Das Licht der Hajeps
von doska

 

Kapitel 3

Kapitel 3

Als es hügelaufwärts ging, stellte Paul nach kurzer Zeit wieder die zwei Koffer ab, rieb sich die schmerzenden Finger und sah dabei zu Boden.
„Ich will nur, dass wir diesen George meiden, Margrit!" begann er von neuem. „Verstehst du? Wir brauchen ihm ja nicht unbedingt in die Arme zu rennen ! "
Margrit hatte ebenfalls erschöpft angehalten und überlegte nun, ob sie wenigstens Tobias hinten vom Fahrradsitz nehmen sollte, damit es leichter gelang, den Hügel zu bewältigen.
War es nur Einbildung oder vernahmen sie in diesem Moment tatsächlich das Quietschen schlecht geölter Fahrradpedalen hinter sich? Erschrocken fuhren die Köpfe herum. Ein feuerrotes, recht gut erhaltenes Rad blinkte ihnen entgegen und hielt schließlich vor der verblüfften kleinen Schar.
„Oh, hallo!“ entfuhr es der dunklen Gestalt verlegen, die auf dem bequemen, sehr hoch gestellten Sitz tronte. Dennoch wirkte das Rad für die langen Beine etwas zu niedrig.
Als niemand antwortete, fragte der jugendliche Riese : „Ist irgend etwas Besonderes mit mir? Warum starren Sie mich so an?“ Er blickte suchend an sich selbst hinauf und hinunter. „Oder ist etwas Komisches an dem Rad ?“ Auch das musterte er nun kritisch. „Ah, jetzt begreif` ich`s !“ Er lachte amüsiert. „Bin wohl zu groß für das Rädchen, gelle ?“
Margrit war die erste, die sich wieder fing. „Hallo, George!“ begann sie freundlich. „Sie sind ja noch so jung! Ich darf Sie doch bei ihrem Vornamen nennen?“
Er nickte breit grinsend. Paul hingegen warf seiner Margrit deshalb einen verständnislosen Blick zu.
„Nichts ist an Ihnen komisch!” plauderte sie weiter. „Dass Sie ein bisschen größer sind als das Rad, stört uns gar nicht. Wir staunen nur, dass wir Sie ausgerechnet hier...“
„Da bist ja schon wieder du-hu!“ unterbrach Julchen Margrit. „ Du... du bist auch vorhin ausgestiegen aus dem Zug, stümms ? Wir sind auch vorhin ausgestiegen aus dem Zug und der Munk, der is ganz vorher ausgestiegen aus dem Zug, aber die Oma, die is....“
„ Julchen!“ unterbrach Margrit ihren Wortschwall.

„Ich mag den nich”, murrte Tobias leise und seine Hand suchte nach dem ‚Blaui’ tief in seiner Tasche.
„Und...und...und... dass du gleich hinter uns bist!" Julchen konnte sich anscheinend nicht mehr einfangen, denn ihr ganzes Körperchen zuckte vorne auf dem Fahrradsitz.
„Ich weiß gar nicht, was ihr habt !” wisperte hingegen Muttchen direkt hinter Margrit. „Der hat doch ein recht nettes Gesicht, der Hajep. Ob ich ihm wohl meinen Schal....“
„Untersteh dich, Muttsch!“
Margrit nahm Tobias mit einem Arm herunter, der strampelnd dagegen protestierte, doch sie stellte ihn einfach auf die Erde. Wütend stampfte er nun mit dem Fuß auf.
„Wie haben Sie es nur gebracht, so still und heimlich aus dem Zug zu steigen, ohne von uns dabei erwischt werden ?“ fragte sie.
„Och, Sie waren vorhin so beschäftigt mit ihrer Karte”, meinte George, „da wollte ich nicht stören!“
„Sie hätten nicht mehr gestört als bisher!“ zischte Paul.
„Paul!“ rief Margrit entsetzt und errötete.
Doch der junge Mann hatte auch das gehört. „Oh, das habe ich nicht gewusst!“ erwiderte er, und mehr schien er dazu auch nicht sagen zu wollen.
Dies überraschte die kleine Familie tatsächlich ein wenig, und Paul überkam die unangenehme Gewissheit, dass sie den nervigen Kerl wohl nicht sobald wieder los werden würden.


°

Munk machte einen Buckel, gähnte und streckte sich. Nun war es ihm doch noch geglückt, ganz kurz einzudämmern.
In der Ferne hörte er wieder das Summen der großen Glitzervögel. Es wurde lauter, also kamen die nun auch hierher. Während er das Fell sorgsam ordnete, stellte er fest, dass er hungrig geworden war. Frauchen gab ihm um diese Zeit manchmal Zermatschtes. Das war zwar nicht sonderlich lecker aber bequem. Würden ihm diese Zweibeiner hier bald dergleichen durch die Gitterstäbe schieben?
Er schaute sich um - nichts geschah. Obschon seine Nase nicht mehr die allerbeste war, konnte er in diesem Heuschober, in dem er mit den merkwürdigen Fellpfotlern Unterschlupf gefunden hatte, nicht nur den Geruch von Korn und feinen Gräsern ausmachen, sondern auch den leckerer, kleiner langschwänziger Quietschdinger.
Hmmmm, hier gab es also viele davon und zwar in allernächster Nähe. Er schob seinen kräftigen Riecher zwischen die Stäbe, doch dann wurde er ärgerlich. Was dachten diese Stinketypen sich eigentlich? Die lagen jetzt alle mehr oder weniger laut schnarchend im Heu herum, obwohl jetzt das Nickerchen gar nicht mehr dran war! Jetzt war Jagen dran, sein Magen bewies ihm das deutlich! Aber die brachten ja grundsätzlich alles durcheinander, ach, ach, ach, er kannte das ja.
Munk hörte, dass die Glitzervögel nun ihre Kreise über diesem Städtchen zogen. Erst ein Rauschen über den Dächern, dann das Landen kleinerer ‚Flugdinger’ und schließlich leise Befehle und das Knirschen von Kies, verursacht von vielen Stiefeln. Dann ein kaum hörbares Rufen fremdartig klingender Kehlen und dann... kam alles näher. Es war lebendig. Munks Ohren waren zwar etwas altersschwach, konnten aber trotzdem sehr gut Technik-Stimmen von den Lebendig-Stimmen unterscheiden.
Er fuhr zusammen, denn plötzlich erfolgten Tritte nebenan, und zwar gegen die Tür des Hauses, zu dem wohl dieser Heuschober gehörte. Eine ängstliche Frauenstimme war in diesem Hause zu hören und dann die eines Mannes. Sie fragten wohl den, welcher getreten hatte, nach irgendetwas.
Der kleine Stinkejunge, der neben Munk lag und zwar dicht an dessen Käfig gekuschelt, fuhr deshalb schwankend aus dem Schlaf hoch und mit ihm gleich seine Kameraden. Einer von ihnen trug eine Kette um den Hals und daran ein etwa katzenpfotengroßes Medaillon. Er drückte mit dem Daumen auf eines der Plättchen, die darin hell erleuchtet waren. Ein feiner, sehr heller Ton erklang, den nur Munks Tierohren wahrnehmen konnten und wieder kroch Nebel von allen Seiten herbei. Munk verstand nicht. Warum fabrizierten diese Stinkewesen immer wieder diese ekelhafte Feuchtigkeit?
Mit angehaltenen Atem horchten nun die komischen Zweipfotler im Schuppen auf das, was von draußen zu ihnen hereindrang. Zuerst wurde für ein Weilchen im Befehlston irgendetwas herum geschrieen, wogegen der Mann aus dem Nebenhaus wohl protestierte. Dann hörte man die Tür vom Nebenhaus plötzlich nieder krachen.
Munk fand das heisere Gebrüll und die vielen jagenden Schritte darin nicht besonders schlimm, obwohl sie irgendwie aggressiv klangen.
Doch leider entspannte es ihn nicht, denn die Stinketypen von hier drinnen kamen nun erst richtig in Fahrt. Sie platzierten sich nämlich jeder an irgendwelchen Ecken im Schober. Nur, weil im Nebenhaus noch mehr Krach gemacht wurde, der denen wohl mächtig Spaß zu bereiten schien. Denn ein weiblicher Zweipfotler kreischte jetzt dazu und nun knallte es richtig laut.
Munk verstand nicht, dass man hier drinnen darüber nervös werden konnte, denn ihn hatte solch ein bisschen Lärm noch nie gestört. Er war ja auch von Kindesbeinen an daran gewöhnt. Außerdem hatte ihm das bisher nie geschadet.
Er schnurrte darum etwas eindringlicher, doch seine Barthaare vibrierten, da jetzt ein heftiges Schimpfen zu hören war und wenig später überall Lärm in den Straßen des kleinen Städtchens erscholl. Schließlich wurde es ruhig. Der weibliche Zweibeiner, der vorhin am lautesten gewesen war, wimmerte jetzt nur leise.
Munk hörte - wenn auch ungern - mit dem Schnurren auf, da jetzt flinke Schritte zu hören waren, die näher kamen. Jemand lief weg, Richtung Schuppen! Und dann zuckte Munk wieder zusammen, weil es an der Türe rumpelte, da dieser jemand wohl zu ihnen hinein und die Tür aufreißen wollte.
Die Stinkewesen hielten aber von der anderen Seite her die Türe zu und flüsterten aufgeregt miteinander. Einer von ihnen hatte dabei etwas Unförmiges zwischen den Krallen und visierte damit die Türe an. Doch es prasselte abermals dort draußen und diejenige, welche eben noch hinein gewollt hatte, schrie laut und klar, aber dann verwandelte sich ihr Ton in eine komisches verzerrtes Ächzen. Sie warf sich noch ein letztes Mal gegen die Tür und rutschte dann an dieser langsam herunter. Sie krachte dabei - wohl mit dem Kopf - auf die Türschwelle des Heuschobers.
Nicht nur Munk roch jetzt Blut, auch die Fellwesen. Sie zitterten, als ziemlich schnell von unten durch die Türritze hindurch, eine tiefrote Lache zu ihnen durch sickerte.
Einige von ihnen schlichen nun rastlos durch den Schober, wechselten immer wieder ihre Positionen.
Munk war empört, hatten sie ihn etwa vergessen? Er konnte ja aus diesem Käfig nicht hinaus! Wie war er erleichtert, als er fühlte, wie er plötzlich doch noch hochgehoben wurde, auch wenn er dadurch fast auf die Schnauze fiel. Es war das Fellkind gewesen, das seinen Käfig ziemlich hektisch angehoben hatte und nun mit sich schleppte.
Munk hasste zwar Hektik, doch das Kind versteckte sich mit ihm sehr geschickt in einer Ecke des Schobers, hinter einem der mehr als drei Heuballen.
Munk horchte auf und blinzelte durch den dummen, bunt flirrenden Nebel, den sie andauernd um sich hatten. Nur noch der Stärkste der Felltypen wartete, dabei immer noch irgendetwas Komisches in den Händen haltend, gemeinsam mit einem Freund an der Tür.
Worauf wartete der ? Draußen war es inzwischen noch lauter geworden. Die fremdartigen Zweipfotler dort schienen wohl noch mehr Spaß zu haben. Munks feine Ohren vernahmen nicht nur wütendes Gebrüll, schrille Schreie und dazwischen immer wieder dieses Knallen, Zischeln und Rattern, sondern auch das Gezwitscher vieler kleiner Technik-Stimmchen und - das allerdings viel später - ein schleifendes Geräusch hinter der Tür, das sich langsam entfernte.


#


„Psst... hört ihr den Lärm aus der Ferne ?” fragte Margrit indes.
Alles nickte.
„In und um Hornberg scheint irgendetwas los zu sein ?” meinte auch Paul.
„Hört sich an wie bei einer Schlägerei !” krächzte Muttchen besorgt.
„Oh, Kacke!“
„Tobias!”
„Da hau`n sich`n paar, stümms ?” hakte Tobias trotzdem nach.
„Ach, ich mag keine Haue!” erklärte Julchen und strampelte in ihrem Kindersitz.
„Das ist hoffentlich nicht mehr als eine Keilerei!” mischte sich George ein, der schon die ganze Zeit sorgenvoll über die breite Schulter zurück geblickt hatte.
„Was könnte da bloß los sein ?” keuchte Muttchen atemlos. „Hört sich ja furchtbar an!”
„Stümmt.” Tobias krauste die Stirn und ließ den Blaui in seiner Hosentasche verschwinden.
„Wie dem auch sei, mein werter George, sie dürfen an uns vorbei !" krächzte Paul einigermaßen höflich und machte für den jungen Hünen Platz.
Doch dieser rührte sich nicht von der Stelle.
„Ja, du kannst in echt vor!” bekräftigte auch Tobias.
„Nicht nötig “, erwiderte der Riese bescheiden.
„Ich finde doch“, beharrte Paul etwas energischer, “denn diese Straße ist zum Teil stark beschädigt. Das ist nicht gut für Fahrräder. Sie brauchen viel Platz und dürfen daher vor uns nach oben!“
Paul grinste ihm ziemlich aggressiv zu und der wieder überaus freundlich zurück.
„ Ach, ich habe gar nicht gerne Leute im Rücken !“ gab George fast scheu zur Antwort und machte keinerlei Anstalten zu gehorchen.
Paul verzog nun sein Gesicht in offener Feindseligkeit.
„Wir haben aber auch nicht gerne welche hinter uns!“
„Wie wir uns ähneln!“ entfuhr es dem jungen Mann begeistert. „Ich finde Leute, die sooo seelenverwandt sind, sollten zusammenhalten!“
Margrit musste plötzlich kichern. „Ach, lass` ihn doch, Paul! He, Tobias, wirst du deiner Mama beim Hochschieben helfen ?”
Der Kleine nickte nachdenklich. „Aber Jule muss auch vom Rad“, setzte er ziemlich eifersüchtig hinzu.
„In Ordnung“, stimmte Margrit ihm zu.
„Nein, ich will nicht!” Die Kleine strampelte, kaum dass Margrit sie gepackt hatte. „Ich bin doch sooo müde!”
„Aber du musst!” beharrte Tobias hämisch grinsend.
Margrit wisperte ihr etwas ins Ohr und schon war das Mädchen hinunter. Nun begannen alle drei das Rad weiter aufwärts zu schieben.
„Wenn George unbedingt will“, erklärte Margrit wieder an Paul gewandt, „soll er doch mit uns kommen!”
Paul sagte daraufhin nichts mehr, ergriff die Koffer und lief einige Schritte hoch. Dann blieb er wieder stehen, entfaltete seine Karte, jedoch so geschickt, dass der Hüne, falls er von hinten kommen würde, kaum mit hineinschauen konnte. Er verglich prüfenden Blickes die gesamte Umgebung.
„Donnerwetter, da unten ist es ja noch lauter geworden!” quiekte Muttchen entsetzt.
„Geht das uns etwas an ?” murrte Paul.
„He, ich glaube da wird sogar geschossen ?” rief Margrit entgeistert und schaute blinzelnd hinunter.
„Ohne Sch... also in echt jetzt ?”
„Ganz in echt, Tobias!”
„Oh, ich mag nicht schießen !” schimpfte Julchen
„M... meint ihr wirklich ?” keuchte Muttchen und hetzte gleich etwas schneller den Hügel hinauf. „Ich denke doch, hier sind wir sicher?”
„Hier sind wir jedenfalls richtig“, bemerkte Paul knapp und die Karte verschwand wieder im Inneren seiner Weste.
„Wohin wollen Sie denn ?” fragte George, der sich immer noch an gleicher Stelle befand, wo er gehalten hatte.
War dieser Kerl etwa völlig blöd oder aus unerfindlichen Gründen einfach nur zäh?
„Das hat Sie nicht zu interessieren! Haben wir uns verstanden?!” Pauls dunkle Augen blitzten zu ihm hinunter.
„Paul!” Margrit schaute sich nach ihm kopfschüttelnd um. „Lass uns doch ruhig alle zusammen nach oben gehen. Hier gibt es so wenig Möglichkeiten, gut zu übernachten. Gewiss wird es kalt und er hat keine warmen Sachen dabei. ”
„Ihr solltet auf diese kluge Frau hören! Helft mir, dann werde auch ich euch helfen!” sagte der Riese, der sich nun endlich in Gang gesetzt hatte. Er schob dabei ziemlich elegant das Rad neben sich her. „Ich kenne mich hier nämlich recht gut aus!”
Paul wollte dem etwas entgegensetzen, zog dann aber den Kopf zwischen die Schultern ein. Der kannte sich hier also auch noch aus. Verdammt! Und irgendwie hatte er langsam keine Kraft mehr, sich ständig zu streiten.
„Du... du kennst hier alles ?” fragte jetzt Julchen, blieb stehen und zog dabei einen Faden aus ihrem Ärmel. „Ich kenne auch was hier. Die Mama und den Tobias und...“
„Hören sie, werter George oder wer sie auch immer sind“, fiel Paul der Kleinen nun doch ins Wort, „wir kommen sehr gut ohne Sie klar ! “ Er hauchte kurz über seine wehen Hände, ergriff sich die Koffer und stapfte weiter.
„Stümmt“, bestätigte Tobias und half wieder seiner Mama, das Rad etwas schneller nach oben zu schieben.
„Und wenn sie sich nun doch verlaufen ? ” zwitscherte ihnen der Riese trotzdem hinterher. „Vielleicht wollen wir ja alle zu demselben Ort.“ Er lenkte das Rad zur Seite, da ein Stein im Weg lag. „Denn viele gibt es hier eigentlich nicht, die für Menschen einigermaßen interessant wären.“
Das Rad quietschte dabei ganz besonders laut, aber man konnte ihn dennoch verstehen.
„Menschen sollten zusammenhalten, besonders in diesen grässlichen Zeiten!“
Paul schüttelte sich und Tobias warf ihm nicht nur einen verständnisvollen Blick zu.
„Der is ein ganz bepisstes Arschgesicht, stümms?“ flüsterte er hinter vorgehaltener Hand zu Paul hinüber.
„Stimmt, Tobias!“ Paul lachte ziemlich wild in sich hinein.
„Ist ihnen kalt ? " erkundigte sich die riesige, dunkle Gestalt, die nur sah, wie Pauls Oberkörper dabei bebte.
„Ja, so ein bisschen!“ murrte Paul. Himmel, wie wurde man den nur wieder los?
„Antworte diesem Penner doch einfach nicht!” wisperte Tobias. „Du bist viel zu nett zu dem Scheißer!” Und er schob nun das Rad so schnell, dass Julchen kaum noch mithalten konnte.
„Tobias!” fauchte Margrit. „Und misch` dich nicht immer ein!”
„Aber der mischt doch auch immer mit, stümms ?” verteidigte Julchen ihren Bruder und hielt an, sodass auch Margrit bremsen musste.
„Stümmt“, bestätigte Tobias mit gefurchter Stirn. „Los, Jule, wir rennen! “


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Munk war inzwischen sehr ernst geworden, die Schnurrhaare hingen ihm zu beiden Seiten herunter. Was eben alles passiert war! Er musste sich setzen und das viele erst einmal verarbeiten.
In der Zeit, als es besonders laut draußen im ganzen Städtchen gewesen war, hatte Munks Fellkind ein etwa handgroßes Loch in der morschen Holzwand des Heuschobers hinter sich entdecken können. Der stärkste der Stinketypen hatte daraufhin zu Munks Überraschung - und zwar immer dann, wenn es draußen so richtig doll ratterte und rumorte - mit seiner Pranke ein so großes Loch in die Rückwand des Schobers gebrochen, dass sie alle wenig später durch dieses hindurch ins Freie schlüpfen konnten.
Der Heuschober stand in der Nähe eines kleinen Wäldchens, worin sich die kraushaarigen Felltypen mitsamt Munk dann verdünnisiert hatten und dort, wieder vom Gestrüpp verdeckt und von dem komischen Farbnebel umhüllt, weitergeschlichen waren.
Dabei mochte das Fellkind dann vor lauter Müdigkeit gestolpert sein - war ja klar, Zweipfotler wussten nie, wann es Zeit war Nickerchen zu halten - und dabei so heftig gegen den Käfig gekracht, dass sich dessen Drahtgestell von dem Boden gelöst hatte.
Munk hatte diese Situation geistesgegenwärtig genutzt und war ohne langes Nachdenken einfach davon gezischt, noch ehe ihn die stinkigen Arme hatten packen können, und das Kind hatte darüber so schrecklich geweint, dass ihm einer der Felltypen den Mund zuhalten musste. Und nun?
Nun saß Munk inmitten einer kleinen Wiese hinter einem Hügel, starrte skeptisch auf dieses Loch und spreizte - wohl nun schon zum dritten Mal - die Schnurrhaare.
War das nun ein Loch, welches leckere, langschwänzige Quietschebällchen mühsam gebaut hatten oder?
Es durfte nämlich keines der größeren Quietschlinge, die zum Beispiel auch in Kanalrohren ihr Dasein fristeten, sein, denn die waren gefährlich, weil sie so angriffslustig waren und auch Krankheiten verbreiteten. Das wusste er noch von seiner Mutter.
In der Ferne hörte er jetzt ein Grollen. Wahrscheinlich zog ein Gewitter auf.
Hach, wer wusste denn schon, ob diese großen Quietscher wirklich so ungenießbar waren? Seine Schnurrhaare waren jetzt steil erhoben. Er hatte großen Hunger und weit und breit war kein Winzloch zu sehen!
Das Rumpeln nahm in der Ferne zu. Aber das störte ihn nicht. Stattdessen duckte er sich und legte sich im hohen Grase auf die Lauer.
Aus der Ferne rumpelte es jetzt noch doller. Aber er nahm das kaum noch wahr.
Keines seiner Schurrhaare zuckte, er war fest entschlossen sofort auf die nächstbeste Ratte zu springen, sobald sich die nur zeigte !


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„Da sie nach Reichenberg wollen oder zumindest in die Nähe von Würzburg, begann indes der Hüne ein wenig zu hastig, „haben wir denselben Weg! Wir können also tagelang zusammenbleiben, was recht günstig ist!“
Auch noch tagelang, Peng! Paul fuhr zusammen. Wenn dieser Halunke ein Hajep war, konnte das tatsächlich recht günstig für ihn sein. Darin war ihm wirklich nicht zu widersprechen! Paul pustete nochmals in die Hände, bewegte die geschwollenen Finger, dann drückte er vorsichtig das Kreuz durch. Oh, tat das weh! Die Länge hatte wirklich die Last! Er räusperte sich.
„Nun“, brummte er mit möglichst ruhiger Stimme, „wie ich schon sagte, ich halte es doch für besser, wenn jeder seiner eigenen Wege geht. Wir haben vor, einen besonderen zu laufen, den wir - entschuldigen Sie - ihnen nicht unbedingt verraten wollen. Außerdem ist es wegen der Hajeps nicht gerade klug, größere Gruppen zu bilden. Was Sie ja, wo Sie sich so intensiv mit außerirdischem Gesumse beschäftigen, gewiss schon lange wissen.“
Er gab sich einen Ruck, bückte sich und hob erneut die schweren Koffer an, ohne dem jungen Mann auch nur einen weitern Blick zu schenken.
George sah zu Boden, während er sein Rad weiterschob. Es quietschte dabei leise aber ausdauernd. Der Körperhaltung des unheimlichen Fremden war anzumerken, dass ihm diese Antwort überhaupt nicht zu behagen schien. Als er aufschaute, ruhten seine grünen Augen für ein Weilchen auf Margrit.
Tobias, der das bemerkte, stieß jetzt mit seinen kleinen Händen Margrits Rad so schnell vorwärts, dass Julchen, die ja mit festhielt, hinschlug.
„Tobias!” schimpfte Margrit. „Jetzt reicht`s aber!“ Sie nahm das schluchzende Mädchen auf den Arm.
Doch Tobias zeigte keine Reue, sondern warf nur einen wütenden Blick auf den Kerl hinter sich, so als würde der Schuld dafür tragen.
In diesem Augenblick ertönte plötzlich ein unheimliches Donnern aus der Ferne.
„Still!“ keuchte Margrit mit angehaltenem Atem. „Hört Ihr nicht auch dieses Rumpeln? Ich glaube von unten zieht ein Gewitter herauf.”
„Aber... es kommt schon wieder von Hornberg?"quiekte Muttchen ängstlich und sah den Weg hinunter.
„Ohne Sch...?” Tobias Tränen waren schlagartig versiegt.
„Ich... ich mag kein Rumpeln!” Julchen schnäuzte sich in den Ärmel.
„Was für ein Rumpeln?“ platzte die Stimme des unheimlichen Hünen dazwischen. Er war ebenfalls stehen geblieben.
„Ach, das geht Sie gar nichts an !” fauchte Paul zu ihm hinauf.
„Verfickte Scheiße!“
„Tobias!“
„I... ich höre es jetzt nämlich auch!“ zischelte Tobias.
„Auweiiiiaaah!“ Über Julchens Wange kroch schon wieder eine Träne, denn das Getöse hatte sich augenblicklich verstärkt. Das Tal erbebte und plötzlich auch der ganze Weg, den sie empor gelaufen waren. Und nun erscholl ein ohrenbetäubenden Knall. Dieser brach sich an den Hängen des Gebirges, vor dem sie sich befanden.
Der kleine Trupp, war nicht nur augenblicklich wie betäubt, sondern auch wie gelähmt.
Schließlich wurde es ruhiger, polterte nur noch ein wenig und dann war Stille.
„Seht ihr dort hinten ?” wisperte Margrit als erste entsetzt.
„Auweeiiiiaaah! “ schluchzte Julchen schon wieder.
„Kacke, Kacke, echte Kacke, Hornberg brennt!” kreischte Tobias.
„Oh Gott, oh Gott, überall Feuer ! ” stöhnte Muttchen.
„Welche Flammen ... gewaltig! “ stellte auch der Hüne entgeistert fest.
„Da haben wir die Bescherung!” ächzte Paul. „Unsere außerirdischen Eroberer sind also doch hier! Und wer hat euch das schon immer gesagt, wer?”
„Du, Paul. Aber ich kann es immer noch nicht fassen!“ Muttchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie haben das gesamte Städtchen - wutsch - mit einem Male einfach nur so in die Luft gesprengt!”
„Die... diese gemeinen Ärsche!” schluchzte Tobias. „Die haben Hornberg so richtig in die Kacke geritten!”
„Tob...“, setzte Margrit an, brach dann aber ab. „Du hast ja Recht!”
„Oh, ich hasse P...pinnen !” wimmerte Julchen.
„Kreuzspinnen!” verbesserte Tobias sie und zog den Schnodder in die Nase hoch.
„Oh, mein Gott“, jammerte Muttchen, „was für eine Gewalt, was für ein Verbrechen, was für ein Knall! Mir klingen noch immer die Ohren!”
„Da oben!” rief der junge Hüne und hob den Zeigefinger. „Und da! Und dort! Und da hinten! Seht ihr die vielen kleinen Gleiter? Als ob es ein Schwarm Fliegen wäre!“
Er schwang sich über das Rad, stützte es mit den Beinen und ließ den Rucksack in höchster Eile von der Schulter gleiten. „Sie suchen bestimmt ihre Mutterschiffe!” Fieberhaft wühlte er in seinem Sack, holte das Fernrohr hervor und schon hatte er es vor den Augen. „Und es sind tatsächlich diesmal Loteken gewesen!”
„Diesmal?” kreischte Muttchen. „Wollen Sie damit sagen, die machen hier so etwas öfter?”
„Natürlich will er das damit sagen!“ knurrte Paul. „Schließlich weiß der Lümmel Bescheid!”
„Du meine Güte“, ächzte Muttchen. „Was ist denn das? Das Feuer fabriziert ja eine Unmenge Rauch! “
„Tatsächlich“, keuchte Margrit, „das wird ja eine geradezu unglaublich große Wolke ?”
„Wolke ?” wiederholte der George verdutzt und kneistete immer noch sehr aufgeregt durch sein seltsames Fernrohr. „Tatsache! Aber sie scheint mir irgendwie lebendig zu sein.”
„Lebendig ?” wiederholte Margrit skeptisch.
„Tun Sie nicht so erstaunt!” knurrte Paul. „Sie wissen doch im Grunde ganz genau, was hier passiert!”
„Huhu - huuuuh! Ich mag nicht lebendige Wolken!” schluchzte Julchen los.
Noch immer kreisten einige Gleiter am Himmel, direkt über jener großen, grauen Wolke, die vom Tal her inmitten beschaulicher Wälder fett und wulstig empor kroch, und sich ausbreitete wie ein stetig wachsendender, unheimlicher Flaschengeist.
Erst lief die Familie deshalb schneller und schaute sich nur ab und zu um, doch dann musste sie erkennen, dass alles, was hinter ihnen lag, inzwischen vollständig in Nebel versunken war. Man konnte die Straße, welche hinaufführte, überhaupt nicht mehr sehen, stattdessen befand sich dort eine graue Wand, in der nur verschwommene zuckende Lichtpunkte andeuteten, dass wohl einige Häuser von Hornberg noch immer brannten. Und der dunstige Schleier arbeitete sich vorwärts, schien schneller zu werden als die kleine Meute, die ihm zu entkommen suchte, denn man konnte ihn bereits riechen. Es war ein eigenartig süßlich-chemischer Geruch, der in der Luft lag, und Tobias war der Erste, der deshalb niesen musste.
„Verfickte Kacke, was ist das, Mams ?” fragte er.
„Das ist Giftgas, stümms!” krächzte Julchen kreidebleich. „Oh, ich mag kein Giftgas!“
„Ach Unsinn, Jule, das ist nur Rauch!” Margrit ließ das graue Gespinst jedoch nicht aus den Augen, welches sich über den Erdboden wand, als wäre es tatsächlich etwas Lebendiges, das nach ihren Füßen zu haschen suchte.
„Der ist nicht lebendig ?”
„Quatsch!”
Trotzdem liefen jetzt alle drei wesentlich schneller. Paul kam wegen der beiden Koffer nicht so gut voran, was wiederum Muttchen etwas tröstete, die es ein wenig ängstigte, dass sie so langsam war. Der junge Riese hingegen, der Margrit ziemlich hurtig hinterher gelaufen war, hielt plötzlich an. Nebel kringelte sich dabei nicht nur um die beiden Reifen seines Rades und suchte die Speichen ab, sondern auch um seine langen Hosenbeine bis hinauf zu den Knien.
George schüttelte darüber nur den Kopf und blickte wieder zurück durch sein komisches Fernrohr.
Paul stiefelte, ebenfalls von waberndem Dunst umkreist, zu ihm empor. Muttchen folgte ihm leise schnaufend, dabei immer wieder über die Schulter zurückblickend. Ihr stand der Nebel fast bis zum Hals.
„Und was sehen Sie ?” fauchte er verdrießlich, weil er sich ärgerte, dass er nun von diesem Angeber abhängig war.
„Ein lotekisches Trestin.”
„Ein Kampfflugzeug?” Paul stellte die Koffer ab und rieb sich die schmerzenden Finger, um welche sich ganz allmählich hauchfeiner Nebel schlang. „Und ich“, er nieste kurz, „bemerke nur Staub. Wohin fliegt es ?”
„So wie es im Moment ausschaut, nehme ich an, Richtung Askonit...”
Muttchen war etwas langsamer geworden und hatte erst jetzt die beiden erreicht. Der Nebel kroch ihr dick und fett hinterher, wie eine vollgefressene Schlange. „Also nicht hierher?” fragte sie und konnte nicht verhindern, dass ihr dabei das Kinn zitterte.
„Richtig!” Der Bursche nickte. „Doch wirkt es ein wenig ziellos...”
„Askonit? Wer hat mir denn neulich davon erzählt ? Klar, die Frau mit dem Spitz!”
„Und was hilft dir das?” bemerkte Margrit von oben.
„Na, hör mal, Askonit, Zarakuma... das sind doch alles Wohngebiete unserer lieben Außerirdischen! Jetzt weiß ich zumindest, dass es wohl doch besser gewesen wäre, in Berlin zu bleiben!” Er schlug mit einer hilflosen Geste nach den Nebelschwaden. „Aber meine liebe, gute Margrit wollte ja unbedingt hierher! Dabei sind die Hajeps längst auch hier!“
„Loteken sind doch Hajeps, oder wieder nur so ein komisches Sklavenvolk ?” wandte er sich an George.
„Es ist eine Gruppe Hajeps, die sich von den übrigen Hajeps abgespalten hat und sich deshalb Loteken - Freie - nennt!“ erwiderte der Bursche. „ Ha, da ist ja noch ein zweites Mutterschiff! Hier ist im Übrigen hajeptisches Gebiet. Sie haben die Gebiete nämlich aufgeteilt, um Streit zu vermeiden!”
„Dann scheinen sie sich wohl gegenseitig nicht besonders grün zu sein“, feixte Paul. „Sowas hab´ ich ja noch nie gehört! Komm Muttsch! Wir müssen weiter!“ Paul ergriff sich die Koffer. „Die Wolke da hinten wird nämlich immer dicker und dieser Teil sollte uns besser nicht einholen!”
Muttchen gehorchte und trottete ihm hinterher, an George vorbei. „Und was macht nun dieses Tres...äh...Trestine ?” wollte sie trotzdem noch ganz schnell wissen.
„Eine weitere Runde. Ich vermute, dass sich noch nicht sämtliche Gleiter versammelt haben und dass es deshalb hier wartet!”
„So mitten am Himmel ? Und dann fliegen sie nach äh...?”
„Askonit. Ich hoffe sie tun´s und landen nicht hier in der Nähe! ”
„Oh nein, bloß nicht!” ächzte Muttchen verzweifelt.
„Komm endlich, Muttsch !” gemahnte sie Paul abermals und setzte noch hinzu : „Grässlich fette Wolke, ich befürchte das Schlimmste!”
„Was ist das Schlimmste, Mamms?”
„Öööh... gar nichts, Tobias!” Margrit blinzelte, während sie noch schneller wurde, in die Wolke hinter ihnen. „Die Häuser von Hornberg haben eben fast alle gebrannt und das erzeugt halt viel Rauch!”
„Du meine Scheiße!“ ächzte Tobias und wischte sich über die triefende Nase.
„Und ich mag trotzdem keine dicken Wolken, nööö!”
„Wollen wir nicht doch lieber das Rad liegen lassen und abhauen ?” Tobias zog seine Mama am Hosenboden.
„Ja, ich mag abhauen!” Julchen versuchte alleine das Fahrrad weiter hochzuschieben, was ihr natürlich nicht gelang, zumal sich Tobias dagegen stemmte.
„Nein, du wartest”, knurrte er, „bis die Mama auch etwas dazu gesagt hat!”
„Hm, wir haben doch keine Angst vor dieser lächerlichen Wolke, Julchen!” wisperte Margrit, die sich inzwischen ihrer ausweglosen Situation voll bewusst geworden war, denn sie würden nicht schnell genug sein. „Ihr wisst doch, Hajeps schonen die Natur!" Das sagte sie nicht nur, um ihre Familie, sondern auch um sich selber zu beruhigen. „He, Kinder, bindet euch alle euern Schal vor den Mund und dann wandern wir einfach weiter, und zwar ganz ruhig und ohne jede Angst, damit wir nicht zu tief und zu schnell atmen, klaro?“
„Huuuu, verfickte Kacke. Ich... ich hab` aber trotzdem Scheißangst!“ heulte Tobias los.
„Ich... ich auch!“ schluchzte Julchen.
„Aber Kinder, ihr braucht doch keine Angst zu haben vor diesem blöden Nebel! Der ist schnell an uns vorüber. Seht ihr, hinten wird er schon dünner und... ich bleibe sogar stehen!“
„ Mamms, nein! Tu `s nicht!“ schluchzte Tobias.
„Aber mir passiert doch gar nichts! Seht doch, über mir in der Fichte, da sitzt sogar immer noch eine dicke Amsel!“
„Wo?“ Tobias wischte sich mit dem Ärmel die Augen trocken.
„Was gibt es alles für Tiere im Wald? Wer weiß es, na-ah?“
„Den Fuchs!” rief Julchen und zitterte trotzdem, weil der undurchsichtige Nebel inzwischen nicht nur Muttchens Hüften, die etwas tiefer unter ihnen lief, sondern auch Pauls und erst recht die des unheimlichen George verschlang, und auch, weil er sie selbst zu verschlingen begonnen hatte.
Pauls Gesicht, das aus dem Wolkenberg noch herausragte, wirkte entgeistert, als er zu ihnen emporblickte.
„Und welche Tiere kennen wir noch?” fragte Margrit weiter und verzog ihren Mund dabei zu einem möglichst heiteren Schmunzeln.
„Du... du hast keine Angst, stümms?” krächzte Julchen, die bemerken musste, dass sich der düstere Nebel nun bis zu ihrer kleinen Schulter hinaufgeschwungen hatte.
Paul hatte jetzt die Nerven verloren, einfach die Koffer liegen lassen, und auch Muttchen rannte, wenn auch schwankend, ja, sogar der junge Bursche flüchtete in heller Panik. Alles jagte nach oben und an Margrit vorbei. Immer weiter hoch! Doch wohin? Konnte man einer Vergiftung entkommen indem man wegflitzte ? Ihre Herzen schlugen wie rasend und sie keuchten und husteten entsetzlich.
Immer höher schlich der graue Schleier. Mit flackernden Blicken suchten ihre Augen die gesamte Umgebung ab. Doch wonach? Konnte man sich vor aufsteigenden Gasen verstecken ? Muttchen mühte sich, trotz ihrer alten Knochen einen Hügel zu erklimmen, aber vergeblich! Dann suchte sie einen Busch auf, um sich zumindest dahinter zu verbergen. Sie hustete in einem fort. Paul hatte sich indes nicht nur Schal sondern auch Weste und Hemd vom Körper gefetzt. Er band sich alles vor den Mund und erstickte fast daran.
Der junge Hüne hingegen war sehr sportlich gewesen und hing hustend und niesend hoch oben an einer Felszacke, weiter kam er nicht.
Paul hörte, dass Muttchen hinter ihrem Busch schluchzte, während ein Hustenanfall sie halb erwürgte aber er hörte auch Tobias helle Knabenstimme von tief unten.
„Es gibt im Wald den Hirsch“, hustete der Kleine, „und das Reh!” Er stand dicht bei seiner Mutter und legte die Arme um ihre Beine, als könne er sie dadurch beschützen.
Paul dachte nach. Tobias war doch sonst immer so ein Feigling. Stattdessen kauerte er hier in Panik. Die Augen tränten ihm, als er sein Versteck verließ, und noch mehr, als er zu ihnen hinunter taumelte. Er stellte sich hinter Tobias, legte buchstäblich seinen Körper über ihn, als ob er ihn und die anderen beiden dadurch vor dem beißenden Rauch schützen könnte.
„Und es gibt auch noch den Habicht”, hustete Paul, „ und die Wildkaninchen!”
Tobias schaute zu ihm empor und lächelte, während er weinte.
„...und die Wildkatze !” hörte man plötzlich Muttchen, die ebenso hinzugekommen war und nun ihre Arme um alle legte.
„...und Rebhühner !” erklärte der junge Hüne. Und so drängten sich alle eng beieinander.

„Ich möchte wetten, selbst Loteken wollen“, schniefte Margrit, „wegen all diesen Tieren und vielen Pflanzen, die hier leben, nichts riskieren, ja, selbst das geringste Risiko ausschalten. Diese Wolke kann daher auch nicht für uns schädlich sein.“
Da begannen schließlich alle zugleich zu husten und sie husteten sich halbtot ... aber eben nur halb! Denn es dauerte nicht lange, und die Wolke wurde wieder dünner und begann sich aufzulösen
„He, was ist mit euch? Steht nicht so rum wie die Ölgötzen!” krächzte Paul und lachte, kaum dass das Licht der Sonne wieder durch den grauen Dunst schimmerte und er wieder normal atmen konnte. Die anderen lösten sich vorsichtig aus ihrem engen Kreis und sahen sich blinzelnd und freudig erregt um. Sie hatten tatsächlich überlebt!
„He, Margrit“, George tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch ab, nachdem alle anderen, außer Margrit und Julchen, die angebotenen Tücher abgelehnt hatten, „sie sind doch Psychologin, nicht wahr ?”
„Ja, aber warum fragen Sie das immer wieder ?” entgegnete Margrit verwirrt und putzte ihre Brille mit ihrem Taschentuch.
„Nun, das war nicht nur eine brillante Einschätzung unserer eigenen Situation, sondern auch eine geistesgegenwärtige Handlung, um das alles ohne Schaden zu überstehen. Und wissen Sie was? “ Er schnäuzte sich genüsslich die Nase, ehe er weitersprechen wollte.
Diesen Moment nutzte Margrit prompt. „Nein, aber bevor Sie mich hier noch überschwänglich weiterloben, darf ich Ihnen verraten, dass das überhaupt nicht bewusst kalkuliert worden ist. Es hat sich einfach nur ergeben!“
„Trotzdem haben Sie dabei vollkommen richtig gedacht!” Er verstaute sein Taschentuch in der Hose. “ Und genau solche Leute wie Sie sollte man einsetzen.“
„Wozu ?”
Er holte tief Atem. „Bei einem... hm... sonderbaren Kampf! Nämlich Geist gegen Geist! Hm... äh... naja, das ist vielleicht nicht zu verstehen, aber Sie werden gebraucht...”
„Ja, von meiner Familie!”
„Es gibt gewiss Wichtigeres als diese Familie !” sagte er geringschätzig.
„Nein, gibt es nicht!” fauchte Tobias anstelle Margrits.
„Und ich will jetzt dein Taschentuch nicht mehr haben!“ Julchen pfefferte George dasselbige vor die Füße.
„Julchen“, stotterte der verlegen, „sieh, das ist so....“
„Nein, ich hör´ dir nicht mehr zu!“
„Brav, sehr brav, meine Kinder!“ lobte Paul die Kleinen und dann zog er seine Margrit zu sich heran, küsste sie auf den Mund und knurrte: „Margrit weiß, was sie will – nämlich bei uns bleiben!“
„Ich würde mir da nicht so sicher sein“, konterte der Bursche und seine grünen Augen blitzten die kleine Schar dabei seltsam, ja fast tückisch an. Dann holte er sein Fernrohr hervor und sah damit den Weg hinunter.
„Gründliche Arbeit“, brummte er fassungslos. „Chiu-Natras Jäger haben Hornberg tatsächlich dem Erdboden gleich gemacht! Oh- oh! Das wird den guten Sotam-Sogi aber gar nicht erfreuen! Sollte mich nicht wundern, wenn hier gleich diverse hajeptische Kampfflugzeuge am Himmel erscheinen werden, um den Loteken für diese Untat mal gründlich den Hintern zu versohlen!“
Er lachte nun merkwürdig in sich hinein, während die kleine Familie, nachdem sie Rad und Koffer wieder ergriffen hatte, langsam weiterging.
„Ist er nun ein Hajep oder nicht?“ erkundigte sich Muttchen ziemlich verwirrt bei Paul, mit dem sie zusammen an der Spitze voran lief. „ Oder.... ob ich ihn mal frage?“
„Nein, Muttsch, das lass mal hübsch bleiben!“
„Warum?“
Paul überhörte die Frage einfach und zog stattdessen das Tempo ihres kleinen Trupps etwas an, um es Muttchen zu erschweren, unpassende Fragen zu stellen. Und vielleicht gelang es ihnen ja sogar, diesen George abzuhängen, so beschäftigt wie der im Moment war. Doch zu seinem Ärgernis hatte der soeben seine Beobachtungen abgeschlossen und trat kräftig in die Pedalen, um sie einzuholen. Schon war er wieder bei ihnen.
„Gut, dass sie gerade da sind“, zwitscherte Muttchen eifrig, „da kann ich sie ja gleich mal was fragen...“
„Nein, das fragst du ihn nicht!“ zischelte Paul aufgeregt zu ihr hinüber.
„Paul, du weißt doch gar nicht, was ich fragen will!“
„Doch, weiß ich, und darum hältst du den Mund!“
„Sind Sie...“
„Nein, Muttsch!“
„Sind Sie..“
„Neiiiiin!“ kreischte Paul entsetzt.
„Ist er immer so nervös?“ wandte sich der Hüne irritiert an Margrit.
„Nein, ich weiß auch nicht, was er heute hat.“
„Sind sie sicher, dass es tatsächlich nur Loteken waren, die das alles angestellt haben?“ brachte Muttchen nun endlich ihren Satz zuende und Paul atmete hörbar aus.
„Da bin ich ganz sicher“, antwortete George bereitwillig.
„Aber warum haben sie das getan?“
„Sie müssen sich aus irgendeinem Grund über die Menschen dort geärgert und dementsprechend reagiert haben.“
„Sie schildern das vielleicht in einer kalten Tonlage!" empörte sich Muttchen. „Sie sind doch so ein adretter junger Mann, aber das berührt Sie wohl gar ... aber, da ist ja Munk!”
„Munk ?” wiederholten der Hüne verdutzt.
„Unsinn!” knurrte Paul. „Du hast dich sicher verguckt, deine Augen sind nicht mehr die besten!”
„Ich habe gute Augen für mein Alter! Oh, Munk, Munk! Mein bester mein allerschönster Munk ist wieder da!”
Alle spähten umher, konnten jedoch nichts entdecken.
„Ich glaube die nervlichen Belastungen werden inzwischen meiner Mutter zuviel”, wisperte Margrit zu Paul mit besorgter Miene, „ denn jetzt sieht sie schon Dinge, die es hier gar nicht geben kann! Du weißt, ich kenne mich da aus!”
Paul nickte verdrießlich.
„Nanu ? Wo ist er denn jetzt?” kreischte Muttchen verzweifelt. „Munk Mu-unk! Wo bist du nur, mein Schnuckelchen... wo bist Du-huuu?” Sie reckte den mageren Hals, hielt Ausschau nach allen Seiten.
„Ach, was huscht einem nicht manchmal so alles mal vor der Nase herum“, mischte sich jetzt auch George wieder ein und wedelte dabei ziemlich nervös eine Fliege fort, „und dann ist es -husch- wieder weg! Da machen wir uns nichts draus, gelle?“
„Ich mache mir aber viel draus ... aus Munk! Und habe ihn wirklich gesehen“, beharrte Muttchen engstirnig und stampfte sogar dabei ein bisschen mit dem Fuß auf.
Paul ächzte herzzerreißend. Wie gut, dass wenigstens er in dieser verrückten Gruppe der einzig Normale war! Und weiter schleppte er seine Koffer.
„Hör` mal, Mutter!” rief Margrit in einem ruhigem, aber auch recht energischen Ton. „Das kann nicht dein Kater gewesen sein, was du gesehen hast. Das geht einfach nicht, verstehst du ?” Ihre Augen klimperten nervös.
„Er ist ja auch nicht gegangen sondern gehuscht!” verbesserte sie Muttchen sehr richtig.
„Das meinte Margrit damit natürlich nicht“, unterstützte sie Paul und seufzte noch lauter, da er jetzt vom vielen Schleppen Schmerzen bis hinauf zu den Schultern hatte. „Sie meint : Wie soll es dein Munk, wenn er aus dem Fenster des Zuges gesprungen ist, diese vielen Kilometer auf seinen kleinen vier Pfoten bis hierher geschafft haben - und vor allem so schnell?”
Das leuchtete Muttchen - wenn auch ungern - irgendwie ein. Dennoch hörte sie nicht auf, in jedem Felsspalt, der sich nur in ihrer Nähe befand, nach ihrem Kater zu suchen.


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Munk war brüskiert. Er hatte sich vorhin wegen der lauten Stimmen hinter einem Felsbrocken versteckt, zwar waren ihm diese Stimmen irgendwie vertraut vorgekommen, aber es konnte ja nicht sein, was er sich da erträumte, mit der Ratte hatte er sich ja schließlich auch verschätzt und dann ... oh nein... sein kleines Katerherz blieb fast stehen ... packten ihn einfach zwei Hände von hinten grob unter die Achseln, als er gerade Muts genug gewesen war, hinter seinem Felsbrocken hervorzukommen, um auf das Eiligste weiterzuflitzen. Nun hing e, wieder mal schwanz-abwärts und mit allen vier Pfoten in der Luft. Sollte er nun zuerst kratzen und dann beißen oder umgekehrt ? Eine schwere Entscheidung. Sein Katerhirn arbeitete wieder einmal fieberhaft und das einzige, was sich natürlich dabei an seinem Körper bewegte, war die fleißige Schwanzspitze.


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„Ich hab` ihn, ich hab` ihn!” jubelte Muttchen. „Hab` meinen Munk wieder, hab` s euch ja gesagt!” Sie hielt den Kater mit beiden Händen hoch und drehte sich selig mit ihm im Kreise herum.
„Hab` s gewusst ...gewusst... gewu..uuusst!” triumphierte sie.
Alle machten große Augen, einschließlich Munk, denn sie konnten sich das nicht erklären, dafür aber umso eifriger Muttchen.
„Das war natürlich die mentale Verbindung!” belehrte sie ihre immer noch fassungslose Familie. „Ich habe an Munk geglaubt und er an mich!“ Sie senkte die Arme und küsste ihn von oben mitten auf die breite Stirn und er kniff deshalb die Augen zu zuckenden kleinen Schlitzen zusammen. „Außerdem haben Katzen einen besonderen Instinkt!” schulmeisterte sie eifrig, ließ aber den Kater nicht mehr hängen, sondern nahm ihn auf den Arm. Das gefiel Munk freilich besser und er begann zu schnurren. „Und sie haben auch einen hervorragenden Ortssinn!” fuhr Muttchen weiter fort. „Sie laufen riesige Strecken, nur um zu ihren Menschen zu gelangen. Sie haben auch einen fantastischen Geruchssinn... Hach! Bestimmt hat Munk die ganze Zeit meine Spur verfolgt.”
Muttchen war jetzt gerührt und es tropften deshalb reichlich viel Tränen in Munks Fell, ihm genau zwischen die Ohren, weshalb Munk zuerst mit dem Schnurren aufhörte, dann verdrießlich dreinschaute, und schließlich wie wild den Kopf ausschüttelte.
Muttchen bückte sich, öffnete den Käfig, den sie neben sich auf die Erde gestellt hatte, und diesmal kroch Munk zu ihrer Überraschung freiwillig hinein!
‚Endlich daheim!’ schnurrte er. Ach, er war ja so glücklich, als sich die Drahtgittertüre hinter ihm schloss und wenig später rollte er sich auf seinem Deckchen nett zusammen, schließlich war längst wieder Zeit, ein Nickerchen zu halten. Zwar begriffen Zweipfotler das nie, aber diesmal störte ihn das nicht im geringsten und obwohl der Käfig schon wieder hin und her schwankte und er immer noch hungrig und völlig verdreckt war, summte er sich selig in den Schlaf, während die kleine Familie sich weiter tapfer ihren steilen Weg in die Berge hinauf kämpfte
„Oh Gott, der Anblick eines ständig schwer schleppenden Menschen nervt mich allmählich!“ beschwerte sich George nach einer Weile, da er schon ein paar Mal angeboten hatte, einen der Koffer auf sein Fahrrad zu nehmen, Paul sich aber beharrlich weigerte, dieses Angebot anzunehmen
„Das müssen gerade Sie sagen, ha! Wo Sie hier am meisten nerven!“ keuchte Paul. „Verschwinden Sie, dann müssen Sie den Anblick eines schleppenden Menschen nicht mehr ertragen!“ Er betrachtete den Jungen bärbeißig. „Im übrigen habe ich diesen Weg bisher ganz gut ohne Rad geschafft, also kann es so auch weitergehen.“
Abermals hob er die Koffer an, zügig lief er vorwärts, obwohl er schrecklich keuchte.
Trotzdem gab George nicht auf. „Für nur zwei Ventile aus ihrem Ersatzteilbeutel, Herr Ladeburg! Na-ah, wie wär`s?“
„ Nein!“ fauchte Paul. „Ziehen wir jetzt jeder unseres Weges, so wie ich es vorgeschlagen habe! Das wird das Beste sein!“
„He, meint ihr denn wirklich, dass es das Beste ist?“ vernahm er jetzt von hinten eine weitere, jedoch völlig unbekannte Männerstimme. „Dazu würde ich euch auf keinen Fall raten! Es ist nicht gut, wenn man sich in diesen schrecklichen Zeiten trennt!“
Alle, einschließlich George, drehten sich erstaunt, ja fast erschrocken um. Die Stimme hatte sehr erregt, aber auch matt geklungen und das Bild, das sich nun der kleinen Gruppe bot, bestätigte den Eindruck des Gehörten. Da taumelte nämlich ein zu Tode erschöpfter Mann den Weg zu ihnen empor.
„Haltet zusammen!“ keuchte er aufgeregt. „Menschen sollten immer zusammen halten!“
Sein Blick wirkte gehetzt - fast irr! Panik spiegelte sich in dem aschfahlen Gesicht wieder. Der etwa dreißigjährige Mann bebte am ganzen Körper und das Rote an seiner Brust war ganz gewiss kein Muster in der alten, abgewetzten Strickjacke.
`Blut!` durchfuhr es Margrit erschrocken, dann verzog sie skeptisch ihr Gesicht. Der Mann kam bestimmt von dort wo einst Hornberg gestanden hatte. Was war aber, wenn sie einen Bajit, einen gut getarnten Loteken vor sich hatten?
„Nehmt mich mit!“ bettelte der Mann verzweifelt.
Irgendwie hatte er kalte Augen. Und seine ganze Art .... war die nicht irgendwie künstlich? Außerdem roch er stark nach diesem komischen, süßlichem Gas.
„Warum zögert ihr?” ächzte er. „Ihr könnt mich denen doch nicht einfach überlassen. Die ... die sind sicher hier gelandet!” Er wies nach rechts, wo hinter kleinen Hügeln hohe Buchen, Fichten und Tannen einem die Sicht versperrten. „Denn einige von“, er schluckte, „denen suchen ja noch immer den ganzen Wald ab. Weiß der Himmel wonach!“
„Langsam, langsam!“ George streckte ihm die kräftige Hand entgegen. „Die sind also hier in der Nähe doch gelandet? Wie viele?”
„Na, so acht bis zwölf Gleiter mindestens, haben sich dort oder besser... da? Na, irgendwo abgesetzt.” Er wies diesmal nach links.
„Was ist eigentlich genau passiert?“ George zog den Kerl nun vollständig zu sich hinauf und dieser griff feste zu, riss den Burschen dabei fast vom Rad und zu sich hinunter.
„Hoppla!” lachte der verdutzt, hielt aber dennoch die Balance. „Sie sind ja ganz schön stark!”
„War ja auch früher Meister im Schwergewicht“, keuchte der Dörfler und stützte sich dabei so hart auf George, dass dieser für einen Moment in die Knie gehen musste.
„Denkst du das gleiche was ich denke ?“ wandte sich Paul indes wispernd an Margrit.
Diese nickte beklommen. „Du meinst der Mann ist in Wahrheit gar kein echter, sondern ein... ?“
„Sehr richtig! Und jetzt ist die Gelegenheit günstig “, flüsterte er weiter.
„Um zu fliehen ?”
„Genau! Dieser George ist vollauf mit dem Mann beschäftigt. Lass uns von hier wegkommen und zwar so schnell wie möglich!“
Margrit nickte stumm und jeder in dem kleinen Trupp wusste irgendwie sofort, worum es ging, denn sie brachten sich so schnell und leise wie möglich aus der Reichweite der beiden merkwürdigen Männer und stiegen weiter hinein in die Berge.


°


„Ich weiß nicht ... aber irgendwie mache ich mir jetzt Vorwürfe!“ murmelte Margrit wenig später. „Ich glaube, wir haben übernervös reagiert. Ob das noch die Wahrheit war, welche die Leute vorhin im Zug erzählt haben? Die Menschen spinnen doch immer mehr! Warum sollten sich Hajeps oder Loteken tarnen, dieser George hat da ganz recht, wo sie uns sooo weit überlegen sind ?“
„Sag` bloß, du willst jetzt noch umkehren ?!“ murrte Paul entgeistert. „Dir ist alles zuzutrauen!“
„Nnnn ... ja, das vielleicht nicht, aber wir könnten auf die beiden warten! Sieh mal, Paul, dieser Mann ist nicht nur körperlich in sehr schlechter Verfassung, seine Psyche ist auch...“
„Das ist wieder mal typisch ! Dei Psyche ! Kannst du nicht mal deinen Psychokram außer acht lassen ? Vielleicht denkst du endlich an uns!" zischelte Paul erbost und tappte mit den beiden Koffern in den Fäusten zornig weiter. „Was ist, wenn vielleicht sogar beide...”
„... Hajeps sind ?” Margrit wusste auch nicht warum, aber bei diesem Gedanken musste sie plötzlich lachen.
„Wohl ganz meschugge geworden, was!" schimpfte er. „Aber das ist ja typisch für Leute mit Psycho-berufen! Kannst du nicht mal vernünftig denken ? Die beiden wären nämlich dann in der Überzahl!”
„Überzahl oder nicht! Sie wären uns als Hajeps ohnehin überlegen!” schnaufte Margrit, während sie das Rad höher schob.
„Ach, es ist ja alles so schrecklich!” jammerte Muttchen einfach dazwischen, die arg schwankend neben ihnen einher hetzte. „Aber dieser junge Mann war doch so ein gepflegter, so ein netter Bursche ? Es könnte ja auch sein, dass der andere Mensch einer der letzten Überlebenden aus Hornberg ist, oder nicht ?“
„Weiß ich es?“ Paul versuchte mit den Schultern zu zucken, doch das gelang ihm kaum mit den schweren Koffern in beiden Händen.
„Oh, Mamms!“ fiel es nun auch Julchen ein. „Der arme Mann ! Das arme Hornberg! Ist das wirklich völlig futsch? "
„Ja, das ist richtig Sch.. sch.. schuldigung !“ fiel Tobias mit ein.
Margrit blieb einfach stehen. „So geht das auf jeden Fall nicht weiter! Wir sind alle völlig überlastet, müssen endlich rasten!”
„Ach ja, ich will... ich will endlich ausrasten !” bettelte Julchen.
„Wäre wirklich prima, denn das würde meinen Füßen gut tun. Besonders Munk könnte...”
„Ja, und ?“ platzte Paul dazwischen. „Dann können die beiden Hajeps....“
„...Loteken, Paul“, verbesserte ihn Margrit.
„Ist mir doch egal!!“
„Pa... aul!“
„Also, die können uns ja dann in aller Ruhe einholen. Wollt ihr etwa auf sie warten? Mit ihnen kämpfen? Das haben schon viele versucht und mussten es bitter bezahlen! Oder meint ihr, sie halten euch, nur weil ihr so ganz liebe Menschen seid, das Händchen und erhören eure Klagen ?“
Er hielt abermals schnaufend inne und setzte die Koffer wieder ab. Es war schon schlimm. Da hatten sie wohl recht, denn die Pausen, die auch er inzwischen machen musste, kamen immer häufiger. Er versuchte sich abzulenken, während er zum `zigsten Male die feuerroten, schmerzenden Hände rieb und sah dabei zornig die Berge hinauf.
Wann würde endlich diese gottverdammte Hütte auftauchen, in der sie nächtigen konnten? Die sollte doch hier irgendwo in der Nähe sein! Konnten Hütten völlig vom Erdboden verschwinde ? Heutzutage war wohl selbst das möglich. Vielleicht hatten die Hajeps ja den alten Schäfer, der die kleine Familie beherbergen wollte, schon Tage vorher aus unerfindlichen Gründen getötet, seine Schafe geschlachtet und die Hütte so sehr zerstört, dass man selbst die Reste des kleinen Häuschens von hier unten kaum noch ausmachen konnte.
Nach einem weiteren zu den Gipfeln gewandten Blick die Berge hinauf, holte Paul die Karte hervor und verglich erneut die Umgebung mit der Zeichnung. „Entweder können die Menschen nicht mehr zeichnen oder es gibt den Schäfer nicht mehr!”
“ Nein, das kann nicht sein! Willst du damit etwa andeuten“, hakte Margrit erschrocken nach, „dass der alte Herr Lawi nicht mehr lebt ? “
„Ich will es nicht nur andeuten, ich sage es sogar klipp und klar! Lawi und seine Hütte existieren nicht mehr, was auch immer ... jedenfalls ist beides nicht da. Oder seht ihr irgendwo ein kleines Häuschen ?”
„V... vielleicht ist es nur hinter irgendeinem Baum versteckt!” warf Julchen ein.
„Ein sehr guter Gedanke, Julchen“, lobte Paul, ”wenn es hier oben Bäume gäbe!”
„Aber Büsche!” schmetterte Tobias geistesgegenwärtig dazwischen. „Hier gibt es sehr viele Büsche, stü-ümms ?”
„Dahinter passt aber kein Haus!” entgegnete Paul knapp.
„Stümmt!” räumte Tobias ungern ein.
„Paul, es wird bald dunkel, da findet uns ohnehin niemand hier. Lass uns jetzt eine Höhle oder irgendein anderes Nachtquartier suchen. Es hat wirklich keinen Zweck, uns unnötig kaputt zu machen!“
„Ach, ja, ich will nich kaputt sein!” jammerte Julchen.
„Ich auch nich, nöö!”
„Ich glaube, meine armen Füße sind es schon lange”, ächzte Muttchen.
„Ist ja schon gut!” murrte Paul. “ Ich gehorche, ja !”



So waren sie schließlich dabei, das Fahrrad und die Koffer erst einmal so abzustellen, dass die nicht gleich für jeden sichtbar waren. Gerade in diesem Augenblick hörten sie, den schmalen Pass hinauf, eine heitere Stimme.
„Hallo!“
Zwei dunkle, nach vorn gebeugte Gestalten wuchsen, nur mit einem Fahrrad bestückt, langsam und nacheinander aus dem Boden hinter ihnen.
„Wie klein die Welt doch ist! Schon sieht man sich wieder! Eigentlich wollten wir ja beim Herrn Lawi übernachten. Ihr wisst doch, der alte Schäfer ... doch dann war mir noch rechtzeitig eingefallen, dass das Kerlchen schon seit einem halben Jahr von hier fortgezogen ist und zwar mitsamt seinen Schafen! Die Gegend war ihm nicht geheuer! Könnt ihr das verstehen ?“ Der Hüne lachte in sich hinein, obwohl er zwischendurch keuchte, denn er hatte sich sehr beeilt, und alle anderen machten lange Gesichter.
„Tjahaaa“, Paul ließ sein komisches Reifenluftgelächter erschallen, „so kann das einem gehen und wieso ist deshalb gleich sein ganzes Haus verschwunden? Können Sie mir das erklären? ”
Noch ehe der etwas entgegnen konnte, schmetterte Julchen folgerichtig dazwischen: „Weil es hinter keinem Busch Platz hatte! “
Alles prustete los, selbst Paul, dann aber räusperte er sich energisch, denn sein Blick streifte den anscheinend schwer verletzten Mann, der hinten beim Gepäckständer des Fahrrades mehr lehnte als saß. Der Verwundete konnte sich jetzt kaum noch auf dem Rad halten und atmete schwer.
George wandte sich ihm zu.
„Geht`s noch?“ erkundigte er sich leise. Der Mann nickte. Schweiß zeichnete sich an dessen Hemd ab.
„Es waren Loteken, die unsere Häuser überfielen“, wollte er nun auch Paul und Margrit erklären. Man erkennt sie recht gut an den Zeichen auf ihren Helmen und Uniformen...”
„Ihr Zeichen ist der Kopf eines weißen Drachens“, half ihm der Bursche, um diese Angelegenheit der kleinen Gruppe verständlicher zu machen, „der in seinem Maul eine schwarze Schlange hält. Diese Schlange hat sich aber um den Hals des Drachens gewunden und man sagt, dass der Drache den Planeten Hajeptoan versinnbildlicht - also Pasua - und dass die schwarze Schlange ein Symbol der Loteken wäre. Ist es nicht so?”
Der Mann nickte kaum merklich. „Sie haben uns überrumpelt.” Er beleckte sich die trockenen Lippen, ihm schien das Sprechen schwer zu fallen, aber er wollte die ganze Geschichte loswerden. „Die Aliens traten so plötzlich gegen unsere Türen und verlangten Einlass, dass wir nicht nur einen gehörigen Schrecken bekamen, sondern auch manche von uns zu ihren Waffen griffen.“ Der Mann musste eine kleine Pause machen um zu verschnaufen. „Sie haben Geräte, mit denen sie jede Tür von außen sofort öffnen können. Als die erste Türen nach innen krachten und diese furchtbaren Wesen in die Zimmer hineinjagten, verlor eine Frau die Nerven und feuerte laut schreiend auf einen aus der Meute. Es war schrecklich!“
Der Dörfler schloss für einen Moment die Augen, seine Stimme klang unglaublich leise als er weitererzählte. „Die Frau, die geschossen hatte, wurde an den Haaren nach draußen gezerrt. Doch sie konnte sich losreißen und jagte Richtung Heuschober, wohl um sich darin zu verstecken.“ Der Mann hatte Tränen in den Augen. „Sie wurde auf der Stelle erschossen! Einige von uns empörten sich über die Vorgehensweise der Außerirdischen und auch sie wurden sofort hingerichtet, obwohl unter den Hajeps längst bekannt sein dürfte, dass Menschen nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch Freunde unserer gnadenreichen Eroberer sein können...”
Er stoppte plötzlich, schaute entsetzt in jedes Gesicht; offensichtlich war ihm erst jetzt klar geworden, dass etwas seinen Lippen entschlüpft war, was auf keinen Fall hätte verraten werden dürfen, denn Leute, die sich auf die Seite der Hajeps stellten, die manchmal sogar gegen die Menschheit agierten, wurden vom eigenen Volke zutiefst gehasst, ja, nicht selten auch von verzweifelten Menschen hingerichtet, um ein Exempel zu statuieren.
„W... werdet ihr mir nun nicht mehr helfen ?” ächzte er halb ohnmächtig vor Angst. „W... was wollt ihr jetzt mit mir machen ?”
Alles starrte ihn an.
„Du meine Schei... Schuldigung!” entfuhr es Tobias. „Du bist ja ein Vertreter!”
„Ich mag keine Fahrräder!” sagte auch Julchen mit ziemlich gekrauster Nase.
„Auch ich habe für Leute wie Sie nicht viel übrig!” Paul machte eine wütende Handbewegung in die Richtung des Mannes. „Wissen sie was? Wenn Sie hier nicht so schwer verletzt herumhängen würden, hätte ich Sie sogar eigenhändig an dem nächsten Ast dort hinten aufgeknüpft, jawoll!”
„Aber Paul“, versuchte Margrit ihren Freund zu bremsen, „ wie kannst du so etwas sagen? Dieser Mann ist nur noch ein Wrack... “
„Genau“, mischte sich nun auch Muttchen ein und schlenkerte dabei wieder verlegen den Käfig hin und her wie ein kleines Schulmädchen und Munk fauchte deshalb ununterbrochen. „Es spielt jetzt keine Rolle mehr, was dieser Mensch getan hat. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen, ihm muss dringend geholfen werden, so dünn wie der angezogen ist!”
„Pah, Weiber!” knurrte Paul verächtlich. “ Typisches Weibergeschwätz! Haben solange die soziale Ader, bis sie selbst drankommen, dann wird aber gestaunt und um Hilfe nach uns Männern geschrieen! Hmmm... was meinen Sie dazu, George ? ”
„Es braucht ihm nicht geholfen zu werden“, erklärte der Hüne, „denn er ist gar nicht so schwer verletzt! Es ist nur eine winzige Stelle. Er steht nur unter einem schweren Schock.“
„Ach was, sie Großschnabel!“ konterte Margrit. „Dem Mann geht es furchtbar schlecht! Das kann doch wohl jeder sehen! Also los! Stimmen wir ab! Wer ist dafür, dass wir ihm helfen, auch wenn er ein Verräter ist ?”
Julchen und Tobias hoben als erste ihre Fingerchen.
„Kunststück, die sind immer deiner Meinung!” grollte Paul. „Die zählen nur `ne halbe Stimme.“
Und dann hob Muttchen nicht nur ihre magere Hand, sondern zerrte fast gleichzeitig Munks Pfote aus dem Käfig, die sie ebenfalls nach oben hielt. Munk fühlte sich wichtig und begann zu schnurren.
„Hahaha, wie haben wir gelacht!” schimpfte Paul und Munk fauchte ihn an.
„Und Sie, George ?” fragte Margrit. „Haben Sie sich auch zu einer Hilfeleistung durchringen können ?”
„Nein, es ist, wie ich es bereits sagte: Dieser Mann braucht keine Hilfe, sondern nur einige Stunden tiefen Schlaf!“
Der Dörfler schien erleichtert und wandte sich an George. „Meinen sie das wirklich? Ich bin nämlich aus Panik vor denen geflüchtet und man hat auf mich geschossen, mit so einem komischen bläulichen Lichtstrahl, der von der Hand eines dieser Aliens ausging.”
„Dann war es sicher ein ‚Zworm’“, warf der Bursche sehr ruhig ein, errötete aber verdächtig. „Diese Waffe ist nicht so gefährlich, wie sie aussieht. Man wollte sie bestimmt nicht schwer verletzen, sondern ... äh, hm... sie nur damit beruhigen. Das kann man damit nämlich auch – wirkt wie ein Betäubungspfeil, oder so...“
„Mein lieber Mann!” ächzte jetzt der Verletzte. „Sie wissen aber gut Bescheid! Woher kommt das ?”
„Ja, ja“, bestätigte George grinsend und warf dabei Margit einen langen Blick zu, „aber bestimmte Leute wollen mir das einfach nicht glauben!“
„Soll ich Sie verbinden?“ mischte sich Margrit wieder ein streckte die Hand nach ihm aus, um die Wunde zu untersuchen.
„Nein, nicht!“ Der Bursche schlug ihr einfach auf die Finger. „Hab ich doch gesagt!“
Margrit zuckte zurück, blickte zum Teil verblüfft, zum Teil erzürnt zu dem seltsamen Kerl hinauf und rieb sich die Finger. „Was fällt ihnen ein?“
„Der ... der hat die Mama gehauen?” entfuhr es Julchen ebenso empört.
Tobias hatte nicht nur seine Unterlippe blitzartig eingesaugt, sondern auch den Blaui wurfbereit in der Hand.
Und Paul wäre beinahe über Muttchens Katzenkorb gestolpert, den sie mal eben abgestellt hatte, weil sie dem Hünen ihren Schirm über den Kopf zu ziehen gedachte.

Der Bursche lächelte nun nach allen Seiten entschuldigend und mit hochrotem Kopf. „Nicht übel nehmen, ja ? Aber es ist wirklich besser, wenn Margrit seine Wunde in Ruhe lässt.“
„Mir geht`s komischerweise immer schlechter!” ächzte der Fremde plötzlich. „Dabei ist das doch nur so eine winzig kleine Fleischwunde!”
„He, Margrit, können Sie das mal kurz halten ?“ fragte der Hüne und drückte ihr seinen Rucksack in die Hände. Margrit staunte, wie leicht der war.
„Sie müssen sich einfach nur ausruhen. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann”, wandte sich der Bursche wieder an den Dörfler, „vielleicht finde ich einen guten Schlafplatz.“
Margrit hielt mit der anderen Hand Georges Rad rein reflexmässig fest, weil er sich plötzlich seine Jacke auszuziehen gedachte und der Verletzte stützte sich dabei mit einem Fuß ab.
„Entschuldigung“, empörte sich Margrit, „aber er blutet immer mehr! Wir müssen ihn womöglich abbinden, können ihn doch nicht einfach unbehandelt lassen!“ Ihre Stimme klang jetzt richtig angriffslustig und Paul verzog sich kopfschüttelnd derweil mit der restlichen Familie, um sich ebenfalls einen geeigneten Ruheplatz für die Nacht zu suchen. Ach, er kannte ja Margrits hartnäckige Natur. Und wenn sie bei ihm blieb, hatte wenigstens er seine Ruhe vor diesem Angeber. Er konnte sie ja später unbemerkt zu sich holen.

George versuchte indes angestrengt, den Pass hinabzuspähen, den sie genommen hatten. Er warf sich seine Jacke über die Schultern, während er das Rad noch immer mit den Hüften stützte.
„Hmmm“, überlegte er laut, „haben Sie genug Kraft, um für einen Moment allein das Rad zu halten und somit auch diesen Mann?” fragte er und nahm ihr dabei den Rucksack ab. Sie nickte verdrießlich.
Er ließ langsam los und gemahnte den Mann sich dabei fest auf seine eigenen Beine zu stellen.
„O. k., Margrit! Ich sehe, dass Sie das können! Aber brav sein, wie gesagt, den hier“, er wies mit dem Kinn auf den Verletzten, „wirklich hübsch in Ruhe lassen! Haben wir uns verstanden ?“
„Klaro, sie Großkotz!“ Sie lachte verärgert auf.
Er grinste frech, suchte ein geschütztes Plätzchen und kletterte schließlich hoch in die Felsen. Margrit beobachtete sehr nachdenklich wie er in einer kleinen Höhle seine Jacke ausbreitete und auch dort den Rucksack abstellte. Der Mann war wirklich ein einziges Rätsel.
„Wie sind Sie nur zu ihrem Wissen über die Hajeps gekommen?“ empfing Margrit ihn, als er zu ihr zurückkam. Sie wollte endlich Klarheit und stemmte energisch die Hände in ihre Hüften, als er das Rad übernommen hatte.
„Muss ich das sagen ?“ Seine Raubtieraugen blitzten sie feindlich an.
„Ich finde ja!“ entgegnete sie und lief neben ihm her, während er das Rad schob. Fest war sie entschlossen, den Verwundeten aufzufangen, falls der fiel.
„Ich denke nicht daran!“ Er sah jetzt ungemein entschlossen aus, doch seine Hand, die das Rad hielt, auf welchem der Mann inzwischen völlig in sich zusammengesunken war, zitterte ein bisschen. „Ich weiß eben Bescheid und fertig!“ Er grinste nun richtig boshaft, wie Margrit fand und hob den schweren Mann, der nun fest schlief, vom Sattel, während sie das Rad hielt.
Margrit staunte. George musste nicht nur eine unglaubliche Kraft haben, denn das geschah mit ziemlicher Leichtigkeit, sondern auch viel Geschick. Er lud sich den Mann auf den Rücken, wobei jeder seiner Handgriffe saß.
„Im übrigen sollte es Ihnen ... völlig ... egal sein, was ich mache und was nicht!“ schnaufte er, während er mit ihm höher in die Berge hinauf stapfte.
„Wie bitte?” rief sie zu ihm empor. „Das Gleiche könnte ich Ihnen auch sagen!“ Sie schob das leere Rad ein gutes Stück zurück und suchte ein Versteck. Als sie keines so schnell fand, lehnte sie es einfach an einen der Felsen, kam zurück und sah zu, wie George den Mann behutsam auf seine Jacke bettete.
„Mit Ihrer ganzen Geheimniskrämerei werden Sie sich nämlich noch eines Tages das Genick brechen. Das sage ich ihnen als reife Frucht – äh - Frau !“ Sie sah, nachdem er sich aufgerichtet hatte und sich streckte, um die verspannten Schultern zu dehnen, mit geröteten Wangen zu ihm hinauf und seine emporgereckten Arme wurden plötzlich von kleinen Lachern erschüttert, der ganze mächtige Körper bebte und dann fielen die Arme hilflos und schlaff hinunter.
„Sie sind mir vielleicht ein Früchtchen!” gluckste er.
Margrit überhörte das hämische Lachen einfach und stieg zu ihm schnaufend empor.
„ Hey, was soll das“, protestierte George, unterbrach seine Gymnastik abrupt, konnte sie jedoch nicht mehr daran hindern. Ihr entging es nicht, dass er nervös wurde, dennoch setzte sie sich zu dem Fremden.
„Haben sie Schmerzen ?“ erkundigte sie sich flüsternd, da sie bemerkt hatte, dass er wieder wach war.
Der Dörfler schüttelte den Kopf. „Die Loteken“, lallte er, „haben das ganze Dorf nach irgendwas durchgekämmt!”
„Reden Sie lieber nicht mehr!“ sagte Margrit mit beruhigender Stimme. „Ruhen Sie sich einfach aus!”
„Aber sie trieben die Menschen, indem sie wild hinter ihnen herfeuerten, in die anliegenden Wäldchen, oder hier hinauf in die Berge, dann sprengten sie das ganze Dorf. Auf die Tiere in den Ställen oder diejenigen Menschen, die zu schwach waren um zu laufen, hatten sie keine Rücksicht genommen."
„Nun ist aber alles vorbei, nicht wahr?” flüsterte Margrit sanft. „Sie zittern, scheinen zu frieren! Soll ich Sie mit meiner Jacke zudecken ?“
Und schon schickte sie sich an, auch die ihre auszuziehen.
„Nein!“ hörte sie Georges Stimme und fühlte ebenso blitzartig dessen Finger an ihren Handgelenken, die sie mitsamt der halb ausgezogenen Jacke gepackt hielten. „Behalten Sie die ruhig. Sie werden ihre Jacke sicher noch dringend brauchen!“
George hatte eine Art an sich, die Margrits Blut irgendwie in Wallung brachte. „Ha, schon wieder!“ quiekte sie.
„Ganz recht, schon wieder verbiete ich Ihnen etwas!“ Er schob sie von dem Verletzten fort. „Dieser Mann braucht Ruhe. Sie machen ihn ja ganz nervös mit ihrer Jacke. Sehen Sie, kaum sind sie weg schläft er!“
Margrit nickte. „Aber...”
„Kein aber! Ich habe schon meine Jacke geopfert, das genügt! Behalten Sie ihre. Es ist besser so!“
Weil sie sich sträubte, wickelte er sie einfach mit der Jacke ein und trug sie den Berg hinab.
„Sie sind unmöglich!“ fauchte sie dabei und strampelte. „Ruhe hin, Ruhe her. Der Mann wird sich auf dem kalten Boden den Tod holen!“
Unten angekommen versuchte sie von ihm freizukommen und schüttelte deshalb nicht nur beide Arme, sondern versuchte sich um sich selbst zu drehen. Automatisch hatten sie sich beide dadurch in Margrits Jacke verwickelt.
„So kalt ist es hier nicht“, schnaufte er, denn es war recht eng in dieser Jacke für sie beide, „und meine Jacke wärmt recht gut, das weiß ich aus Erfahrung. Ich habe bisher nie gefroren!“
Aber sie hörte ihm bereits nicht mehr zu und ruderte nicht mehr herum. Ihre Miene hatte einen besorgten Ausdruck angenommen. Wo war ihre Familie mit einem Male geblieben? Je eifriger sie umherblickte, umso mehr Blut wich aus ihrem ohnehin schon blassen Gesicht.
„Sie... sie sind fort ? " wisperte sie erschrocken zu George, der immer noch mit der Jacke kämpfte und sich schon fast befreit hatte.
„Donnerwetter, wo sind sie denn alle hin? Kein Lebenszeichen ist von ihnen zu entdecken! Nicht einmal irgendetwas zu hören! Keine Stimmen ... nichts! Ob die ... die?“ Sie wagte nicht weiter zu sprechen.
„Die Loteken ?“ beendete George ihren Satz, nachdem er den entsetzten Blick ihrer Augen aufgefangen hatte und die Jacke fiel zu Boden.
Sie nickte und presste die Lippen zusammen, dann betrachtete sie skeptisch die große muskelbepackte Gestalt neben sich.
„Das glaube ich nicht!” brummte er. „Sicher haben sich ihre Lieben nur auf ihr neues Schlafplätzchen zurückgezogen und sind eingepennt. Wahrscheinlich sind sie ganz in der Nähe und wir sehen sie nur nicht. Haben sich wirklich gut versteckt, meine Anerkennung!”
„Nein, hier sind sie gewiss nicht! Ich glaube wir sollten noch weiter...”
„Tja, dann müssen sie aber sehr weit gegangen oder auch geklettert sein ? Hm ...vielleicht aus Angst vor mir ? “
„Unsinn! Vor Ihnen hat doch keiner Angst, pah !”
„Keiner außer Margrit!” Er hob nun grinsend die Jacke auf und reichte sie ihr. „Bitte, Schwester Margrit.“
„Haha, was haben wir gelacht! Ob ich wohl meine Familie laut rufen kann, George ? " erkundigte sie sich noch leiser.
„Mich stört`s nicht !” sagte er ganz laut.
„Hähä! Witzbold! Ich meine natürlich, ob vielleicht...? Na, Sie wissen schon!“
„ I wo!“ Er winkte ab. „Weder Pajonite noch Loteken interessieren sich für Menschen.”
„Nee. Sie verbrennen und töten sie nur, das kann man wirklich nicht interessieren nennen!“
George lachte laut auf. „Hey, Margrit, Sie können ja zynisch sein! Das ist ja gar nicht nett!“
„Wer hat gesagt, dass ich nett bin?“ entgegnete sie kopfschüttelnd. Dann räusperte sie sich und begann, den Weg auf und ab laufend, erst zögernd, dann immer lauter nach Paul und ihrer Familie zu rufen.
„Jahuuuu!“ hörte man plötzlich wie zur Bestätigung von Georges Worten von oben. Es war ganz deutlich Pauls Stimme. Margrit blickte suchend umher. Ja, dort auf der linken Seite des Gebirgsweges, winkte ihr von oben, hinter einer Felszacke hervorlugend, Paul mit freudig errötendem Gesicht hinunter. Mühsam kraxelte er nun zu ihnen hinab.
„Ahaa, Frau Klugschnacker, kommt uns nun endlich suchen, ja ?“ näselte er und ein paar kleine Felsbrocken und Steinchen lösten sich dabei aus dem Hang, rollten und hüpften die Felsen hinab bis vor Margrits Füße.
„Sie haben sich aber phantastisch versteckt, Herr Ladeburg!“ bemerkte der Bursche anerkennend und brachte Paul fast ins Straucheln, da dieser nicht mit ihm gerechnet hatte. Doch er fing sich noch und stand schließlich keuchend vor ihnen, vernichtende Blicke auf die `Klette` werfend.
„Danke, danke!“ entgegnete er bissig, abwechselnd einen entnervten Blick auf George und einen vorwurfsvollen auf Margrit werfend. „Es ist mir unheimlich wichtig, dass gerade Sie mich loben, mein persönlicher Freund!“
George nickte zustimmend und grinste breit.
„Ist... ist Muttsch etwa auch bis ganz nach oben geklettert?“ entfuhr es Margrit entgeistert.
Paul beantwortete ihren erschrockenen, vorwurfsvollen Blick mit einem quietschenden Lachen. „Nein, natürlich nicht, Frau Schnatterfein! Die Kinder und Muttchen haben sich Parterre eine kleine Höhle gesucht. Ich war daran nicht ganz unbeteiligt!“ Er sah sich stolz um. „Gut versteckt, nicht wahr ?“
„Wirklich!“ Margrit strahlte ihn an. „Man weiß nicht, wo genau ihr Euch verborgen habt! Du bist wie immer großartig!“
„Wie interessant! Wo sind sie denn genau?“ erkundigte sich George mit leuchtenden Raubtieraugen.
Paul reagierte nur mit einer wegwerfenden Handbewegung in seine Richtung und sagte zu Margrit:
„Tja, ich habe halt keine Helfer ... Helfer ...dings...äh... macke!“
„Syndrom, Paul Syndrom!“
„...halt mich auch nicht mit Plappereien auf“, fuhr er einfach fort und sah dabei zum Himmel. „Es wird schon dunkel, kommt mein kleines Schnatterentchen nun endlich ?“
George drehte sich um, um zu gehen.
„Halt!“ Margrit hielt ihn am Arm fest. „Noch nicht weglaufen! Warten!“
Es dauerte ein Weilchen, bis sie ein Stück den Berg hinauf und dann hinter diesem mit Paul verschwunden war. Gut zwanzig Minuten später kam sie, genau wie vorhin Paul, mit einigem Geröll die Felsen mehr gerutscht als gelaufen, zurück.
„Hier!“ Mit strahlenden Augen hielt sie ihm ein wollenes Damennachthemd, einen Morgenmantel und einen Schal entgegen.
„Was heißt hier?” Er war aufgestanden, starrte besonders auf das duftige Hemd und den rosa Mantel in ihrer ausgestreckte Hand.
„Bin ich eine Schwuchtel ?”
Margritt kicherte. „Kommen Sie, hören Sie endlich auf so herumzualbern. Das ist natürlich nicht für sie, sondern für den Verletzten zum Zudecken!“ erklärte sie stolz. „Halt! Aber der Schal hier von Muttchen, der ist allerdings für sie persönlich! Tja, so ist Muttchen nun mal!”
Er griff aber immer noch nicht zu. „Ganz hübsch, wirklich nette Klamotten! Und vor allem sind sie praktisch! ”
„He, Sie sollen sie nicht beurteilen, sondern endlich an sich nehmen!” erklärte sie ungeduldig.
„Das werde ich auf keinen Fall tun, denn es sind alles viel zu gute Sachen! Sicher brauchen Sie diese Dinge selbst dringend.”
„Und sie brauchen dringend eine Ohrfeige! Aber man kommt ja nicht bei Ihnen ran! Meinen Sie denn, ich möchte den ganzen Kram wieder nach oben schleppen, nur weil Sie der dickste Dickkopf der Welt sind ?”
Er hob ermahnend den Finger. „Der zweitdickste“, verbesserte er.
„So, nun ist es passiert!“
„Was ?“ fragte er.
„Dass ich Ihnen ernstlich böse bin! Nehmen Sie nun endlich die Sachen, oder soll ich Sie Ihnen um die Ohren hauen?"
„Kommen Sie denn plötzlich ran ?”
„Ach, der Schal ist, glaube ich, lang genug!”
„Dann nehme ich die Sachen lieber...“
„Das würde ich Ihnen auch dringend geraten haben,“ brummte sie, während er ihr die Kleider abnahm.
„Geben Sie wenigstens den Muttsch zurück!“ sagte er und legt ihr den Schal um die Schultern.
„Muttsch wird böse sein!”
„Was ...äh... haben Sie denn da in der anderen Hand?" fragte er ablenkenderweise. Er sah dabei auf die große Feldflasche, die sie an einem Band in ihrer Faust hielt.
„Da ?“ fragte sie verwirrt.
Er nickte ein wenig steif.
„Ach, so ... ja, da fülle ich jetzt nur Wasser rein. Stellen Sie sich vor, Paul hat von dort oben Ausschau gehalten und den ‚Neuen See’ entdeckt !“ wusste sie erfreut zu berichten.
„Ja, ich weiß“,George lächelte. „Von dort kann man ihn gut sehen. Er ist nicht weit. Sie brauchen nur diesen Weg hier immer weiter geradeaus zu gehen. Er führt in eine kleine Niederung und ... soll ich Sie begleiten ?“ entfuhr es ihm, fast ohne dass er es wollte.
„Oh ...äh... nicht nötig! Ich werde ihn schon finden!“ Sie lächelte ebenso schief zurück wie er.


Kurze Zeit später war Margrit unten am See. Während sie ihre Feldflasche ins Wasser tauchte, betrachtete sie verwundert dessen glänzende Fluten, denn alles war dort wunderbar klar und sauber. Man konnte bis hinab auf den Grund sehen, obwohl die kleinen Wellen im matten Licht der untergehenden Sonne glänzten wie geschmolzenes Blei. Sie glitzerten in einem wesentlich dunkleren Grau als der regnerische, wolkenverhangene Himmel, der sich über ihr spannte. Eigenartige Pflanzen wuchsen üppig an den Ufern. Eigenartig insofern, da Margrit, die sich keine sonderliche Ahnung bezüglich der deutschen Flora und Fauna zuschrieb, das meiste hiervon unbekannt vorkam. Ihr Auge und Herz erfreute sich eine Weile, während die Flasche vollief, an den herrlichen Büschen, die hier an den Berghängen wuchsen, und seltsamerweise in voller Blüte standen, doch was war das?
Sie hörte es zuerst leise dann immer lauter dröhnen. Seltsam! Sie lauschte und hielt den Atem an. Es war ein merkwürdiges, kaum zu beschreibendes Motorengeräusch. Sie blickte zur Bergwand auf ihrer rechten Seite, denn von da schien es zu kommen. Und dann sah sie den Verursacher dieses Geräusches ! Ein ovaler, irgendwie weich und wabbelig erscheinender Flugkörper tauchte plötzlich hinter den Felsen langsam auf. Er flog relativ niedrig und kam wohl vom Tal, in welchem sich Hornberg befunden hatte, daher konnte man ihn von hier aus recht gut betrachten.
Margrit wusste jedoch, was das für sie bedeutete! Zitternd und in größter Hast verschlossen ihre Finger die Flasche, dennoch ging einiges daneben, floss über ihre Jacke. Sie achtete kaum darauf, sprang stattdessen auf ihre Füße, den Blick immer noch zum Himmel gewandt, denn der zeppelinförmige Flugkörper hatte die Felsen bereits hinter sich gelassen, breitete vier seiner kleinen ‚Flossen’ aus und schickte sich an, das winzige Tal zu überqueren, und somit direkt auf Margrit zuzusteuern, die dort in der Mitte stand.
Ein fast melodisches, feines Summen und Brummen wie von tausenden Bienen erfüllte nun die Bergwelt und mit einem Male wurde das Tal von einem kräftigem Luftzug erfüllt. Seltsame rüsselförmige Düsen schoben sich aus dem Bauch des komischen Dinges. Die Büsche und Bäume an den Berghängen wogten und bewegten sich dabei hin und her und das Singen dieser fremdartigen Schläuche ließ die Erde immer stärker dröhnen.
Margrit hatte sich zu viel Zeit gelassen, hätte einfach lieber die Flasche liegen lassen und davonrennen sollen. Nun war es wohl zu spät!
Dennoch rannte sie wie noch nie in ihrem Leben, den Blick ab und an zum Himmel gerichtet. Der Hall warf sich gegen die Bergwände und scholl von dort aus wider, und dann war das Ding hinter ihr her. Es sang ihr in die Ohren und der ungeheure Luftzug wirbelte ihr die Haare ums Gesicht. Man hatte Margrit schon soviel über die komischen Flugzeuge der Hajeps erzählt, doch es war kein Vergleich, so etwas mit eigenen Augen zu sehen!
Funkelnd und viel größer, als sie es je erwartet hatte, flog das Wabbelding unter den in abendlichem Rosa getönten Gewitterwolken dahin. Das also war eines dieser Glitzerboote, eines dieser Riesenblasen, über die sie schon die furchtbarsten Dinge gehört hatte.
Ganz gewiss sahen die Außerirdischen Margrit schon seit einem Weilchen hier unten um ihr Leben laufen, gleich einer Ameise, so winzig und klein, auf die schützenden Berghänge zutrippelnd. Würde sie es schaffen ? Würde es ihr gelingen den tödlichen ‚Xaxama’-Strahlungen rechtzeitig auszuweichen ? Oder hatte sie nur noch den Bruchteil einer Sekunde zu erleben, zeugte bald nur ein kleines Häuflein Staub davon, dass hier einstmals ein Mensch gelebt, gehofft und geatmet hatte ?
Noch näher kam das Schiff. Es bewegte sanft die vier Flossen und dann war es auch schon fast über ihr. Margrit wusste nicht, ob es nur das Erdreich war, das um sie herum und unter ihr so schrecklich zitterte, oder mehr sie selbst. Sie wusste auch nicht, ob der peitschende Wind des Flugschiffes über ihr sie mit ihren eigenen Haaren derart geißelte, oder dies nur so heftig geschah, weil sie so jagte, immer verzweifelter den rettenden Felsen zu. Oh, warum, warum nur war sie vorhin nicht einfach in den See hineingelaufen ? Zum Zurückrennen schien es nun zu spät. Und dort, vor ihr, oh nein! Was lag denn da ? Dort befanden sich nichts als riesige Steine und Geröll!
Auf dem Hinweg hatten die sie kaum gestört. Sie war einfach in Ruhe darüber geklettert, hatte sie die kaum bewusst wahrgenommen - aber jetzt ? Wie brachte sie das nur schnellstens fertig ? Sie wusste nur, da musste sie aufpassen! Nur nicht stolpern! Nur nicht ausrutschen! Aber schnell - schnell!
Ihre Füße in den zerrissenen Turnschuhen hüpften nun über die Klumpen, stießen schmerzhaft an deren spitze Kanten. Keine Zeit, dabei zusammenzuzucken, keine Zeit, das Gesicht zu verziehen! Immer weiter, weiter ! Und schier endlos waren die Berge noch immer entfernt.
Sie schaute wieder kurz nach oben. Da! Das fliegende U-Boot öffnete gerade eine kleine Klappe in seinem silbern schimmernden Bauch, auf welchem der Kopf eines Drachens, der eine schwarze Schlange fest im Maule hielt, zu sehen war. ‚Sie schießen!` durchfuhr es Margrit und schon wieder dachte sie dabei an den komisch zischelnden Ton, der ertönen sollte, sobald dieser seltsame ‚Xaxama’-Strahl auf Menschen traf.
Sie machte einen gewaltigen, verzweifelten Satz nach vorn, aber dort - nein - wieso kam ihr plötzlich dieser Felsbrocken in die Quere? Ihr Fuß hatte ihn nicht übersprungen, sondern war daran hängen geblieben und schließlich daran abgerutscht! Verloren! Sie spürte einen starken Stich und hart stürzte sie nach vorn. Aus und vorbei! Sie kauerte eingeklemmt zwischen den Steinen und hielt sich schluchzend das Knie. Sie warf einen letzten Blick zu den Bergen, unerreichbar waren sie nun - für immer!
Aber was sah sie denn da ? Huschte dort hinten nicht ein Schatten? Ja, es war eine große kraftvolle Gestalt, die plötzlich von einem kleinen Felsvorsprung todesmutig hinunter zu ihr in das Tal sprang.
„George! Nein, nicht!“ Obwohl sie so laut wie nur irgend möglich geschrieen hatte, wurde ihre Stimme buchstäblich von den dröhnenden Motorengeräuschen verschluckt. Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, schüttelte wild den Kopf, versuchte, sich ihm durch Zeichensprache verständlich zu machen, aber es war vergebens. Mein Gott - warum sah und hörte er das Raumschiff nicht? Dieser Kerl hatte ja den Verstand verloren, denn er rannte gut sichtbar für die Hajeps einfach auf sie zu.
„Bist du verrückt ?“ brüllte sie gegen den Wind.
Er lachte nur wie ein Wahnsinniger, sah nach oben, änderte aber die Richtung um keinen Zoll.
„Du musst übergeschnappt sein!“ rügte sie ihn, während er ihr half, sich aus den Felsen zu befreien.
„Scheint so!“ brüllte er zurück, half ihr hoch und riss sie an sich.
„Oh, George!“ Sie kuschelte sich an seine breite Brust und hatte, obwohl sie beide doch deutlich sichtbar für die Hajeps waren, in diesem Augenblick gar keine Angst mehr. Er nahm sie auf die Arme, schleppte sie mit sich, von dem Raumschiff gemächlich verfolgt, bis sie zu den Felsen gelangten und somit in Sicherheit waren.
Beide keuchten und schnauften noch immer vor Angst und Erregung und sahen zu, wie das Flugschiff ganz gemächlich, genau über jenem mächtigem Bergmassiv, in welchem sie sich versteckt hielten, verschwand.
„Warum haben uns diese Haj ...nein... Loteken nichts getan?” fand Margrit als erste ihre Sprache wieder, unbewusst noch immer dicht an Georges kräftigen Körper gepresst.
„Es ist ein ‚Kuarin’, ein recht langsames und daher auch lautes Erkundungsschiff. Die Mannschaft dieses Schiffes hat besseres zu tun, als auf einzelne Menschen Hatz zu machen und sie mühsam aufs Korn zu nehmen!“ erklärte er sachlich. „Sie suchen die Trowes, die geflohen sind. Du erinnerst dich doch an die merkwürdige Geschichte von den beiden Zwillingen im Zug?“
Margrit nickte nachdenklich. “Aber... warum haben sie dann diese komischen Düsen ausgefahren ?”
„Um Büsche zu bewegen. Stell dir vor, diese Düsen sind so stark, dass sie selbst größere Felsbrocken zur Seite rollen können.”
„Aha, wohl um zu schauen, ob sich jemand dahinter versteckt hat.“
„Ganz genau. Schau nur!“ Er wies mit dem Finger auf jene Felswand hinter welcher vorhin das ‚Kuarin’ hervorgekommen war. „Dort kommt das nächste. Diesmal ein ‚Kontrestin’. Siehst du, es hat eine ganz andere Art zu fliegen!”
„ D.. das segelt ja dahin, fast wie ein Vogel? “
„Eher wie eine Flugechse, Margrit.”
„Aber ...es ..es schlägt jetzt mit den D.. Dingern, flattert ja richtig! Und der Körper, der dehnt und streckt sich dabei mit, als wäre es lebendig.“
„Warum nicht? Das ist eben Bio-Material, lebende Fasern! Komm wir klettern etwas höher hinauf, dann können wir es besser sehen! ”
Sie nickte aufgeregt und folgte ihm.
„Lach` mich jetzt bitte nicht aus”, keuchte sie, „aber das Kontrestin hat trotz dieser Flügel irgendwie Ähnlichkeiten mit einem Rochen, findest du nicht ?”
Er grinste. Der Wind, der komischerweise wieder über dem Tal wehte, zerrte an seinem dichten Haar, während sie höher und höher hinaufkletterten. „In entfernter Weise sind sie alle wie Fische!“ gab er zu. „Sicher kannst du dir jetzt vorstellen, dass so ein hocheleganter ‚Rochen’ ebenso schnell zu fliegen, wie durch`s Wasser zu sausen vermag!”
„Durch`s Wasser? ” wiederholte Margrit verblüfft und kletterte zu ihm in die kleine Felsnische, in welcher er es sich gemütlich gemacht hatte.
Er nickte. „Die meisten Fortbewegungsmittel der Hajeps sind Amphibien.”
Margrit staunte mit offenem Munde. Sie hatte sich vorgebeugt und ihr Gesicht, wenn auch etwas zittrig, zum Himmel gewandt und schaute zu, wie der ‚Rochen’ immer näher heransegelte und schließlich über ihnen schaukelte. Er hatte dazu seine mächtigen Flügel, oder sollte man eher sagen Flossen, weit aufgespannt, wohl um die Balance zu halten. Sie waren wie eine fein gesprenkelte Lederhaut, ließen sogar zum Teil das Tageslicht hindurch.
„Und du meinst, diese Schiffe befinden sich auf dem Heimflug?“ krächzte sie. „Wie kommst du darauf ?“
„Sie fliegen sehr niedrig!” erklärte er. „Du weißt ja, ich hatte dir für heute versprochen, die Schönheit ihrer vielfältigen Schiffe bewundern zu dürfen und ...voilá... sie sind schön, nicht wahr ? Das musst du zugeben!”
„Na, ich weiß nicht. Dieses hier ist zwar auffallend stromlinienförmig geschnitten, hat aber eine maisgelbe und ogangefarbene Haut. Selbst die Flügel sind in den gleichen Tönen gesprenkelt.”
„Das ist nicht gelb und orange, Margrit, sondern Gold und schimmernde Bronze.”
„Nein, das ist eine ekelhaft gelbe - entschuldige schon - an halb vertrocknete Haut erinnernde Farbe, mit der das ganze Ding überzogen zu sein scheint ! Und sie schimmert nur deshalb, weil die Haut so straff gespannt ist. Noch dazu ist diese komische Lederhaut überall mit unzähligen kleinen Narben, Verfleischungen, und Schwielen übersät.”
„Das sind Klappen für die Gleiter und Laderampen der Raketen, und es sind Luken und Türen, Margrit.”
„Luken? Türen? So kleine ?”
„Die sind unendlich dehnbar, dahinter sind zum Beispiel große gläserne Fenster und...”
„He, muss ich denn unbedingt so etwas als schön empfinden ?” Sie schüttelte sich. „Mir erscheint dieser Anblick eher abartig.”
„Abartig ?” rief er tief enttäuscht. „Sag doch dann lieber ungewöhnlich, denn man gewöhnt sich daran.”
„Oh Gott, kann man sich denn an so etwas Komisches gewöhnen ?”
„Müssen wir Margrit, müssen wir! Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben!”
Margrits Zittern, hatte sich inzwischen gelegt. Sie nickte mit einem Kloß im Hals. Wieder schlug das Ding mehrmals mit den riesigen Schwingen, diesmal wohl um nicht hinabzusinken.
„Kannst du dir vorstellen”, schmetterte George gegen den Luftzug, der deshalb entstanden war, „dass ein Volk, das solch einen Sinn für Ästhetik hat, selbst hässlich ist ?”
Sie senkte den Kopf und die langen Strähnen hüllten dabei ihr Gesicht fast völlig ein. „Wenn es eine ebensolche Haut hat ? Ja!”
Er lachte. „Dann bist du wie alle! Schon seit Jahrhunderten konnte sich der Mensch nichts anderes als hässliche Aliens vorstellen, Würmer, Fliegen, Käfer, schleimige, krakenähnliche Wesen und so weiter!“ Sein Gesicht wanderte angespannt mit dem Kontrestine mit. „War man ihnen gut gesonnen, was selten genug vorkam, mussten die Außerirdischen zumindest zwergwüchsig sein. Diese Theorie hat sich allerdings als nicht ganz abwegig erwiesen. Wir wissen heute, dass die Hajeps, lange bevor sie uns höchst persönlich auf- oder besser gesagt - heimsuchten”, er kicherte nervös, „ihr zwergwüchsiges Sklavenvolk, die Kirtife, für Forschungszwecke auf die Erde entsandten, da Raumschiffe solcher Winzwesen bekanntlich schwerer auszumachen und zudem wesentlich billiger sind als so große Schiffe, wie sie Hajeps brauchen.“
„Du meinst also allen Ernstes, dass in diesen Flugschiffen keine hässlichen Glibberwesen sitzen, sondern wunderschöne Menschen .... äh... Außerirdische ?” Margrit schaute zu, wie der ‚Rochen’ plötzlich seine Flügel an den Körper legte, sie sogar zu beiden Seiten in den Körper saugte und stattdessen Düsen die weitere Arbeit übernahmen. Das Kontrestin verschwand haargenau an jener Stelle über ihnen und hinter der Felswand, wie zuvor der andere Flugkörper.
George zuckte die Schultern. „Noch nie hat jemand, nicht einmal ich, Hajeps ohne ihre, ich gebe zu, recht eigenartig ausschauenden Uniformen, gesehen. Vielleicht spielen sie uns Menschen auch nur, weiß der Himmel warum, diese gewaltigen, muskelbepackten Körper vor und hinter der merkwürdigen Kleidung stecken in Wirklichkeit nur kleine Männchen mit verkümmerten Muskeln, so wie die Menschheit sich das auch schon immer vorgestellt hatte, mit irgendwelchen Schnäbeln oder Reptilienmäulern statt Mündern im Gesicht. Wir wissen im Grunde genommen noch gar nichts genaues über sie. Ich verstehe eigentlich selbst nicht, weshalb sie sich die Gesichter verhüllen und diese blattförmigen Spiegelglasbrillen vor Augen haben. Einige Menschen behaupten allerdings, sie hätten schon Hajeps ohne Brille gesehen, die Augenfarbe wäre übrigens rot!” Er lachte plötzlich prustend los. „Du solltest wissen, Menschen geben bösen Geschöpfen immer rote Augen!” gluckste er. „Tja, und dann haben sie, außer einer Maske noch so etwas Ähnliches wie ein hübsch verziertes Sieb vor dem Mund, die armen Kerle!”
„Die armen Kerle ?” ächzte Margrit und musste nun auch lachen. Beide lachten sie plötzlich schier um die Wette, sie wussten auch nicht warum, vielleicht lag es daran, dass das Erlebte des Tages wie ein Trauma für sie gewesen war, dass ihre überdrehten Nerven sich endlich befreiten, sich wieder entspannen wollten, und so hielten sie sich ihre Bäuche und immer, wenn sie einander in die roten komisch verheulten Gesichter starrten, konnten sie von neuem loslegen.
Das musste vielleicht seltsam ausgesehen haben für die Außerirdischen von dort oben, denn das nächste Schiff war inzwischen gekommen und verharrte vor ihnen. Margrit bemerkte es als erste, blickte halb erstickt auf das Schiff, denn ihr war der letzte Gluckser buchstäblich im Halse steckengeblieben.
„Was ist das ?” krächzte sie mühsam hervor und wischte sich die restlichen Lachtränen aus den Augen.
„Ach, das ist nur ein typisches Trestine”, erklärte George ebenso heiser. „Du siehst, es ist zwar flach gebaut, ganz wie das Kontrestine, jedoch ist seine Form nicht so eckig, wie die vom ‚Rochen’. Trestine ähneln eher sanft gerundeten Schollen. Hmmm, schade, dass man die Piloten, wo sie nun so schön nahe sind, wegen dieser undurchsichtigen Scheiben beim besten Willen nicht erkennen kann.” Er räusperte sich, um den ‚Frosch’ im Hals wegzubekommen.
„Ich möchte wetten, dass diese außerirdischen Piloten“, quietschte er, „im Moment genauso erstaunt sind wie wir.” Er hustete. „Die wissen bestimmt nicht, was sie jetzt mit uns machen sollen!” Er wollte schon wieder anfangen zu lachen, riss sich aber zusammen. „Aber Margrit bleib` ganz ruhig, die tun nichts, ohne es nicht zuvor ausdrücklich befohlen bekommen zu haben. Sie werden daher, nach kurzer Befragung ihrer Kommandozentrale, die uns sicher gleich als unwichtig abtun wird, wieder verschwinden.”
Tatsache! Kaum hatte George geendet, saugte das Schiff mit einem feinen Gurgelgeräusch den weichen Flügelsaum in sich ein und es schossen stattdessen - leise zischend - kleine röhrenförmige Düsen aus den grün schimmernden Hautwucherungen. Sie übernahmen wieder die Arbeit. Und so schoss das grün und blau gescheckte Ding aus dem Stand kurz nach oben und sauste dann horizontal - der elastische Bug war dabei starr und lang ausgestreckt - über den Gebirgsrand und ward nicht mehr gesehen.
„Donnerwetter!” kicherte Margrit. „Das war ja fast mit Lichtgeschwindigkeit!” Sie reckte den Hals, während sie aus ihrem Felsspalt hervorlugte und nach oben blinzelte.
„Schau lieber nach vorne, Margrit!” hörte sie George. „Denn jetzt kommt von da noch eines! Heeee! Heute ist ja richtig was los!”
Es war ein ganzes Geschwader, das sich ihnen näherte und in die Wolken eintauchte wie schimmernde, dahin segelnde Drachengeschöpfe. Die Perfektion, die in den ungewöhnlichen Flugschiffen lag, welche nun in einer Linie, exakt hintereinander erschienen, war nun auch für Margrit spürbar und eine leichte Gänsehaut rieselte über ihren Rücken.
„Ob all diese Schiffe von dem kleinen Dörfchen kommen, das sie vorhin überfallen hatten?“ übertönte ihre Stimme nur schwach den Lärm, der nun entstanden war.
„Das glaube ich nicht!“ brüllte er zurück. „So viele Mannschaften wären doch für die wenigen Häuser gar nicht nötig. Diese Schiffe werden von Erkundungsflügen zurückkommen. Es kann sich höchstens das Trestine, das gerade über uns stand, dem Geschwader angeschlossen haben. Mit solch einem könnten die Soldaten befördert worden sein, die das Dorf überfallen haben.“
Sie nickte und der Wind, der herannahenden Flugzeuge wehte ihr wieder die Haare ins Gesicht.
„Ich will jetzt endlich mal von dir ein lautes ‚Aaah’ und ‚Oooh’ der Bewunderung hören, da ich dir so viele Schiffe auf einmal bieten kann.“
„Aaaah !” ächzte sie jetzt genüsslich. „Oooooh ... ohuuuuuh, George, du bist ja so guuu-uuut!”
„Mein` ich doch.” Er grinste und wurde nun doch ein bisschen rot im Gesicht. „Du brauchst jetzt nicht mehr weiterzukeuchen, ich bin befriedigt. Ha, ich wusste doch, dass dir das gefallen würde!”
Noch zwei, drei weitere Schiffe folgten, dann hatte auch das letzte das Tal hinter sich gelassen und der Lärm verebbte allmählich.
Endlich war es still, ja, fast totenstill! Es schien so, als ob selbst die Vögel nicht mehr gewagt hatten zu zwitschern. Erst allmählich konnte das Tal und seine Umgebung aufatmen.
Auch Margrit und George nahmen einen tiefen Luftzug.
„Du meinst also, sie fliegen zu ihrem Stützpunkt, ja ?“ fragte Margrit, ganz der Mensch, dessen Mund selten stillstehen konnte. „Woher willst du denn das wissen?” hakte sie weiter nach, da er nicht geantwortet hatte, weil sie beide dabei hinunter kletterten.
„Sie können doch auch so niedrig geflogen sein, nur um hier in der Nähe irgendwo zu landen?“
„Ihr Stützpunkt ist ja auch ganz in der Nähe, Margrit.” Er hielt sie bei der Hand, wenn es zu steil wurde oder stützte sie von hinten. „Sie fliegen nach Osten, nach ‚Askonit’!“
„Aha! Askonit!” Margrit nickte und passte auf, dass sie nicht daneben trat.
Bald befanden sie sich in genau jener untersten Felsnische, in der sie vorhin zu allererst Zuflucht gefunden hatten.
„Weiß du, Margrit, die Loteken müssen sich sehr hüten, nicht weiter südlich zu kommen.” George grinste jetzt richtig hämisch, wie Margrit fand. „Ganz schlimm wäre es, sie kämen in die Nähe von Frankfurt!”
„Wieso ? Warum müssen sie sich denn hüten?” fragte sie.
„Ach, komm!” Er legte seinen Arm um sie. „Mir scheint, es wird bald dunkel! Lass´ uns einfach zusammen von hier aus nach unten springen, dann haben wir endlich wieder ebenen Boden unter den Füßen, ja ?”
„V.. von hier aus ? ” ächzte sie erschrocken und spähte in die Tiefe. Doch kaum, dass sie diesen Satz hinaus hatte, war er auch mit ihr hinunter.
Margrit lachte erleichtert, als sie unbeschadet gelandet waren, doch sie hatte dabei einen ihrer ausgeleierten Turnschuhe vom Fuße verloren und musste ihn sich erst aus dem weichen Sand hervorbuddeln.
„Warum müssen diese Trestine sich hüten, nach Frankfurt zu kommen, George ?” fragte sie abermals und schüttelte dabei den Sand aus dem Schuh.
„Na, dort befindet sich erst einmal das Dörfchen Eibelstadt und dann“, er machte eine kleine, fast feierliche Pause, in der er Atem holte, „nur noch wenige Kilometerchen davon entfernt, das schönste außerirdische Wohngebiet, dass es je gegeben hat, und darum ist es auch der Sitz ‚Scolos’!” Er keuchte, so aufgeregt war er jetzt geworden. „Was sagst du dazu? Dort ist die große Kontaktstelle der Hajeps! Hast du gehört? Der Weg zu ‚Pasua’ ist Zarakuma!”
„Warum musst du immer so schrecklich angeben, George ?“ Margrit schnürte sich den Schuh fest zu, dann richtete sie sich auf und starrte George wütend an.
„Du... du bist wirklich der aufgeblasenste, parfümierte Affe, der mir je begegnet ist, George! Paul hat ja so recht! Denn das kannst du alles ja gar nicht wissen!” entfuhr es ihr ebenso atemlos. „Niemand wusste und weiß es bis heute, wo genau der Sitz ‚Scolos’ ist.“
„Guck nicht so böse!” erwiderte er schwer beleidigt. „Erst ewig herumjammern, dass ich dir nie die Wahrheit sage, und dann richtig empört sein, wenn ich es tatsächlich mache! ” brüllte er zornig. „Dir ist wohl nichts recht, was ?”
„Du meinst also, es ist die Wahrheit? Dann würden wir ja mächtig in der Falle sitzen !“
„Wieso Falle ?“ echote er irritiert.
„Na, dann müsste es ja hier nur so von Hajeps wimmeln, denn schließlich hat dieses Volk ständigen Kontakt mit Scolo!“ kreischte sie hysterisch. „Das ist ja eine schöne Bescherung! Konnte natürlich wieder nur mir passieren! Normale Menschen entfernen sich von Hajeps, ich hingegen steuere ausgerechnet die Zentrale der Hajeps an! Fein!“
„Also, ich weiß gar nicht, warum du darüber solch ein Theater machst!” fauchte er entrüstet. „Wohin willst du denn mit deiner Familie ?“
„Nach Reichenberg!“ krächzte sie erschöpft und wischte sich mit dem Ärmel den Staub von der Stirn.
„Na, das ist doch gar nicht mal schlecht! Es ist sogar recht günstig, nach Reichenberg zu ziehen, da es eben in der Nähe ‚Scolos’ liegt! Hajeps sind Ästheten! Sie lieben die Ruhe und das Schöne! Schau dich um, ist dies hier nicht ein wunderbares Fleckchen Erde ? Niemals werden sie daher auf die Idee kommen, in diesem herrlichen Landstrich große Verwüstungen anzurichten. Allerdings wundert mich, was sie mit Hornberg angestellt haben”, murmelte er plötzlich so ganz nebenbei. „Na, egal! Hm, außerdem nehme ich nicht an, dass Hajeps auch nur irgendeinen Zug, der durch ihre Naturgebiete gefahren ist, wieder zurück lassen werden. Es gibt also kein zurück, Margrit! Nie mehr!“
„Zarakuma müsste ja demnach die Hauptstadt oder zumindest eine sehr wichtige Stadt der Hajeps sein“, überlegte sie verängstigt, „wenn es in dieser ein ‚Scolo’ geben sollte. Es dürften deshalb hier nicht wenige außerirdische Flugschiffe oder andere skurrile Fortbewegungsmittel überall zu sehen sein. Ja, vielleicht begegnen uns sogar noch eines Tages irgendwelche militärischen Einheiten zu Fuß!“
Tränen schimmerten plötzlich in ihren Augen. „Soll ich dann den Kindern vielleicht sagen: guckt mal, da oben ist wieder ein Geschwader unserer außerirdischen Eroberer nett unterwegs ...oder seht mal, da kommen gerade ihre Soldaten? “
„Warum nicht ?“ er grinste amüsiert.
„Aber ich habe ihnen doch versprochen, dass wir immer weniger Hajeps sehen werden. Was sage ich bloß Muttsch ?“ Sie wischte nun an ihren Augenwinkeln herum. „Und vor allem, was Paul?” Ihr Handrücken fuhr über die tropfende Nase. Zu spät reichte er ihr ein Taschentuch.
„Margrit, du meine Güte, ich kann dich überhaupt nicht begreifen! Du machst doch alles richtig!“ knurrte er völlig fassungslos, während sie sich in seinem Taschentuch gründlich ausschnaubte. „Ich dachte, du wärest wie ich und diese Botschaft würde deine Abenteuerlust befriedigen, ja, deinen Kämpfergeist erst richtig anfachen! Denn wir haben endlich die lang gesuchte Zentrale unseres schlimmsten Feindes gefunden!” Er versuchte sie begeistert anzulachen, aber sie schüttelte darüber nur wild den Kopf und trompete abermals in das Taschentuch hinein.
„Weißt du, wenn das nur wenige Hajeps gewesen wären, so kleine Hajepnesterchen, zu denen wir hinlaufen...”, sie hielt Daumen und Zeigefinger zu einem kleinen Spalt zusammen und ihm entgegen, „...das hätte ich ja noch in Kauf genommen, aber gleich so ein ganz riesiges gewaltiges Ding, wo sich Hajeps nur so tummeln!”
Und wieder verbarg sie ihre Nase im Taschentuch. „Also das muss ich einfach erst einmal echt verdauen! Schrecklich! Furchtbar! Ach Gott! Ach, ach !” ächzte sie. „ Aaah ... aach!”

„Du meine Güte! So übertreib doch nicht dermaßen! Stöhn` doch nicht so Margrit! Du bist ja völlig fertig mit den Nerven! War wohl die lange, anstrengende Flucht, was? Verdammt, was ist denn jetzt ? Sag` doch irgendein normales Wort!“.
„Aaaach, das Taschentuch, das duftet ja so gut ! Einfach köstlich! Welches Parfüm nimmst du eigentlich immer, George ?”
Er rieb sich den verspannten Nacken. „Mann, bist du anstrengend! Es ist kein Parfüm sondern Rasierwasser.“
„Gutes Rasierwässerchen, wirklich!” Sie kicherte jetzt ziemlich wild, wischte dabei aber immer wieder an den Augen herum. „Wie bist du nur zu so etwas Köstlichem gekommen ?“
„Ich verrate dir nichts mehr!” Er schob jetzt verärgert das Kinn vor.
„Schon gut“, sagte sie kleinlaut. „Hmm, aber wenn du über alles so genau bescheid wusstest, warum hast du dann die vielen Menschen im Zug nicht davor gewarnt, nach Frankfurt zu fahren? Die Hajeps wollen doch in solch einem wunderschönem Naturgebiet gewiss ganz unter sich sein, ihre Ruhe haben und von Menschen unbelästigt sein! Das muss doch irgendwie in einer Katastrophe enden, oder? ”
„Margrit, wie ich es bereits zu erklären suchte, ist es so, dass die Hajeps sich mächtig zerstritten haben, seit sie auf unserer Erde sind, und so könnte es sein, dass die Stadt Askonit selber Gerüchte in Umlauf gebracht hat, die Menschen würden hier im Hajepgebiet sicherer als woanders sein, nur um die unter lotekischer Herrschaft stehenden Gebiete ohne sonderliche Bemühungen mit einem Schlage menschenleer zu haben, damit sie diese möglichst bald für ihre eigenen Siedler nutzen können.“
„Wie schlau! Und warum hat Zarakuma selbst hier zuvor keine Menschen vertrieben?”
Er grinste seltsam. „Na, diese Menschen nutzte Zarakuma vielleicht irgendwie für sich aus ? Wer weiß ? ”
„Du weißt es!“ fauchte Margrit. „Hm, schon gut, ich frage nicht weiter! Aber diese Lügen verbreiten die ...äh... Loteken bestimmt mittels menschlicher Helfer!“
George nickte.
Margrits Augen blitzten ihn wütend aber auch ein kleines bisschen misstrauisch an. Wer war dieser George wirklich?
„Findest du sie etwa bewundernswert?“ Zum ersten Male zweifelte sie an ihrer eigentlich sonst immer recht verlässlichen Fähigkeit, Personen richtig einzuschätzen. „Zarakuma wird sich diese Menschenflut doch bestimmt nicht lange bieten lassen, unschuldige Leute werden letztendlich schon wieder dafür bezahlen müssen! Warum hast du niemanden davor gewarnt ?“
„Sollte ich mich lynchen lassen? Die Leute in den Zügen, waren doch im Grunde schon ganz verrückt darauf, mir den Hals umzudrehen.“ Er grinste unsicher. „Nur weil ich groß und kräftig gebaut bin und so viel über Hajeps weiß! Außerdem hätte ich niemals alle retten können! Wenn überhaupt, nur einen Bruchteil davon!“
„Werden alle sterben?“ krächzte Margrit entsetzt.
„Weiß ich es?“ entgegnete er frostig. „Bin ich Hajep?“
„Vielleicht?“ entgegnete sie sehr, sehr leise.
„Aaaha! Die Dame misstraut mir also schon wieder!“ Seine grünen Augen blitzten sie enttäuscht und traurig an. „Nach alledem hätt` ich das eigentlich nicht mehr von dir gedacht!“
Er räusperte sich. „Na, da kann man wohl nichts mehr machen! Misstrauen ist eine Krankheit“, er atmete tief durch, „die gerade in unserer schlimmen Zeit, die meisten Menschen befallen hat. Was an sich verständlich ist. Dennoch sollten wir nicht übertreiben, aber das hatte ich ja heute schon einmal gesagt, lassen wir das!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du solltest trotzdem wissen, dass ich zumindest bemüht war, eine ganz bestimmte Familie zu retten und vielleicht noch immer damit beschäftigt bin.“
George warf Margrit einen bedeutungsvollen Blick zu. „Doch die Frau aus dieser Familie zeigt sich dabei etwas störrisch. Wirklich, Margrit, es wäre wahrhaftig besser, wenn ihr in Zukunft nur noch auf mich hören würdet! Ja, es wäre sogar am Besten, ihr zöget gar nicht erst nach Reichenberg und kämet mit mir nach Eibelstadt.“
„Eibelstadt?“ Margrit machte große Augen. „B...bist du verrückt ?“
„Margrit, du sammelst doch Sprüche, dann solltest du dir vielleicht folgenden merken : Am sichersten sind die Hasen direkt neben dem Jäger! Na, was hältst du davon ?“
„Nichts, George!“ Sie starrte ihn an, als hätte sie einen Verrückten vor sich. „Darüber muss ich erst einmal nachdenken!“
„Ha, manchmal schadet zu vieles Denken auch! He, es ist mir wirklich zu mühsam, euch immer wieder hinterherzuhetzen, um nachzuschauen, dass euch auch ja kein Unheil geschehen ist!“ Er krauste die Stirn. „Ich kenne die Hajeps, glaube mir! Frage mich aber nicht“, er hob abwehrend die Hände, „woher ich diese Informationen habe.“
„Ja, ich weiß“, unterbrach sie ihn, „jetzt kommt wieder die Sache mit meiner Hysterie, habe ich recht ?”
„Immerhin eine gute Ausrede für mich, nicht wahr? Nein, die Wahrheit ist, ich bin eben auch ein kleines bisschen misstrauisch, zwar nicht dir gegenüber, aber diesem Paul!“
„Wa - aaas ?“ Margrit war so verblüfft, dass sie schallend auflachen musste. „Jetzt sag bloß“, prustete sie, „du hältst Paul für einen Hajep? Er hält dich nämlich auch für einen!“
Da fiel er in ihr Gekicher mit ein. „Das meine ich natürlich nicht. Aber ich kann ihm durchaus zutrauen, in bestimmten Situationen völlig unvermittelt und falsch zu handeln, wenn er etwas von mir erfährt. Und da du sehr gesprächig bist, wage ich nicht mir vorzustellen, dass kein verräterischer Laut, deinen Lippen entfleucht.“
„Danke für die Blumen!“ knurrte sie. „Also sind wir für heute quitt!“
„Ja, das könnte so hinhauen!“ Er grinste, dann sah er ziemlich nachdenklich ins Tal. „Ich werde noch einmal zu diesem See gehen und Wasser holen für meinen Verletzten.“
Margrit entdeckte jetzt erst, dass er ebenfalls eine Flasche in seiner Faust hielt, die er wohl gerade von seinem Gürtel gebunden hatte.
„Oh Gott!“ stieß sie entsetzt hervor und bemerkte, dass er sich schleunigst in Gang setzte. Sie wollte ihn festhalten. „Du kannst ja mein Wasser haben!“
„Das braucht doch ihr!“ Er hüpfte übermütig, wie ein junges Karnickel, ihren ausgestreckten Armen davon.
„He, ich habe aber Angst um dich!“ Sie trottete ihm hinterher. „Der See ist mir nämlich noch immer irgendwie unheimlich."
„Ja, ja und jetzt Bammel um den Hajep haben. Das haben wir gerne!“ Er grinste und lief dabei rückwärts. „Stell dir vor“, rief er, „das alles macht nun dieser schreckliche, fürchterliche Hajep für schnöde Menschen!“
Und dann drehte er ihr den Rücken zu und lief ziemlich schnell weiter.
Sie blieb stehen, sah ihm ein Weilchen hinterher, jetzt war er schon zu jener Stelle gelangt, wo sich noch vor kurzem zwischen Steine und Geröll ihr Fuß verhakt hatte. Wie schnell war doch die Zeit vergangen, in welcher er bis dorthin gelangt war, und wie endlos lang und qualvoll war ihr vorhin diese Strecke erschienen. Wieder warf er einen Blick zurück über die Schulter.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
„Das ist schon zum Kopfschütteln“, brüllte er noch weiter von ihr entfernt, dann nahm er den kleinen Steinwall in Angriff, „denn hier entfleucht dir ein Meisterkletterer, wie ihn die Welt noch nie ... aua... gesehen hat!“
Da musste sie doch lachen.
Wieder schaute er sich um. „Nicht kichern!“
Jetzt konnte sie ihn nur noch undeutlich verstehen. Die Steine hatte er jedenfalls hinter sich und es folgte nur noch dieser schöne weiche Sand.
„Margrit?“ Er drehte sich nochmals zu ihr um und blieb stehen. „Spreche mal mit Paul über meinen Vorschlag. Am Besten jetzt gleich! Kommt mit mir nach Eibelstadt! Er wird zwar nicht gerne einwilligen, aber ich glaube, es wird dir schon gelingen ihn zu überreden. Ihr braucht meine Hilfe, sonst...“, er wirbelte herum und lief weiter.
„Was sonst?“ schrie sie zu ihm hinüber. „Ach, George, willst du mir etwa drohen?"
Sie runzelte die Stirn und sah, dass er jetzt am See kauerte und die Flasche vollaufen ließ. Konnte er sie wahrhaftig von dort aus nicht mehr hören? Oder tat er nur so? Füllte er wirklich die Flasche für den Verletzten oder nur für sich selbst ? Hatte er den überhaupt mit ihren Sachen zugedeckt ? Warum wollte er sie und ihre Familie unbedingt begleiten? Konnte man sich von ihm leiten lassen, ganz gleich wohin er einen führte? Nachdenklich schaute sie George zu, wie er die Flasche verschloss. Gleich würde er zurücklaufen.
Nein, sie wollte nicht gemeinsam mit ihm den Weg zurück. Sie drehte sich um, lief mit einem Male sehr schnell, ja, rannte fast.

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