Das Licht der Hajeps
von doska

 

Kapitel 8

Kapitel 8

Sie versuchte ihre wohl etwas wirr gewordenen Sinne zu ordnen. Ihr war klar, dass die südlichen Einheiten wieder in kleinere Grüppchen aufgeteilt und dazu abkommandiert worden waren, ganz bestimmte Gebiete dieses Bezirks auf das Gründlichste zu durchkämmen. Wie schnell mochten diese Kerle zu Fuß sein ? Zu welcher Gruppe gehörten sie ? Zu den Rehanan oder zu den Nobos ? Wie dem auch war, Margrit musste weiter ! Mit weichen Knien setzte sich Margrit wieder in Bewegung. Wohin nur ... wohin ? Sie war immer noch durcheinander. Zudem hatte sie diesen unerträglichen Durst. Sie kam kaum noch voran ! Das ist wie in einem Albtraum.
`Los, gib dir wieder einen Ruck, noch ist es nicht zu spät !` schimpfte es in ihrem Inneren. Da wurden Margrits Schritte rascher, raumgreifender, sie rannte wieder ... einfach diesen schönen Stimmen davon. Gleichmäßig und ruhig war der Rhythmus ihrer Füße geworden, als sie der Schule näher kam. Hier war eine herrliche Allee, in der, wie Soldaten - oh, wie passend - schön in Reih und Glied, junge Birkenbäumchen standen. An einer struppigen Hecke, die als Sichtschutz für die Terrasse dahinter diente, bremste Margrit, etwa dreihundert Meter vor dem Schulhof, um Atem zu schöpfen. Sie schloss dabei die Augen, um wieder wenigstens für einen kurzen Moment zur Ruhe zu kommen.
Überall summten inzwischen Gleiter - wie immer ausgesprochen melodisch klingend - durch die Straßen der Stadt. Befehle waren zu hören, aber auch lautes, wohl menschliches Geschrei und Gezeter, unterbrochen vom Prasseln und Knattern außerirdischer Gewehre.
Margrit versuchte dagegen abzuhärten. Na, wenigstens hier hörte sie keine Fußtruppen mehr. Sie nahm schließlich auf der Steineinfassung des Grundstückes völlig erschöpft Platz, auch um endlich den Sand aus den Augen zu bekommen, den sie sich wohl mit dem Ärmel versehendlich hineingewischt hatte, doch nach etwa drei Minuten war sie wieder hoch. Ein kurzes Zischeln aus einer der ganz in der Nähe liegenden Straßen war zu vernehmen gewesen. Etwa Schüsse ? Sie keuchte. Wurden jetzt auch direkt hier Menschen erwischt ? Sollte sie schnellstens über die Steineinfassung, über den Rasen und dann über die Terrasse hechten, die Scheibe zerschlagen und mitten in dieses Reihenhaus hinter sich hinein ? Fliegen konnte man aber später nicht, wie manchmal in ihren Träumen, wenn dort die Eingänge erst einmal in Beschlag genommen waren, höchstens von oben aus dem Fenster springen, aber dann durfte es nicht so hoch sein.
Jetzt glaubte sie von rechts, also von östlicher Seite her, ebenfalls diese ungewöhnlich heiseren und schönen Stimmen zu hören, die Befehle erteilten und dann wieder die Antworten vieler, anscheinend recht wilder Männer, die alle zugleich parierten. Sie biss sich auf die ohnehin schon viel zu zerfetzte Lippe und lief kurzentschlossen weiter auf das Schulgebäude zu. Doch weiter entfernt als gedacht ! Es war schon schlimm, denn Margrit spürte vehement, wie ihre Kraft nachließ. Jetzt hörte sie helle Pfiffe, sie klangen wie ein Zwitschern, doch waren sie viel zu rhythmisch, um von einem Vogel zu stammen. Zögernd und ratlos setzte sie nun einen Fuß vor den anderen. Am lautesten schien es komischerweise genau aus der Richtung zu fiepen, in welche sie hatte laufen wollen. Waren die Hajeps etwa in dem Schulgebäude ? Oder schlichen sie nur in den Nebenstraßen herum ? Hatten Menschen den gleichen Gedanken gehabt wie Margrit und sich in der Schule versteckt ? War man ihnen schon auf der Spur ? Konnten Hajeps Margrit etwa vom Schulgebäude aus bereits sehen ? Da hastete sie doch lieber den Weg zurück, bog um die Ecke ... dort war ein Zeitungskiosk ...da hinein ? Ach, Quatsch ! Oder in ein Auto ... dieses kaputte da ? Ginge möglicherweise, wenn das offen war und sie sich drinnen ganz klein machte, liefen die Hajeps vielleicht später daran vorbei ! Sie blieb nach Atem ringend stehen. Komischerweise bekam sie immer weniger Luft für ihre Lungen.
Das rhythmische Pfeifen von hinten aus dem Schulgebäude hatte sich plötzlich in einen lauten und lang anhaltenden Pfeifton verwandelt ! Türen gingen, sofort folgten herzzerreißende Schreie einer Frau und dann die eines Mannes. Er brüllte ... ja er brüllte in etwa wie ein Tier ! Margrit zitterte, klapperte mit den Zähnen und tat nun genau das, was eigentlich sonst immer Dieterchen nur machte. Sie hielt sich nämlich einfach die Ohren zu, denn sie konnte ja nicht helfen. Dennoch drangen die Schreie bis zu ihrem Trommelfell durch, schließlich vernahm sie das typische kurze Prasseln, dann Stille und kurze Zeit danach hörte Margrit wieder das rhythmische, fast heitere Pfeifen, diesmal im Freien auf dem Schulhof! Also, war`s wieder Mal erledigt, ging die Hatz auf andere Menschen weiter !
Nach einem kurzen Heulkrampf versuchte sich Margrit endgültig von dieser recht blitzartigen Hinrichtung abzulenken. Die Idee mit der Schule war eben keine so gute gewesen ! Tja. .. Pech gehabt ... aus und fertig! Verdammt ! Plötzlich kam ihr ein Gedanke. He, womöglich war es besser, wenn man sich stellte, war doch vorhin bei diesem Paar eigentlich schnell gegangen ?
Jetzt kam ein ziemlich nahes Pfeifen auch noch von rechts. Ein weiteres Trupp stieß also zu den Kameraden, die noch immer auf dem Schulhof waren. Himmel, was suchten die eigentlich da ? Das weckte Margrit schlagartig aus ihrem halb apathischen Zustand, denn wer sagte ihr, dass man sie sofort erschoss ? Sie suchten ja auch nach Sal ... na, dem Zeug, das sie wohl irgendwie aus den Menschen gewannen. Es kam wohl ganz darauf an, in wessen Hände man dabei geriet. Ihr fiel automatisch das dramatische Ende ihrer besten Freundin ein. Marianna, ja, sie sah jetzt sogar das Bild von damals vor sich. Diesen aufgesägten Schädel von ihrem Freund ... schon rüttelte Margrit entschlossen an der Tür des kleinen Sportwagens, aber die war zu verbeult und verrostet, ging nicht mehr auf.

#

Verzweifelt und mutlos, die dürren Arme hoch erhoben und im Nacken verschränkt, humpelte Muttchen durchs Laub. Lange würden das ihre armen, alten Beine nicht mehr durchhalten, aber sie mussten es noch schaffen bis zum Wald, dessen Wipfel man schon von hier aus hinter einem der großen Grashügel sehen konnte. Von dort aus hatte auch der Wind bereits das Knattern der Gewehre und die anschließenden furchtbaren Schmerzensschreie der tödlich getroffenen Menschen Muttchen zugetragen. Ja, sie glaubte jetzt sogar, dass ihr der Geruch von Blut und Rauch zugeweht wurde. Tränen traten ihr in die Augen. Dann sah sie, wie die nächste Gruppe Menschen, es waren diesmal vorwiegend jüngere Leute, die wesentlich schneller als Muttsch laufen konnten, den Hügel hinauf getrieben wurde.
Den Kater hatte Muttsch schon seit einem Weilchen nicht mehr bei sich.. Munk war nämlich vorhin, kaum dass die Hajeps seinen Käfig geöffnet hatten, um das ihnen wohl fremdartig erscheinende Tier gründlicher in Augenschein zu nehmen, einfach in`s Freie gehopst. Einer der umstehenden Soldaten hatte zwar den Fehler gemacht, ihn noch in letzter Minute hochnehmen und festhalten zu wollen und wohl nicht damit gerechnet, was Katzen so alles fertig bringen können, wenn sie meinen, in allerhöchster Lebensgefahr zu sein. Vor Schreck hatte der Jimaro dann auch die beißende, fauchende und mit sämtlichen Pfoten nach allen Seiten kratzende Bürste auf den Boden fallen lassen, von wo aus sie dann wie der Blitz ins nächste Gebüsch zischte. Muttchen schmunzelte, obwohl ihr die Tränen die alten Wangen hinabflossen, nun doch so ein bisschen darüber. Wenigstens hatte der Kater es denen mal tüchtig gezeigt, ha! Zu schade nur, dass diese Kerle immer eine kaum zerstörbare Uniform trugen.
Hinter sich hörte Muttchen die tapsenden, unsicheren Schritte der Kinder und das Rascheln von Blättern. Tobias hatte den Kopf gesenkt und ebenfalls seine kleinen Ärmchen im Nacken, genau wie Julchen. Die Kleinen waren völlig fertig. Ihre Augen waren dick geschwollen vom vielen Weinen. He, nicht einmal die Nase durfte man sich wischen. Sonst bekam man sofort von Diguindi – ja, es war jener Diguindi, den sie damals aus dem komischen Kontaktgerät gehört hatten, Julchen und Tobias hatten seine Stimme sofort wiedererkannt – das Gewehr zwischen die mageren Rippen gepresst und das tat furchtbar weh. Auch Julchen hatte bereits überall blaue Flecke.
Es war natürlich klar, dass Diguindi Tobias ganz besonders furchtbar böse war. Na ja, vielleicht hätte Tobias das mit dem Blaui vorhin lieber doch sein lassen sollen ? Den hatte er nämlich Diguindi direkt an den Kopf (wohl eher Helm!) geworfen, kaum dass der es gewagt hatte, in den voll besetzten Bus hinein zu schauen, kurz nachdem seine Kameraden diesen gestoppt hatten, indem sie den Busfahrer einfach erschossen.
Sämtliche Passagiere hatten danach aussteigen müssen und Tobias wurde von Diguindi aussortiert. Er kam an dessen Seite und nicht nur Tobias auch Julchen hatten deswegen fürchterlich geheult und herumgeschrien und Muttsch hatte schließlich gar keinen Ton mehr hervorbringen können, da sie plötzlich unter einem fürchterlichen Herzanfall gelitten hatte. Dann war die Sache mit dem Kater passiert und so wurde auch Muttsch zur Strafe, weil das ihr Kater gewesen war, von Diguindi einfach aussortiert. Na ja, und Julchen, die hatte sich dann schließlich ganz von allein zu ihrer Familie und somit zu Diguindi gesellt, was Diguindi erstaunlicherweise völlig gleichgültig war.
Dieser Diguindi war überhaupt ziemlich komisch, wenn man das recht bedachte. In dieser halben Stunde, die sie nun schon über die Wiesen liefen, schnauzte er zwar bei jeder Kleinigkeit wie wild herum, während er die kleine Familie vor sich her trieb, sodass man das meilenweit hören konnte, aber ansonsten geschah weiter nichts Schlimmes, ganz ohne Scheiß.
Die anderen Hajeps waren viel schneller, hatten inzwischen wahnsinnig viele Leute zu großen Gruppen zusammen getrieben, dabei auch immer wieder Busse und Autos angehalten und geleert und diese nun an Diguindi vorbei den großen Hügel hinauf und in den Wald getrieben. Tja, der Diguindi ließ sich eben Zeit, hielt sogar manchmal inne, wenn zum Beispiel Muttchen für einen kurzen Moment verschnaufen musste, oder wenn Julchen über irgendetwas gestolpert war. Aber, und das war wirklich zu komisch, kam nur irgendjemand von seinen Kameraden vorbei und der schaute vielleicht auch noch etwas genauer hin, wurde er wesentlich ungeduldiger. Trotzdem hatte Tobias Angst, denn jetzt konnte man immer besser die schrecklichen Schreie aus dem Wald heraus hören und diese vielen knatternden Schüsse ... wieder und immer wieder ! Ach, Tobias wollte gar nicht wissen, was dort geschah. Vorsichtig lugte er nun über die Schulter zu Diguindi hinüber. Nichts, rein gar nichts konnte man hinter dessen Helm und Maske erkennen. Tobias kleines Herz pochte, als er den Hajep trotzdem mit seinen großen Augen fragend anschaute. `Was hast du vor ?` fragte Tobias stumm. Vorsichtig ganz vorsichtig zog Tobias den Schnodder in der Nase hoch, während er weiterhin den großen, starken Mann hinter sich bittend anstarrte. Julchen sah, was Tobias vorhatte und wurde nun auch langsamer, schaute zu Diguindi hinüber und wagte ein kleines Lächeln. Da er keine Reaktion zeigte lehnte sie sich schließlich so ein bisschen gegen Diguindis Hüfte. Das war wohl zuviel für den Hajep.„Dus, xondra en skirko takinis !“ fauchte der los und das hörte sich an wie das gewaltige Brüllen eines
Löwen. „Galet udil ! Xondra dawu !“
Natürlich hatte niemand etwas verstanden, aber die wütenden, abweisenden Bewegungen hatten genug bewiesen.
Sofort ließ die kleine Familie erschrocken von ihm ab, ja sie beeilte sich sogar ihm schnellstens voran zu laufen.
Nach etwa einer viertel Stunde hatten sie den Hügel erreicht. Der Geruch von Blut war jetzt noch viel intensiver geworden. Julchen begann sich deshalb zu würgen, doch ihr Magen brachte nichts mehr hervor.
Schon hatten sie den schrecklichen Hügel erklommen. Muttchens dürre Beine zitterten, denn sie wusste, was sie dahinter zu sehen bekommen und auch am eigenen Leibe erwarten würde, als ihnen einer der Hajeps von oben entgegen kam.
„Tjufat Diguindi ?“ brüllte der und die Familie erkannte erschrocken, dass das die Stimme des Rekomps Nireneska war.
„Akir !“ Diguindi versuchte, so gut es ging, auf diesem schrägen Hügel Haltung anzunehmen.
„Djagba ! Ukam tur !“ schnauzte der Rekomp. „Wona jukon da len te Jink, chesso ?“
„Hm ... Chesso ! Pla wan ta ir ad !“ Diguindi wies in die Richtung aus welcher der Rekomp gekommen war, er zögerte, ehe er seine Bitte hervor brachte. “Bani noi rug teten lumantis len tetu itizur ?” Er wies nun zur anderen Seite des Hügels hin und diesen hinab.
Nach kurzer Überlegung nickte der Rekomp zustimmend, wendete sich ab und lief wieder den Hügel hinauf und von dort ins Tal, wo auf`s neue Schüsse und Schmerzensschreie zu hören waren.
Diguindi hingegen stapfte mit der Familie nun die andere Seite hinab, wo zwar auch ein kleines Wäldchen war, jedoch weiter entfernt. Unten angekommen trieb er sie erst einmal über eine große Wiese und dann kamen sie zu einer großen, starken Eiche, die dort ganz vereinsamt stand. Ein Maulwurf hatte direkt hier gewühlt und Diguindi schulterte sein Gewehr und besah sich drei dieser prächtigen Hügel erst einmal gründlich – wahrscheinlich war er neugierig -, dann holte er eine kleine Schippe aus seinem Gürtel und trug noch etwas Erde von den übrigen Maulwurfshügeln zusammen. Die Familie fand das zwar recht eigenartig, wagte aber nicht ihn dabei zu stören. Mucksmäuschenstill blieben sie unter der Eiche stehen und schauten ihm dabei zu. Diguindi vergrößerte die drei kleinen Häufchen. Die übrigen Maulwurfshügel, welche noch in der Nähe waren, trampelte er ziemlich aufgeregt flach. Dann betrachtete er sein Werk und schüttelte doch irgendwie verzweifelt darüber den Kopf. Seufzend nahm er wieder das Gewehr von der Schulter und visierte die Familie an, zuerst Muttchen, die hielt sich jetzt das Herz, dann Tobias, der zog den Schnodder in der Nase hoch, danach Julchen, die dabei an ihrem Ärmel zu nagen begann. Er seufzte abermals und senkte den Lauf.
„Höt zu !“ sagte er nach einer Weile des Nachdenkens. “Isch feuererere jetzzzt sechs Schusse in die luftig !“ Er holte tief Atem, so aufgeregt war er. “Unt ihr ... ihr schrrrait gaaanz doool .... serr, serr dool ! Verstandin !“
„Verstanden !“ riefen die drei fast gleichzeitig.
„Krikt jeetzzzt keinin Schrick!“ Und schon legte Diguindi los, wüste Schimpfworte in seiner Sprache vor sich hin brüllend schoss er einfach irgend wohin in die Luft. Und die Kinder und Muttsch schrien und jammerten dabei, was das Zeug hielt. Doch dann geschah etwas, womit sie leider nicht gerechnet hatten. Diguindi schaute sich erschrocken um, denn er hatte in einem der Rückspiegel, welche sich an seiner Waffe befanden, Rekomp Nireneskas Helm hinter dem Hügel auftauchen sehen und dann kam auch schon dessen Maske zum Vorschein und schließlich auch seine breiten Schultern und dann war der ganze Kerl da. Er lief den Hügel direkt zu Diguindi hinab.
„Noi jato da auka raot ! » rief er schon von weitem aufgeregt. „To juko nenzo ter Xulos ir Gilgam rawanga ! Galmanokimir “
Diguindi nickte und wies mit einer stolzen Bewegung auf die drei Maulwurfshügel. Der Rekomp zeigte sich verwundert.
„Hich, Diguidiii !“ rief er aus. „ Moa Widava !“ Er gab ihm anerkennend mehrere „Knuffis“ mit dem Ellenbogen in die Rippen. „To onnope kontriglus el palta !“ zischelte er begeistert hinter seiner schnabelartigen Maske hervor. Dann wendete er sich wieder um und lief den Hügel empor. Hinter welchem erneut die Schüsse seiner Männer zu hören waren.
Muttchen glaubte zu erahnen, was Diguindi soeben seinem Rekompen weiß gemacht hatte, nämlich, dass er die kleine Familie nicht nur erschossen, sondern auch noch zusätzlich deren Leichen sofort zu ordentlichen kleinen Erdhäufchen verarbeitet hatte. Über die Tierwelt des Planeten Erde schienen wohl nur die wenigsten Hajeps Bescheid zu wissen und so hatte Diguindi auch noch ein Lob für seine „Sauberkeit“ von Rekomp Nireneska erhalten. Muttchen verstand allerdings nicht, denn das ganze war so furchtbar schnell gegangen, wie sie so plötzlich bis ganz nach oben in die dicke Eiche gekommen war. Sie saß sogar noch höher als Tobias auf einem kräftigen Ast direkt über ihm und Julchen befand sich auf der rechten Seiten von ihr, ganz in der Nähe des Baustammes, auf einem etwas dünnerem Ast als der, an welchem sich gerade Tobias mit seinen Beinen und Ärmchen festgeklammert hatte. Das dichte, bunte Laub der Eiche verbarg die kleine Familie fast völlig, aber die Höhe war ganz enorm. Niemand von ihnen traute sich jetzt so recht wieder hinunter. Würde man beim Hinabklettern vielleicht hinabstürzen, schrecklich tief, und sich dabei die Knochen brechen ?
„Jeetzzzt ihr kannt los lassin !“ wisperte Diguindi zu ihnen hinauf.
„Neieeein !“ krächzte Tobias.
„Abar doooch, abar doooch !“ knurrte Diguindi ungeduldig. „Kainee Fuischt !“
Und ganz so wie vorhin streckte der Hajep nur den Arm nach Tobias aus, bläuliches Licht erschien hinter seinem Helm und eine sonderbare Kraft hob nun leider nur Tobias Hintern etwas an. „Loss lassin haber isch gesakt !“ schimpfte Diguindi von unten.
„Naaa gut !“ ergab sich Tobias schließlich doch und dann wanderte das kleine Kerlchen zur Erde.
Auf diese Weise holte Diguindi einen nach dem anderen vom Baum. Pflückte sie sozusagen wie Äpfel. “Unnt
nunn ihr werrdet laufen in tiesen Wallld unt dort bleibin die gase Naacht ! Verstandin ?“
„Verstanden !“ antwortete die kleine Familie.
„Morgän schleischt ihr daaan noch Reickenbreg. Tiesen Menschänn tun wir namlisch nixts ! Fengi pa itun. Läbt woll!“ knurrte er und dann wendete er sich einfach um und verließ die kleine Familie, so schnell er nur konnte.

#

Margrit hatte indes einen großen Umweg an dieser grässlichen Schule vorbei gemacht, um nun doch endlich zu dem Baugrundstück, den Lagerhallen und dem Selbstbedienungsladen zu kommen. Das ist wohl jetzt doch das Beste, sagte sie sich jetzt. Sofern alles dort war, wo sie es vermutete. Aber durch die vielen Haken, die sie hatte schlagen müssen und durch die Umwege hatte sie weitere Bushaltestellen kaum mehr als Richtschnur nehmen und diese auch schwer wiederfinden können. Aber das Baugrundstück musste jetzt einfach kommen. Schließlich hatte sie die gesamte Umgebung lange genug danach abgesucht !
Plötzlich, es erschien ihr wie ein Wunder, sah sie hinter einer Häuserreihe den großen Platz. Sie lächelte und machte wieder einen tiefen Atemzug vor Erleichterung und dann begann sie noch ein bisschen schneller zu laufen. Ach, es war schon komisch, dass hier immer noch ein großer Kran stand, wie für die Arbeit bereit. Allerdings schlängelten sich allerlei Pflanzen an ihm empor und er war ein wenig auf die Seite gekippt, lehnte zum Teil an einem halbfertigen Haus und an einem jungen aber starken Baum. Zwar war Würzburg eine der wenigen noch relativ gut funktionierende Städte gewesen, so wie auch Coburg und Bamberg, und deswegen waren ja die Menschen gewiss bis hierher geflohen, doch hatte sich wohl nach und nach herum gesprochen, dass sich auch hier Außerirdische angesiedelt hätten. Das hatte den Menschen vermutlich ganz allmählich die Hoffnung geraubt, zudem mochte es wohl immer weniger Möglichkeiten gegeben haben, mit anderen, weiter entfernten Städten Handel zu treiben, und so hatte man wohl schließlich auch keinen Grund mehr gesehen, diese eigentlich recht hübschen Häuser fertig zu stellen. Margrit löste sich von der Fliederhecke, hinter welcher sie gerade gestanden hatte und lief nun direkt auf den Platz zu, wo ihre müden Augen endlich die eingezäunten Lagerhallen und ein Büro ausmachen konnten.
Sie musste jetzt nur noch durch das riesige Tor. Doch als sie die Klinke herunterdrückte, merkte sie, das es abgeschlossen war. Sie blickte auf das Schild, auf dem groteskerweise Öffnungszeiten standen und lachte sich selber aus. Das ist die Panik, die mir allmählich den Verstand rauben will, dachte sie. Der Zaun war zu hoch, um einfach darüber zu klettern und noch zu gut im Stande um ihn niederzureißen. Also zurück zu den Häusern oder lieber hier in den Selbstbedienungsladen rein ? Vielleicht war der auch nicht auf ? Egal ... sie musste jetzt irgendwo hin.
Sie lief ein gutes Stück am Zaun vorbei - oder lief sie in Wahrheit gar nicht ? Sie hatte plötzlich das Gefühl, als käme sie überhaupt nicht vorwärts ? Der hohe Zaun sah nämlich immer gleich aus! Sie schwitzte zum Gotterbarmen und versuchte sich einige Dinge einzuprägen, um zu sehen, dass sie sich überhaupt von der Stelle bewegte und stellte fest, dass sie sich wohl doch weiterschleppte und so blickte sie auch ab und an zu den übrigen halb fertigen Häusern hinauf, die rings um den Selbstbedienungsladen, einem Flachbau, standen. Vielleicht sollte sie besser in eine dieser Ruinen verschwinden ? Womöglich suchten die Hajeps in halbfertigen Gebäuden nicht nach Menschen, weil es dort zu gefährlich werden konnte ?
Plötzlich glaubte sie, eine Bewegung oben in dem Hochhaus ohne Dach wahrzunehmen. Ihr Herz zuckte zusammen. Sie blieb stehen. Stimmte das tatsächlich oder hatte sie jetzt Haluncinationen ? Sie kippte – wie immer mit bebenden Fingern - ihre Brille etwas an, um besser sehen zu können und ihr Herz krampfte sich zusammen. Tatsächlich ! Hinter dem schmalen Flurfenster in der sechsten Etage stand eine große Gestalt. Sie schien Margrit mit einem Gerät anzuvisieren. War es ein langes Fernrohr oder ..? Jetzt zog er - es war wohl etwas Männliches ! - sogar seinen Kameraden ans Fenster und er schien ziemlich erregt auf Margrit zu weisen.
Margrit keuchte entsetzt, preschte mit einem riesigen Satz am Selbstbedienungsladen vorbei, und jagte mit rasselndem Atem zum entgegengesetzten Häuserviertel. Mein Gott, war sie fertig, denn etwa eine dreiviertel Stunde war sie inzwischen wieder gerannt. Jetzt schleppte sie sich schneckengleich durch irgendeinen Hinterhof. Vielleicht starb sie ja an Erschöpfung noch ehe man sie hatte ! So etwas sollte schon vorgekommen sein und dann sparte sie sich die ganze Hinrichtung.
Ach, es sah hier zynischerweise alles so idyllisch aus! Die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel und tauchte das Laub des Hofes in ein goldenes Licht. Helle rhythmische Pfiffe außerhalb des Hofes, rund um dieses Karree, trieben Margrit jedoch in den Schatten und weiter zur nächsten Häuserfront.
Sie waren also auch dort ! Konnte Margrit überhaupt noch den Hof verlassen ? Schmerzensschreie tönten plötzlich irgendwo hinten im Hof. Jemand hatte wohl über den Keller versucht, in diesen zu gelangen und brach nun auf dem Parkplatz unter einem prasselnden Geräusch zusammen.
Margrit hörte kurz danach die typisch heiseren Stimmen der Hajeps und dann schnelle Schritte durch den Hof huschen. Verdammt kamen sie etwa hierher ? Womöglich sah man sie, wenn sie das schützende Dickicht verließ!
Also blieb sie mitten im Busch hocken, wo sie gerade war. Dann tönte weiteres Pfeifen auch aus dem kleinen Garten, der hinter dem Spielplatz direkt an dem Hof grenzte und dann das zu Tode erschrockene Kreischen einer Frau, die nun wohl aus irgendeinem Versteck hervorgezerrt wurde. Margrit glaubte zu hören, dass sich diese mutige Frau wehrte, sehr zum Amüsement der Hajeps. Das konnte man gut an der Tonlage, in der sie auf sie einredeten, erkennen. Jedoch begann sie die Männer bald zu langweilen und schon vernahm Margrit das dumpfe Geräusch heftiger Schläge und Tritte auf einen Menschenkörper. Nun hörte Margrit überraschtes, schmerzerfülltes Stöhnen und schließlich die Frau um Gnade winseln. Margrit wollte sich gerade wieder die Finger in die Ohren stecken – ach, sie kam sich ja so furchtbar feige vor - da wurde es endlich still ! Einige Minuten später vernahm Margrit ein Pfeifen aus der obersten Etage des Mietsblockes direkt gegenüber von ihr und dann auch dort Schreie.
„Nein, nein, neiiiiiiiin... !“ hörte sie einen jungen Mann und dann eine Tür zuschlagen. Es rumpelte ... dann schien es Margrit so, als würden fast gleichzeitig überall in dem gesamten Häuserblock Türen aufgerissen werden. Harte - und zugleich wunderschöne - Männerstimmen erklangen und feste, entschlossene Schritte waren zu hören, aber auch welche, die verzweifelt zum Beispiel die Treppen hinunter oder hinauf hetzten oder durch sämtliche Wohnungen preschten. Es half alles nichts. Ziemlich schnell hatte man jeden Flüchtling gefangen und an Ort und Stelle exekutiert. Einige flehten noch und bettelten, winselten um Erbarmen, aber es wurde ihnen kaum zugehört.
Jetzt sah Margrit, wie im obersten Stock der dritten Etage plötzlich ein Fenster aufgerissen wurde, ein junger, blutüberströmter Mann in zerrissener Kleidung kletterte auf das Fenstersims ... und dann stürzte er sich einfach in die Tiefe. Leblos blieb er unten auf dem Plattenweg liegen.
Zwei breitschultrige Hajeps mit den typischen Spiegelglasbrillen und schnabelartigen Masken im Gesicht blickten kurz danach aus dem Fenster ihm hinterher. Einer der beiden Soldaten, zog seine Waffe – oder was war das für ein Ding ? - und feuerte damit auf die Leiche. Es machte : „Trrrrrrinnnnkzzzz !“ und ein blauroter Feuerstrahl wanderte von oben herunter und dann den ganzen Leichnam entlang. Dampf stieg auf, als der Tote weiß aufzuglühen begann. Immer weiter wurde er von den Hajeps bearbeitet. Sekunden später zeugte nur noch ein Aschehäufchen davon, dass dort einst ein Mensch gelegen hatte. Der Feuerstrahl von oben hatte sich indes in eine schwarze kremige Masse verwandelt die prasselnd auf den kleinen Haufen spritzte und schon war die Asche zu schwerer dunkeler Erde geworden.
Danach waren die Jimaros wieder im Inneren des Hauses verschwunden, wo sie gewiss ihren Kameraden halfen, die makabere Hatz fortzusetzen, was wenig später auch ganz deutlich zu hören war, denn immer wieder entdeckten sie auf`s neue Menschen. Margrit kauerte in dieser Zeit, die ihr endlos lange vorkam, noch immer in ihrem Busch und muckste sich nicht, obwohl ihr sämtliche Glieder schon abgestorben zu sein schienen, denn sie hatte Angst, dass man sie vom Fenster aus vielleicht doch noch entdecken konnte. Gleichzeitig ahnte sie aber auch, was noch kommen würde. nämlich eine genauere Durchsuchung des Hofes, wie die Jimaros das ja erst kürzlich mit der Schule Margrit vorgeführt hatten. Also musste sie sich doch überwinden und irgendwann einmal von hier weg und zwar rechtzeitig. Margrit kroch langsam und vorsichtig, sich nach hinten zurückziehend, ins Freie, die Häuser auf allen Seiten dabei nicht aus den Augen lassend, humpelte über den kleinen Spielplatz, da ihr die Glieder völlig eingeschlafen waren, hievte sich kurzentschlossen über den ziemlich niedrigen Gartenzaun, flitzte an der blutüberströmten Frauenleiche vorbei - komisch, diese Tote hatten sie nicht in einen Humushaufen verwandelt ? - schaute der aber nicht ins Gesicht, - nein, diesen Anblick, wie damals, würde sie nicht noch einmal aushalten - lief quer durch deren Garten, öffnete dort das Tor, das die Hajeps beim Verlassen des Grundstücks nur angelehnt hatten und hastete dann wieder den Bürgersteig entlang an weiteren Gärten und Villen vorbei, einfach irgendwo hin.
Sie ahnte, dass sie zwar wie ein Fisch in der Reuse steckte, doch sie wusste auch, dass sie noch nicht völlig verloren war, solange sie sich nicht aufgab. Sie war aber auch zu dem Resultat gekommen, dass ihr magerer Körper diese Hetzerei nicht mehr lange aushielt. Es hatte keinen Sinn mehr immerzu im Zickzack zu laufen. Sie musste sich entscheiden, endgültig verschnaufen, unbemerkt irgendwo ausruhen. Doch es gab nichts, was ihr sicher genug erschien. Nach ungefähr einer viertel Stunde waren die Hajeps sogar so nahe, dass man von allen Seiten ihre Stimmen, manchmal sogar ihre Schritte hören konnte ! Und plötzlich wurde Margrit klar: Hier war die Stadtmitte! Die Hajeps trafen sich allesamt hier, hatten die Bezirke im Osten, Westen, Norden und Süden gesäubert und freuten sich nun auf das anstehende Ende dieser Hatz.
Margrit schaute zum Himmel hinauf und siehe da ... auch dort oben gab es ein sicheres Zeichen dafür, dass Margrit in das Zentrum der Stadt gelangt war, dort trudelte nämlich der kugelförmige Beobachter der Hajeps, der die ganze Stadt von der Mitte aus kontrolliert hatte. Er verhielt brav nur auf einer Stelle, drehte sich um sich selbst, während er über dem Rathaus schwebte, genau über jenem Wahrzeichen, von welchem aus der mittelalterliche Teil Würzburgs begann. Seine seltsamen Geräusche vermischten sich mit dem Lärm von unten, der beständig lauter wurde. Da war inzwischen ein Wirrwarr von Pfeiftönen zu hören, das bis an die Schmerzgrenze von Margrits Ohren ging. Es gab Hajepgruppen, die plauderten dennoch munter miteinander, wahrscheinlich über die Sender in den Helmen oder sie riefen durch die schnabelartigen Masken einander von weitem etwas zu, sobald sie sich sahen. Im allgemeinen gab man kaum darauf acht, dass man von Menschen gehört werden konnte. Jeder einzelne Hajep war sich wohl völlig seiner Überlegenheit der Menschheit gegenüber und daher Unbesiegbarkeit bewusst und das Töten war vermutlich für die meisten von ihnen eine solch alltägliche Sache wie für die Menschen irgendeine Arbeit. Ja, Margrit hatte den Eindruck, dass man sich sogar, um den letzten Rest Menschen noch zu töten, regelrecht “hochreißen” musste, da das inzwischen wohl allzu langweilig geworden war und man sich eigentlich viel lieber miteinander beschäftigte.
Margrit drückte sich entsetzt, nur ein dünnes, unbelaubtes Büschchen vor sich habend, eng an die Wand eines hübschen Fachwerkhauses, da sie ein Trupp von drei Mann gemütlich hinter sich den Bürgersteig auf der gegenüberliegenden Seite hatte entlang schlendern sehen. Wie immer waren die Schritte dieser Soldaten katzenhaft leichtfüßig, was ziemlich erstaunlich war, da sie stets wadenhohe Stiefel trugen. Sie schleppten Plastik- und Papiertüten aus irgendeinem der wenigen, noch intakt gewesenen Selbstbedienungsläden mit sich, die wohl mit verschiedenen zusammengeraubten Gütern gefüllt waren, denn sie zeigten sich gegenseitig, auch als sie die Markstraße unglücklicherweise in Margrits Richtung überquerten, mit übermütigen Gesten, was sie alles Merkwürdiges und Lustiges erbeutet hatten. Sie neckten einander sogar damit und waren so beschäftigt, dass sie Margrit noch immer nicht gewahrten.
Margrit schlug das Herz trotzdem bis zum Halse, ihre Lippen bebten, als sie sich vorsichtig die Mauer des schönen alten Hauses weiter entlang tastete. Noch waren sie nicht nahe genug um fast über sie zu stolpern !
`Lieber Gott,` dachte sie, `lass mich bitte, bitte, nur noch um diese eine Ecke kommen, dann sehen sie mich wenigstens nicht sofort !`
Vorsichtig ... ganz vorsichtig machte sie einen Schritt und dann noch einen. Ihre Hände krallten sich in Balken, und dann hatte sie es tatsächlich geschafft !
Schei ...äh... Mist ! Sie hörte die drei schon wieder. Wollten die etwa auch um diese Ecke ? Schnell hastete sie weiter, fiel dabei fast hin, so schwach war sie geworden. Sie schob sich noch die nächste Häuserfront entlang und drückte sich dann in den nächsten Eingang eines altertümlichen Mietshauses. Das Blut hämmerte schmerzhaft in den Schläfen, als sie über die Schulter zurückblickte. Hier waren die drei nicht zu sehen, puh ! Gewiss wollen sie geradeaus weiter. Vielleicht ließ sich diese Tür öffnen ? Bei den anderen Häusern hatte sie es ja vergeblich versucht. Es war logo, dass die Menschen fast alle abgeschlossen hatten.
Doch die heiseren Stimmen der drei waren schon wieder zu hören. Margrit spähte zitternd aus dem Eingang heraus. Oh Gott, jetzt sah sie schon den Ersten der drei hünenhaften Hajeps laut schwatzend um die Ecke biegen. Die bunt gemusterte Uniform, die er trug, schien aber nicht gerade sehr gut geeignet zu sein, sich zum Beispiel möglichst ungehindert an Gebüsch und Gras vorbeizuschieben, denn die Ärmel und Hosenbeine, welche mit kostbaren Bändern, Ketten und Schmuckstücken zusammengehalten wurden, waren viel zu weit. Er schaute sich nach den anderen zweien um, hielt ein kleines Teddibärchen in seiner riesigen, schick behandschuhten Pranke, mit dem er jetzt immerzu nach hinten wackelte, als ob es zu ihnen hinüber gerannt käme.
Margrit staunte. Komisch sowas ! Er war damit so beschäftigt, dass er Margrits Kopf hinter der prächtigen Backsteineinfassung des Türrahmens nicht sah. Sie fuhr zurück und keuchte. Sie ließ das Herz toben und riss schließlich die Augen auf. Verdammt, sie lebte ... lebte noch immer ! Wenn jetzt diese gottverdammte Tür nicht aufging, war sie verloren ...oder ? Tränen strömten wieder ihr übers Gesicht( es war wirklich bemerkenswert, wie viel Flüssigkeit so ein Menschenkörper produzieren konnte), als sie sich gegen die Tür warf und ... die gab nach ! Sie schob sich erleichtert in den dunklen, kühlen Hausflur, schloss behutsam die Türe hinter sich.
Hier war es sehr still. Margrit konnte nur ihren eigenen Atem und ihre unsicheren Schritte tapsen hören. Sie lauschte. Nein - das durfte doch nicht wahr sein - die drei kamen tatsächlich hierher ! Margrit spürte plötzlich wieder diesen unwahrscheinlichen Durst.
`Nur noch einmal in diesem Leben etwas trinken !´ dachte sie, denn ihre Zunge klebte am Gaumen, als hätte die jemand dort mit einem Kleber fixiert. George hatte immer behauptet, dass man mit Hajeps reden sollte, aber wie konnte sie das ohne Spucke tun ? Ihre verheulten und von Staub und Schweiß verklebten Augen suchten jetzt den Flur nach einem geeigneten Versteck ab, obwohl sie doch den ganzen Tag schon wusste, dass das im Grunde völlig sinnlos war. Doch nichts war hier, wohinter oder worin man sich hätte verkriechen können.
Was nun ? Die Stufen zum Keller hinab ? Dort unten vor der Türe standen drei Säcke, die wohl aus alten Gardinen genäht und mit Kleidern, warmen Decken und anderem Krimskrams gefüllt worden waren, welche die Bewohner dieses Hauses wohl noch heute Morgen hatten mitnehmen wollen und es sich dann doch anders überlegt hatten. Vielleicht waren ja einer von ihnen groß genug um ... oder lieber die vielen Stufen hinauf und in eine der Wohnungen hinein ? Ganz sicher gab es da bessere Versteckmöglichkeiten !
Inzwischen waren die drei Jimaros leider genau vor der Haustür angelangt. Margrit konnte sehr gut ihre kantigen Umrisse hinter der Milchglasscheibe erkennen. Sie schienen immer noch erheitert über ihre vielen Sachen zu sein, die sie zusammengeklaubt hatten.
Margrit erkannte sogar, dass man sich offensichtlich mühte, eine von Menschen hergestellte Flasche zu öffnen. Oh, stellten die sich dabei dämlich an, denn das dauerte und dauerte ... Margrit atmete ob dieser Beobachtung doch etwas befreiter auf, denn sie konnte wohl den übermütigen Lärm, der dabei gemacht wurde, für sich ausnutzen, und so lief sie schließlich - wenn auch noch immer unschlüssig - die Stufen hinauf bis zur ersten Etage und ruckelte dort an der Tür, doch die gab nicht nach. Jetzt noch höher, vielleicht in den Dachboden? Denn die Kerle konnten jeden Augenblick, nur weil sie vielleicht Lust dazu verspürten, in dieses Haus hineinstürmen ! Gesagt getan, aber diese Türe war genauso fest verriegelt worden !
Also doch nach unten und an der Kellertüre sein Glück versuchen ! Bei Kellertüren wurde das Abschließen vielleicht nicht so genau genommen ! Außerdem konnte man nicht selten von dort aus in den Hof laufen. Mit einem Male knallte es von unten ... Margrits Herz machte vor Entsetzen einen Sprung, denn sicher stammte dieser Knall von der soeben wild aufgerissenen Tür ! Sie lauschte, merkwürdig, sie hörte keinerlei Schritte. Stattdessen vernahm sie überraschte, beinahe tierische Grunzlaute von draußen, dann das Zischen irgendeiner Flüssigkeit, dabei kreischten die drei Hajeps laut und begeistert auf, wie kleine, experimentierfreudige Buben.
Oh Gott ! Margrit seufzte erleichtert. Der Verursacher des unheimlichen Knalls war also nur der Korken irgendeiner Sektflasche gewesen, mit deren Inhalt - du meine Güte, Margrit konnte das kaum glauben - sich nun die Hajeps gegenseitig bespritzten. Sie lauschte, hörte das Geschrei, spähte aber dennoch prüfend und zögerlich von oben über das Geländer. Nein, hier drinnen war wirklich niemand. Sie sah nur die hüpfenden, eleganten Pantherbewegungen hinter der Milchglasscheibe der Tür.
Kopfschüttelnd begann sie die Treppen wieder hinunterzuschleichen. So albern hatte sie sich eigentlich ihren Feind nie vorgestellt, nicht einmal in ihren kühnsten Träumen !
Es knallte abermals, sie fuhr diesmal gar nicht zusammen, sondern lief sogar zügigen Schrittes an der Haustüre vorbei. Der Sekt der nächsten Flasche spritzte so heftig gegen die Tür, dass diese in ihrem Schloss rumpelte und bebte. Er schoss nun gegen manch ein Knie oder Helm, ergoss sich schließlich auf den Bürgersteig und die ohnehin heiseren Kehlen schrieen solange begeistert um die Wette, bis sie nur noch quieken konnten wie die Wildsäue ! Ja, das war wohl das richtige Wort dafür ! Und dann - plötzlich - wurde es völlig ruhig !
Margrit hielt nun doch etwas den Atem an und inne, unten auf der halben Treppe, die zum Keller führte. Was war nun passiert ? Einer der drei hob die zwei Flaschen langsam und vorsichtig bis zu seinen Brillengläsern an und linste hinein, dann schüttelte er sie energisch, doch die waren und blieben leer, also warf er sie tief enttäuscht weg, einfach hinter sich ins Gras. Prompt stellten alle drei Kerle ihre Tüten vor sich auf den Boden und begannen darin herumzuwühlen.
`Aha, sie suchen nach weiteren Flaschen !` dachte Margrit zufrieden. `So habe ich also noch etwas Zeit.` Sie schob sich vorsichtig an den drei Säcken vorbei, die ihr bis zur Hüfte reichten und legte ihre Hand auf die Klinke der Kellertüre. Doch diese hinunter zu drücken wagte sie noch nicht, denn sie fürchtete, dass es dabei laut quietschen könnte.
Endlich hatten die Jimaros die nächste Flasche gefunden, die jedoch kleiner war als die vorherigen und wohl auch einen anderen Verschluss hatte. Diese wanderte nun ziemlich flott von Hand zu Hand, jeder probte sich wieder darin, den für Hajeps wohl recht schwierigen Verschluss zu öffnen. Das sah Margrit an den ausgesprochen komischen Verrenkungen, die dabei gemacht wurden. Es schien ein Kronkorken zu sein, mit dem man sich derart herumplagte und plötzlich hatte man die Bierflasche auf. Schaum schoss dem einen Hajep wohl direkt über die Hand, der deshalb erschrocken aufstöhnte, mit spitzen Fingern schließlich den Handschuh auszog und anschließend ziemlich hysterisch ausschlackerte. Waren die Köpfe der drei noch für einen Moment erschrocken auseinandergefahren, so schoben sie sich nun umso interessierter zusammen und ... Margrits Herz verkrampfte sich ... sie schnüffelten - jawohl, schnüffeln war wirklich die richtige Bezeichnung dafür - ziemlich erregt an der Flasche und dann an dem Handschuh und zwar in einer Weise, wie es eigentlich nur Tiere tun ! Einer von ihnen musste plötzlich schrecklich niesen und diesen Lärm nutzte Margrit wieder für sich aus. Sie drückte die Klinke endlich herunter. Die quietschte zwar nicht, aber die Türe saß noch immer fest im Schloss.
`Abgeschlossen !` dachte Margrit mutlos. `Was jetzt ?` Sie blickte wieder prüfend hoch zur Eingangstür und entdeckte verblüfft, dass sich inzwischen noch ein vierter Jimaro zu den dreien gesellt hatte. Er wurde ziemlich wild begrüßt, denn man stubbste ihm mit den Ellenbogen so derb in die Rippen und Bauch, als hätte man vor, ihn augenblicklich zu damit zu erstechen.
„Fengi, Orbinjak !“ grölten die drei, doch dann flüsterten sie: “Kamto to rugpinon ? “
„Zai krin ! Kor jal en ti et a mestopa ?“ fragte der vierte neugierig und schon hielt man ihm die Bierflasche direkt unter die Nase.
”Prrrrruuuuh!” machte der und schüttelte sich, wieder eher einem Tier ähnlich als irgendetwas menschlichem.
Margrit hatte keine Ahnung, ob dieses Schütteln nun ein Zeichen von Begeisterung war oder viel mehr Ekel zu erkennen geben sollte, aber das konnte ihr egal sein, denn sie begann nun einen der Säcke, die vor der Kellertüre standen, auszuräumen
Der vierte Jimaro staunte. „Funtiii ! Chin a Mudjir ! Wet foro e auka paninon ?“ hörte sie seine heisere Stimme aufgeregt. „ Wona jukon bog ibana ka Rekomp Nireneska !“ flüsterte ein anderer unsicher. Alles schaute sich zuerst nach allen Seiten um, dann nickte man ihm hastig zu. Er entfernte kurz entschlossen - aber erst nachdem, er sich persönlich vergewissert hatte, dass wirklich niemand weiter in der Nähe war - das schnabelförmige Gebilde vom Mund und nahm ein Schlückchen.

„ Bu dendo e kisu !“ krächzte er verdutzt, reichte das Fläschchen weiter und wischte sich, diesmal sehr menschlich, mit dem Handrücken über die Lippen.
Margrit hatte indes über etwas ganz anderes zu staunen. Was so alles in diesen Sack hinein gepasst hatte ! Sie stopfte auch noch das rote Samtkleid, das sie gerade hervorgezerrt hatte, hinter die anderen beiden Säcke. Wenn das so weiter ging, hatte alles bald keinen Platz mehr vor dieser Kellertüre. He, was sie jetzt erfühlte war wohl eine uralte Jeans !
Sie sah, dass inzwischen der nächste Hajep hinter der Türe zögernd an der Flasche schnüffelte, dann aber folgte er schließlich doch - Hajeps waren wohl geradezu wahnsinnig neugierig und konnten keiner Versuchung widerstehen - dem Beispiel seines Kameraden, entfernte ebenfalls einen Teil seiner Maske und kostete.
„Kontriglus plon !“ wisperte er, nahm noch einen Schluck und wollte wohl noch einen nehmen, doch da riss ihm jener Jimaro, der mit seinem breiten muskelbepackten Rücken am nächsten der Türe stand, die Flasche einfach aus der Hand.
„Noi kam rir !“ fauchte der. Diese Bemerkung musste wohl sehr humorig gewesen sein, denn alles grölte und johlte nun.
„Sssst !“ wisperte man plötzlich. „Kuro sanna !“ Die Hajeps schauten sich schuldbewusst nach allen Seiten um.
Offensichtlich war es verboten, von den Gütern der Erdlinge zu naschen, sehr zu Recht, konnte doch etwas davon vergiftet worden sein, oder man hatte ihnen noch nicht erlaubt zu plündern, solange die Stadt nicht vollständig erobert worden war. Vielleicht durfte auch nie die Maske entfernt werden, solange Feinde in Sicht waren, womöglich nicht einmal ein kleiner Teil davon.
„Sahon wona bruk leno daim !“ schlug einer von den vieren ebenso leise vor und dann wurde die Türe mit einem Male weit aufgerissen ! Ein Luftzug wehte dabei hinein. Nicht nur der vorderste der vier Jimaros schaute sich misstrauisch im Hausflur um, auch die drei hinter ihm linsten prüfend über dessen Schulter ins Haus hinein.
„Pla tukut !“ fauchte der vorderste, hob den muskelbepackten Arm und wies mit seiner Pranke zum Keller hinab.
Margrit krampfte sich lautlos in ihrem Sack zusammen, wie etwa ein Embryo. Sie sah durch den Spalt unter ihrer Decke, die sie hatte endlich finden und noch über den Kopf werfen können, zunächst grelles Tageslicht und dann die vier riesengroßen Schatten, welche jetzt die Köpfe schüttelten.“ Denda ! To saschi !“ knurrte einer von ihnen. Gott, Hajeps waren aber mächtig groß. Das hatte sie sonst immer gar nicht glauben wollen. Wohl wirklich über zwei Meter ! Sie keuchte. Der vorderste Kerl musste sich mächtig ducken, um zur Türe hinein zu schauen. Konnte man Margrit etwa bereits vom Eingang aus in diesem Sack versteckt sehen ? Was hatte er eigentlich zu seinen Kameraden gesagt ? Die anderen drei antworteten ihm nun. Man beratschlagte sich kurz. Würde man Margrit gleich, so schön “handlich” wie sie verpackt war, forttragen ? Oder benutzte man erst einmal das kleine Gerät ? Würde Margrit es in wenigen Sekunden furchtbar pfeifen hören ? Es war schwierig, unter solch einer wabbeligen Decke genügend zuerkennen und außerdem wurde es darunter ziemlich heiß.
Was die Hajeps genau gemeint hatten, war nicht mehr zu ersehen. Vielleicht hatten sie auch nur über die großen Säcke gestaunt, die dort unten standen, oder wollten die nachher noch ausräumen, oder vielleicht zunächst überlegt, besser gleich in den Kellerräumen zu verschwinden. Jetzt jedenfalls zwängten sich die vier breitschultrigen Hajeps fast gleichzeitig in den schmalen Hausflur und das geschah mit solch einer Wucht und Hektik, dass Margrit meinte, mindestens zwei von ihnen müssten dabei hinfallen und niedergetrampelt werden, mitsamt ihren Tüten. Doch der fröhliche Lärm wenig später machte Margrit klar, dass sich wohl doch keiner dabei die Knochen gebrochen hatte.
Einer von ihnen nahm nun gründlich die Straße und die gesamte Umgebung in Augenschein, ehe er die Türe, leise summend, mit einem Ring, den er am Mittelfinger über dem schicken Stulpenhandschuh trug und den er gegen das Schloss drückte, einfach verriegelte. Alles brummelte und knurrte zufrieden als er zurückkam. Man lehnte sich gegen die Wand und aneinander und es wanderte die Flasche von Mund zu Mund.
Margrit sah auf diese Lippen und erkannte zu ihrer großen Erleichterung, dass es keinesfalls Tierschnauzen waren, welche die Bierflasche jetzt laut grunzend und schmatzend leerten, sondern Münder, die dem Menschen ähnelten, soweit sie es im dunklen Flur erkennen konnte. Margrits Herz pochte. Wie mochte wohl erst das ganze Gesicht des Feindes aussehen, das leider immer noch hinter dieser grässlichen Maske verborgen war ? Der Feind war also doch irgendwie Mensch ... komisch ! Wie konnte das möglich sein ? Immerhin kamen die Hajeps, wie sie am Tage ihrer Ankunft über ihre Sender den „Erdligen“ mitgeteilt hatten, aus dem Andromedanebel von Raik Hota ... einer Galaxie also, die Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt war. Es war also theoretisch gar nicht möglich, dass sie aussahen, wie ... wie sie halt aussahen ! Außerdem, weshalb hasste dann dieses Volk die Menschen so sehr ? Weshalb wollte es das Ende der Menschen auf Erden herbeiführen ? Warum konnten die Hajeps eine Spezies, die ihnen dermaßen ähnelte, so kaltschnäuzig verachten, dass sie die sogar quälte und folterte ?
Der Feind ähnelte also den Menschen bis auf seine komische Art zu sprechen natürlich und ... naja... dieses fast tierische Gehabe ! Hinzu kam diese verrückte Kleidung ! Einer düsteren Nebelwolke gleich, waberte plötzlich doch all die Panik der letzten Stunden wieder in ihr hoch und sie schwitzte wieder unter ihrer Decke. Sie musterte die seltsamen hornähnlichen Gebilde an diesen muskelbepackten Schultern.
Der eine der vier Hajeps hatte nun einen Apfel in seiner Tüte entdeckt. Alles grunzte deswegen schon wieder verblüfft und als er den herum reichte, wurde der mit zittrigen Fingern sehr aufgeregt von allen Seiten betastetet. Margrit war völlig verdutzt, dass man dermaßen über die glatte runde Form des Apfels und dessen Härte staunte. Schließlich biss der Mutigste von ihnen in den Apfel hinein. Seine Kameraden hielten den Atem an und beobachteten ihn scharf, als er langsam und genießerisch zu kauen begann. Margrit schaute auf die hohen Wangenknochen, des Jimaros, sah, wie sich die Muskeln seiner Kinnladen dabei mahlend hin und her bewegten und fand ihn leider dabei sexy .... verdammt ! Alle warteten erst einmal ab, nachdem er den Brocken hinunter hatte. Als nichts weiter geschah, suchten sie ebenfalls aufgeregt nach Äpfeln in ihren Tüten. Jemand hatte aber ein Stückchen Käse entdeckt, dass er nun stolz empor hielt.
„Hich ? Hich ?“ riefen sie von allen Seiten verdutzt, nachdem sie daran geschnüffelt hatten. Sie berochen das Stückchen Käse immer wieder und begannen sich, deswegen wohlig am ganzen Körper zu schütteln. Ein ziemlich burschikoses Rütteln an der Haustüre ließ jedoch nicht nur die vier Hajeps sondern auch Margrit in ihrem Sack zusammen fahren.
„Pjatgont ?“ tönte es dahinter hervor, der Angesprochene meldete sich unglaublich leise, so leise, dass er anscheinend nicht gehört worden war.
"Pjatgo-ooont !“ brüllte derjenige von draußen umso lauter. “ Kos to mira !“
Wie der Blitz packten die drei Hajeps nun alles wieder in ihre Tüten, schauten suchend umher und dann sausten sie - Margrit blieb das Herz fast stehen - die Kellertreppe hinab. Als Margrit wieder einigermaßen zu sich gekommen war, sah sie, dass es die vier nur bis zur Hälfte die Treppen geschafft und die Tüten dann einfach hinter sich fallen gelassen hatten. Butter, Wurst und Käse rollten nun zu Margrit hinab und blieben direkt vor ihren Füßen liegen. Die vier Jimaros liefen indes ehrerbietig ihrem offensichtlichen Feldwebel entgegen, der bereits die Eingangstüre, wohl ebenfalls mit einem Ring, aufbekommen hatte. Sie verneigten sich vor ihm und Margrit erkannte dabei, dass es wohl derzeit Mode war, trotz der weiten Pumphosen eine Art “Latz” - oder eher „Lendenschurz“ ? – über dem Hintern zu tragen. Und als die Männer wieder gerade dastanden, fragte das Oberhaupt sie aus :
„Jal enne palta erka notore ?“
Alles nickte sehr brav, hielt die Hände immer noch vor der Brust gekreuzt und spähte dabei die Treppen nach oben hinauf.
„Klam ujon ti hiat tumi ruk sio “, erklärte der Feldwebel weiter. „Noi jato mira a tulpont !"
“Der Vorderste der drei nickte wieder.
“Ta guong dedi clerte achtam !“ Der Feldwebel schien dennoch irgendwie misstrauisch zu sein, ob seine Männer auch wirklich gründlich genug nach Menschen gesucht hatten, denn er holte einen kleinen Gegenstand zur Kontrolle aus seiner breiten Schärpe, die er, wie hier jeder, als Gürtel trug und die wohl aus dem selben edlen Stoff gefertigt war wie der Lendenschurz. Es schien ein schmales, stiftförmiges Gerät zu sein, das er nun zwischen Zeigefinger und Daumen hielt. Margrit ahnte, was es war, wollte erschaudern, riss sich aber sofort wieder zusammen, da ja schon durch kleinste Bewegungen die Säcke umfallen konnten, die an ihrem Körper lehnten.
Er streckte nun den Arm mit dem weiten Ärmel aus, hocherhoben, schüttelte das Stäbchen leicht und Margrit schloss ergeben die Augen, denn sie wusste, gleich würde es pfeifen und dann war es mit ihr für immer vorbei. Ob man sie zuvor quälen würde oder hatte man dazu keine Lust mehr, weil ja die Jagd ohnehin zu Ende zu ging? Sie hoffte es, hoffte auf einen kurzen, fast schmerzlosen Tod ! Stattdessen geschah aber etwas völlig Überraschendes. Die Tür wurde von draußen mit einem Male so heftig aufgerissen, dass sie dem Feldwebel direkt ins Kreuz fuhr. Der ließ vor Schmerz den kleinen Stift fallen, welcher gerade das erste klägliche Pfeifen von sich gegeben hatte und nun lag das zierliche Ding stumm auf dem Boden. Der Feldwebel fuhr wütend herum, wollte die Männer anschreien, die nun im Eingang standen, doch die entschuldigten sich schnell und hatten dann viel zu erzählen. Irgendetwas war wohl gerade draußen passiert, womit die Hajeps nicht gerechnet hatten und so schickte man sich an, sofort dieses Gebäude zu verlassen. Allerdings bückte sich der Feldwebel zuvor, um noch schnell sein “Schallgerät“ aufzuheben, doch - Margrit war darüber sehr erstaunt - er bekam es einfach nicht hoch. Er beauftragte nun einen der Soldaten, die herumstanden, damit. Doch auch dieser mühte sich vergeblich das schmale Gerät mit seinen anscheinend steifen Fingern vom Boden zu bekommen. Schließlich ließ man es, wohl weil man in Zeitnot war, einfach an Ort und Stelle liegen und so schnell wie das Trupp in den Flur hineingestürzt war, trampelte es auch wieder hinaus ins Freie, dabei rempelte ein jeder den anderen wüst an wie lebendig gewordene Kleiderschränke. Die Tür fiel ins Schloss und der Feldwebel regte sich - Margrit sah es wieder hinter der Milchglasscheibe - sehr zu Recht, über das ungehobelte und undisziplinierte Gehabe seiner Männer auf. Endlich ließ das Trupp, wohlgeordnet in einer Reihe und in leichtem Trab diesen Häuserblock hinter sich.
#

Margrit blieb erst mal für ein Weilchen regungslos dort wo sie war, konnte kaum fassen, dass sie das alles lebend überstanden hatte. Sie schwitzte zwar noch immer ein bisschen unter ihrer Decke und ihre versteiften Glieder waren inzwischen völlig taub.
´Sie kommen wieder´, dachte sie, ´gewiss - um ihr komisches Pfeifgerät zu holen! Sie werden ihre geraubten Güter wiederhaben wollen !´
Doch es geschah nichts dergleichen. Sie musste feststellen, dass die Hajeps kein Interesse mehr an dem, was sie hier zurückgelassen hatten, zeigten, und darum warf sie die Decke mit plötzlicher Entschlossenheit von sich. Angenehme Kühle umfing sie und sie richtete sich, wenn auch noch immer mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem, wieder auf und begann ihre Glieder, in denen es kribbelte wie in einem wild gewordenen Ameisenhaufen, zu dehnen und zu strecken, und es tat direkt ein kleines bisschen weh und dann kletterte sie, nein, fiel sie fast hinaus aus ihrem Sack. Sie streckte vorsichtig und abwechselnd das eine Bein und dann das andere weit von sich und schüttelte es aus, wobei sie sich am Geländer festhielt und darüber nachgrübelte, wie sie jetzt wohl aus dieser Stadt hinaus kommen konnte, und kam zu dem Schluss, dass es wohl das Beste wäre, genau hier so lange zu bleiben, bis sämtliche Hajeps endlich fort waren. Sie runzelte düster die schmutzige Stirn. Das konnte vielleicht Stunden, ja, eventuell sogar bis zum Abend dauern, wenn die Hajeps vielleicht noch hier ihren Sieg feierten.
Sie sah sich um. Der eine der beiden Säcke war inzwischen direkt vor die Kellertüre gekippt, aber das störte sie nicht. Ziemlich steifbeinig lief sie die Treppe hinauf, immer noch ein wenig ängstlich an den Tüten der Hajeps, die sich ja zum Teil beim Hinabrollen entleert hatten, im großen Bogen vorbei, und als sie oben angelangt war, seufzte sie erleichtert, denn diese Stille, diese himmlische Ruhe, die hier mit einem Male herrschte, war schöner als die beste Musik ! Sie wollte von hier aus noch einmal lauschen, ob sich die Hajeps vielleicht sogar völlig aus der Stadt entfernten, denn sie hörte sie nur noch kaum. Gegebenenfalls wollte sie die Türe sogar öffnen, um nachzuschauen, ob die Hajeps vielleicht nur still und womöglich doch noch ganz in der Nähe waren.
Direkt vor der Eingangstür stoppte sie jedoch mitten im Schritt, denn vor ihren Füßen lag ja das kleine Andenken des Feindes, das Stiftchen. Sie wäre beinahe draufgetreten. Ja, dort lag der tödliche Verräter ... das Pfeifgerät !
´Ha, man hätte Bomben in den Wohnungen für die Hajeps bereithalten sollen !´ dachte Margrit zähneknirschend, während sie sich bückte, um den kleinen Apparat genauer zu betrachten. Sie hielt dabei die Brille ein wenig schräg, kippte sie so wie immer etwas an, um das Ding durch ihre schlechten Gläser besser mustern zu können, doch plötzlich sah sie den Stift nicht mehr, er verschwamm, und stattdessen zogen vor ihrem geistigen Auge noch einmal all die schrecklichen Bilder vorbei, die sie heute hatte mit ansehen müssen. Sie hörte dabei tief in ihrem Inneren auch die Schreie, die vielen Schreie einer hilflosen gequälten Menschheit !
Sie ballte deshalb zornig ihre Hände zu Fäusten, doch sie konnte sich nicht mehr dagegen stemmen. Sie war mit einem Male wieder unendlich traurig geworden. Wo sind Muttsch, meine Kinder, Paul, Annegret, Herbert,
Dieter ? Und der Weinkrampf brach sich Bahn.
´Das sind die Nerven´, dachte sie dabei nur, ´aber lass sie ruhig toben, nach alledem, was du heute erlebt hast.´ Tränen tropften auf die Gläser in ihrer Brille, auf den Boden und auf den Stift. Margrit nahm die Brille ab, um sie mit dem fleckigen Hemdzipfel putzen.
„Wir sollten uns endlich wehren !“ knirschte sie und ihr ganzer Körper bebte. „Derartiges dürfen wir uns nicht mehr gefallen lassen ... nein ... nie mehr ! Nie mehr soll die Menschheit so leiden wie heute ! Ich werde dafür kämpfen, irgendwie, selbst wenn es mir das Leben kosten sollte ! Das verspreche ich mir !“
Margrit war völlig erstaunt über sich selbst. Was war denn jetzt mit ihr passiert ? Wieder zweifelte sie an ihrem Verstand. Jedenfalls weinte sie mit einem Male keine einzige Träne mehr. Sie setzte sich mit fahrigen Fingern die Brille wieder auf, schob sie sich auf der roten und dick geschwollenen Nase zurecht.
´Ich muss den Feind besser kennen lernen!´ dachte sie fest entschlossen und erinnerte sich dabei wieder an Georges Worte. ´Und sicher auch seine Waffen !´
Sie streckte den Arm aus, ihre Hand wanderte hinab, zögernd, Stückchen um Stückchen, Zentimeter um Zentimeter und schließlich betasteten ihre schmalen Finger vorsichtig den hochgefährlichen Stift. Würde er irgendwie auf Menschen reagieren und ein Pfeifen von sich geben ? Nichts dergleichen geschah ! Konnte sie ihn womöglich aufheben, selbst wenn niemand der Jimaros dazu in der Lage gewesen war ? Was mochte wohl mit diesem Stift eigentlich los sein ? Ließ er sich etwa nicht greifen, ähnlich wie Quecksilber, wenn es erst einmal am Boden lag ? Margrit war plötzlich fest entschlossen das auszuprobieren, obwohl der Stift womöglich gerade dabei pfeifen konnte. Fest nahm sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und ... siehe da ... schon war er vom Boden hoch und zwar mit größter Leichtigkeit und gab auch kein Tönchen von sich. Konnte er einen Defekt haben ? Margrit wagte nicht, ihn hochzuhalten oder gar zu schütteln, doch sie vermutete, dass er noch völlig intakt sein musste, da sich die Hajeps ja vorhin so emsig bemüht hatten ihn aufzuheben. Warum war es den Hajeps aber nicht gelungen, diesen Stift, den sie selbst doch ohne die geringsten Schwierigkeiten hatte vom Boden aufnehmen können, nicht mehr hochzubekommen ? Konnten sie etwa gar nicht richtig greifen ? Das hatte wirklich so ausgesehen ! Waren die Sehnen an ihren Fingern verkümmert ? Sie schienen doch so sportlich zu sein, überall diese vielen Muskeln, wie passte das zueinander ? Wie passten aber auch ihre geschmeidigen Bewegungen zu ihrem derben, plumpen Gehabe ?
´Hajeps sind sportlich aber ungeschickt !´ durchfuhr es Margrit plötzlich. ´Sie sind tolpatschig ! Weiß der Himmel warum !´
Sie musste plötzlich lachen und erschrak dabei wieder über sich selbst, denn sie konnte, obwohl ihr Lachen leise war, damit einfach nicht mehr aufhören. Ähnlich wie sie vorhin geweint hatte sie nun einen Lachkrampf. Tränen sausten ihr dabei in wilden Sturzbächen über das Gesicht und die Nase tropfte als hätte sie ein Leck, Spucke lief ihr aus dem Mund. Da versuchte sie sich abzulenken, indem sie, den Stift dabei völlig ruhig in ihrer flach vor sich ausgestreckten Hand haltend, die Treppen wieder hinablief. Vielleicht kam sie endlich zur Ruhe, wenn sie ein bisschen in den Tüten stöberte ! Schon allein dieser Gedanke half, denn plötzlich hatte sie unbändigen Hunger und vor allem wieder diesen wahnsinnigen Durst ! Sie wickelte das Stäbchen - sie wusste zwar nicht weshalb sie das tat, aber sie tat es - ganz vorsichtig in ihr einziges und daher schmutziges Taschentuch ein und dann verstaute sie es in ihrer kleinen Tasche aus Kunstleder, die sie stets am Gürtel trug.
Einige Minuten später schnupperte sie selig an der Wurst und dann an dem Käse, der auf der untersten Stufe gelegen hatte. Doch der Durst war größer, denn schon spähte sie suchend nach etwas Trinkbarem in eine der Tüten hinein. Hoffentlich hatten die Hajeps nicht schon alles ausgetrunken ! Gerade als sie den ersten Schluck aus einer kleinen orangefarbenen Safttüte genommen hatte, hörte sie Schritte hinter sich im Keller und dann auch schon, wie die Tür aufgeschlossen wurde.
Zunächst war Margrit wie gelähmt vor Angst, dann hatte sie geglaubt, sich verhört zu haben ... doch als sie über die Schulter zurückblickte, musste sie feststellen, dass sich langsam die Kellertüre öffnete. Es quietschte dabei etwas und zuerst erschien ein schwarzer Fuß im Spalt, aber die Tür konnte glücklicherweise nicht richtig aufgerissen werden, weil ja der umgekippte Kleidersack immer noch davor lag.
Margrit ließ ihre Tüte mitsamt Saft so hastig fallen, dass sich der nicht nur über ihre Hose ergoss und auf die Treppe klatschte, sondern auch noch das nette Stückchen Hartwurst bespritzte, eine Stufe unter ihr. Aber all das machte ihr nichts aus. Sie setzte zu einem gewaltigen, blitzartigen Spurt an ... zögerte dabei jedoch. Sollte sie nun alle Etagen hinauf? Dann kam das Wesen gewiss hinterher! Oder doch gleich raus auf die Straße ... und dann ? Vielleicht den Hajeps in die Arme preschen ? Diese Unentschlossenheit kostete sie wichtige Sekunden!
Der große, dunkel gekleidete Männerkörper schob die Türe trotz Kleidersack mit einem Ruck soweit auf, dass er sich durch den Spalt quetschen konnte. Margrit nahm sich keine Zeit, ihm ins Gesicht zu starren sondern stürmte nun knapp an den Einkaufstüten der Hajeps, an leckerem Käse, Wurst und Butter vorbei, einfach die Kellertreppe hinauf. Oben angekommen, wollte sie die Haustüre aufreißen, als der riesige Kerl sie auch schon von hinten am Kragen gepackt hatte.

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5378 Beiträge veröffentlicht!