur sehr wenig über sie, denn es war ja verboten Kontakte mit anderen Völkern aufzunehmen!
Sein Blick blieb nun an seinem Jüngsten haften, der die lange Flucht noch für einziges spannendes und lustiges Abenteuer hielt.
Er hatte keinerlei böse Erfahrungen weder mit Lumantis noch Loteken noch mit Hajeps gemacht. Kein Wunder, er und seine Freunde hatten ihn - von Geburt an - versteckt!
Noch streichelte der Kleine ahnungslos seinen komischen “Wrol“ der ständig fauchte und das ganze Gesichtchen strahlte dabei.
Entschlossen fletschte Worgulmpf jetzt sein gefährliches Gebiß, das sie ihm seltsamerweise gelassen hatten, und er schaute auf seine drei treuen Freunde “Bagala“ "Orgoro“ und “Djebawa“. Nein, er durfte diesmal nicht versagen und nicht zögern! Er musste alles erdenkliche tun, dass sie keinen fanden.
Doch wenn es ihnen für heute gelingen würde, wie würde es Morgen sein, wohin sich dann wenden? Von wem Hilfe dabei erwarten? Müde hob er den haarigen Arm und setzte sich in Bewegung.
Er blickte sich dabei nicht um, denn er wusste, dass er gehen konnte, wohin er wollte, sie würden ihm folgen ... bis in den Tod!

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Der Weg war lang, nass und schlammig und am Anfang glaubte Margrit kaum, dass man solch eine gewaltige Strecke zu Fuß bewältigen könnte.
Zwar hatte das Nieseln aufgehört, aber dennoch wirkte der Himmel grau und regenschwer - besonders in der Ferne! Dort war es ziemlich finster.
Noch heute würde es ganz bestimmt ein gewaltiges Gewitter geben! Man fror in den feuchten Kleidern und der Wind war kalt.
Stunden vergingen und immer wieder stöhnte Julchen in ihrem Fahrradsitz, während sie sich die kalten Fingerchen rieb: „Mammimammi, warum sind wir denn nur nicht im Zug geblieben? Die anderen hatten es viel besser, viel, viel besser, So!“
Und Tobias sagte schon seit einem ganzen Weilchen gar nichts mehr, was zur lang ersehnten Erholung von Pauls Nerven beitrug.
Das fiel dem Jungen schließlich auf und da ihm langweilig war, kam er auf den Gedanken doch lieber weiter zu weinen, diesmal nicht wegen Munk, sondern weil alles so schrecklich war. Jedoch musste er sich hierfür erst ein wenig einschluchzen, um in die richtige Stimmung zu kommen, und so begann er zunächst in einem hellen Fistelton zu wimmern und er beobachtete dabei Paul und hörte sich selbst zu und weil der keine Notiz davon nahm, griff er sich seinen “Blaui“, nahm ihn fest in die kleine verfrorene Faust und ließ die erste Träne einfach darauf tropfen. Das war sehr apart und mal was anderes. Er hielt den Kopf schief und ließ die nächste ganz langsam erst die Nase hinab und dann auf seine Erde tropfen. Ja, ja, es regnete nun dort, es regnete Tränen! Dieser Gedanke war so furchtbar traurig, dass er darüber laut aufschluchzen musste - Ströme von Tränen ergossen sich jetzt über die Kugel, das war richtig toll, und darum heulte Tobias wie noch nie, um dabei die schimmernden Tränen zu beobachten, wie sie an der Kugel hinunterflossen und sich mit dem “echten“ Regen vermischten.
„Langsam beginne ich mir wirklich ehrliche Sorgen um den Jungen zu machen!“ hörte Tobias Paul zu Margrit hinüberflüstern und dem Kleinen wurde ganz heiß vor lauter Freude. Endlich hatte er einen Papa, einen Papa der sich Sorgen um ihn machte. Tobias wimmerte deshalb nicht mehr, er schrie und die Tränen spritzten nur so.
„ Hast du Tobias Schreie gehört?“ stieß Paul entsetzt hervor. „ Was mag mit ihm sein ?“
„Was soll schon mit ihm los sein, Paul. Der Weg ist lang und er ist müde!“
„Nein, ich sage dir der vermisst immer noch seine Katze !“
„ Es ist nicht seine, sondern Muttschs Katze. Erinnere bloß nicht Muttsch daran, denn die hat sich gerade beruhigt...“
„ Margrit, manchmal muss ich mich über dich wundern. Du hast doch Psychologie studiert, warum hilfst du nicht dem Jungen ?“
„ Die Kinder sind müde , Paul, und ihnen ist kalt.“ Margrit schob mit verdrießlicher Miene ihr Rad weiter. „ Was soll ich da machen ? Im Freien können wir nicht rasten. Willst du hier irgendwo klingeln, damit man uns eine Herberge gibt? Das wird doch wohl kaum einer für uns umsonst tun !“
Aber Paul war nicht mehr bei ihr, sondern lief neben Tobias her, der in großem Abstand hinter Margrit drein trottete.
„ Tobias !“ sagte er besorgt. „ Willst du nicht mal mit dem Weinen aufhören ?“
Der Junge schmunzelte ganz kurz, riss aber sofort wieder die Mundwinkel herunter und schüttelte ziemlich wild den Kopf.
So begann Paul von neuem : Sieh mal, auch wenn der Munk eine ganz tolle Katze gewesen ist, so ....“
„ Das war der Munk nicht nur, dass ist er immer noch !“ krächzte Muttchen aufgeregt von hinten.
„ Muttsch, mit dir rede ich gerade nicht ...“ Paul hielt den Kopf gesenkt, denn er blickte prüfend umher, weil er nicht in die unzähligen kleinen Pfützen und Schlammlöcher hineintrampeln wollte, die wohl noch vom gestrigen Regen herrührten.
„ Weiß ich doch ...“ sagte Muttchen mit rotgeweinter Nase und schaute auf den leeren Korb, in dem einst Munk das beste Katerchen der Welt gesessen hatte. Aber ich rede mit dir !“
Margrit runzelte stumm und finster die Stirn, während sie das Rad mühselig weiter durch Schlamm und Gestein schob.
Da Tobias doch ein bisschen mit dem Weinen aufgehört hatte und Muttsch noch nicht wieder am Weinen war, glitt Paul schnellstens zu einem anderen Thema hinüber.„ Wir sollten nicht über Munk nachgrübeln, sondern eher uns davor hüten, dass uns dieser George begegnet!“ gemahnte er.
“ Is der denn auch hier ?“ fragte Tobias, wischte den „ Blaui “ trocken und ließ ihn wieder in seiner Hosentasche verschwinden.
Paul nickte.
„ George is ein Hajep, stümms ?“
„ Ich nehme es stark an , Tobias !“
Der Kleine gab sich einen Ruck und stapfte tapfer weiter vorwärts.“ Ich kann diesen Hajep auch nich leiden !“
„ Ich schon !“ krächzte Muttchen von hinten. „ Er hat so ein unschuldiges Gesicht.“ Aber auch sie nahm plötzlich eine mutigere Haltung an, lief zügiger vorwärts und rief Paul zu :“ Dennoch soll er uns nicht bekommen, pah !“
„ Paul,“ sagte Margrit mit großer Anerkennung in der Stimme, als er wieder neben ihr war.“ Manchmal wächst du wirklich über dich hinaus. Wie du das wieder hingekriegt hast mit dieser kleinen Notlüge ...“ Sie hielt schnaufend inne.
„ Notlüge ?“ wiederholte er verdutzt.
Sie lachte.“ Na, nun tu` mal nicht so unschuldig ! Diesmal kannst du mich nicht anschmieren !“
„ Aber Margrit, weshalb sollte ich dich denn anschmieren wollen ...?“
„ Komm, komm, Paul,“ ächzte sie, während sie das Rad weiterschob, „ woher willst du denn wissen, das George auch hier ist, he ? Hast du ihn denn vorhin mit uns aussteigen sehn ? Das hast du genauso wenig , wie ich ! “
„ Margrit, diese merkwürdige Frau Weller hatte es mir vorhin verraten ...“
„ Was ?“ Margrits Augen hinter der schlammverkrusteten Brille weiteten sich.
„ Er besitzt das letzte Rad, die Alte hat ihm das Beste gegeben!“ erklärte er ebenso keuchend, wie sie und stellte- wie schon so oft – die Koffer ab.
Auch Margrit blieb wieder stehen. “Jetzt mal im Ernst, du glaubst doch nicht wirklich, dass er ein Hajep ist?“
„Ja, ganz recht, das glaube ich!“ Er massierte sich stöhnend die schmerzende Schulter. Dann ergriff er erneut die Henkel, hob seufzend das Gepäck an und lief weiter.
„Ich hätte nie gedacht, dass gerade du, eines Tages so verspinnert sein kannst !“ Sie kam ihm hinterher.“ Aber das ist nichts Besonderes! Immer mehr Menschen leiden langsam unter Verfolgungswahn! Und das ist ja auch der Sinn und Zweck des merkwürdigen Verhaltens dieser Hajeps! “ Sie lachte verbittert.„Entsinnst du dich, wie sie damals die merkwürdigsten Gerüchte unter uns Menschen in Umlauf gebracht haben? Eines davon war, dass die Hajeps mit geradezu teuflischer Intelligenz behaftet sind. Die Folge : Es entstand unter den Völkern eine gespenstisch anmutende Hatz auf alles, was mehr oder weniger intelligent war, denn der Hajep - inzwischen schon als Chamäleon bekannt - konnte ja in jedem von uns stecken. Besser konnte es “Scolo ” ja, gar nicht haben, denn die Menschen reduzierten sich gegenseitig! Es hat lange gedauert, bis die Leute das begriffen! Und heute gilt plötzlich, dass nur der, wer übermenschlich groß ist, unbedingt Hajep sein muss! Dieser George ist groß, na und? Er ist groß und stark! Denn auch die Starken sollen ja verdächtig sein! Kapierst du, worum es hier geht? Groß, stark, intelligent! Genau diese Sorte Mensch könnten ja die Hajeps an ihrem Vernichtungswahn hindern. Und du willst “Scolo“ wohl behilflich sein, Paul, was?“
„Nein, Pasua! ” sagte er kleinlaut und grinste schief.



















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