Das Licht der Hajeps
von doska

 

Kapitel 5

Kapitel 5

Als eine knappe Woche vergangen war, hatte unsere Familie das große Glück gehabt, zwei Schwarzhändler anzutreffen, die unterwegs gewesen waren, ihre zusammengeraubten Güter in einer der umliegenden Ortschaften zu verhökern. Paul konnte sie beschwatzen und reichlich Nahrung gegen Kleidung eintauschen. Kurz danach hörten sie mit einem Male, die, Margrit inzwischen bekannten, Geräusche außerirdischer Flugschiffe.
Obwohl die kleine Gruppe sofort alles stehen und liegen gelassen hatte, um sich in die schützenden Berghänge zu retten, war sie, wie erwartet, nicht schnell genug gewesen, um die Fahrräder, Koffer und Beutel mit den Nahrungsmitteln außer Sichtweite zu bringen. Alles lag auf dem schmalen Bergweg, Mäntel und Jacken flatterten im Wind, als das erste der beiden Raumschiffe in Erscheinung trat. Die Kinder weinten, während man weiterjagte, höher und höher die Felsen hinauf, sich dabei immer wieder in Nischen oder hinter kargem Gestrüpp versteckend.
Das merkwürdiges Gebilde ähnelte diesmal, wenn auch im entfernten Sinne, einer Qualle. Rund um den ca. fünfzehn Meter breiten, wunderschönen sternförmigen Rumpf, er bestand im übrigen aus blauem, metallisch glänzendem Material und glasähnlichem Gewebe, waberte ein etwa zwanzig Meter breiter, transparenter Rand auf und nieder. Der saugte wohl die Luft gurgelnd ein und stieß sie wieder quakend unter sich aus. Ihm folgte ein sehr viel kleinerer, fester Flugkörper, unscheinbar und grau mit vier gleichgroßen, beweglichen Flügeln. Ein fast melodisches Summen aus drei elastischen Röhrchen verriet den Düsenantrieb am Heck. Margrit vermutete, dass in diesem Winzding höchstens zwei Besatzungsmitglieder Platz haben konnten, so schmal war es gebaut, und sie fand, dass dessen Form irgendwie mit einer Pfeilspitze vergleichbar war. Es folgte dem größeren Flugobjekt in solch einer exakten Weise, als würde es von ihm magnetisch angezogen; auch noch, als dieses über die Bergkuppe, hinter welcher sich Margrit mit ihrer Familie gerade verborgen hatte, hinweg setzte. In der Mitte dieses Felsmassivs befand sich eine Talsenke mit vielen Bäumchen und Buschwerk und es gab dort auch noch glücklicherweise zwei kleinere Höhlen, je eine auf der einen und auf der anderen Seite, welche man von oben aus allerdings nicht sehen konnte. Das Ding schwebte trotzdem genau über dieser Talsenke, verringerte kurz seine Höhe und verharrte danach völlig freischwebend in der Luft, wie etwa eine Libelle.
Margrit, die sich mit den Kindern in der größeren Hohle auf der linken Seite versteckt hatte, sah daher den Feind aus solch einer Nähe, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ja, sie glaubte, durch die nur leicht abgedunkelten Scheiben des Raumschiffs sogar Personen mit übergroßen – etwa deformierten ? – Gehirnen zu erkennen, die wohl miteinander im Gespräch waren und dabei zu den Fenstern hinab zum Tal wiesen. Was schienen die Außerirdischen zu suchen ? Hatten sie vorhin die Fahrräder auf dem Weg liegen sehen und vermuteten nun Menschen hier ? Vielleicht suchten sie ja auch nur noch immer nach ihren Sklaven von denen George, dieser seltsame Hajepexperte vor kurzem Margrit noch so viel erzählt hatte ? Immerhin war es tröstlich, mit eigenen Augen feststellen zu dürfen, dass die Außerirdischen aufrecht und anscheinend auf zwei Beinen liefen, auch nur zwei Arme hatten und Hände und nur einen Kopf, selbst wenn der etwas unähnlich denen der Menschen war. Trotzdem hatte nicht nur Margrit ein mulmiges Gefühl im Magen, Julchen und Tobias zitterten sogar vor Angst, denn auch sie hatten den unberechenbaren Feind noch nie aus solch einer Nähe gesehen, und sie versuchten deshalb Margrit vom Höhleneingang wegzuziehen, was ihnen nicht gelang, weil die sich dagegen stemmte.
Paul und Muttsch hatten fast zur gleichen Zeit wie Margrit noch rechtzeitig eine Höhle finden können. Auf der gegenüber liegenden Seite lugten sie ebenfalls ziemlich irritiert hervor. Ihre Gesichter spiegelten die gleiche Angst, aber komischerweise auch dieselbe Neugierde wider, die Margrit empfand., denn die Flugschiffe – welche nun einen Heidenlärm machten - übten eine seltsame Faszination auf sie aus. Vielleicht lag es auch daran, dass man endlich einmal deutlicher sah, was man Jahr um Jahr gefürchtet, wovor man ständig weggelaufen war.
„Uuuh ... die sind aber ganz und gar hässlich! Bäh!“ würgte Julchen schließlich hervor, die sich dicht an Margrits Hüften presste.
„Die Flugschiffe?“ hakte Margrit nach.
„Nee, die Leute drin!“
„Ach wo! Die sehen nur etwas anders aus als wir!“ versuchte Margrit die Kinder zu beruhigen..
„Und die Köpfe?“ hakte Tobias trotzdem nach. Er stand hinter Julchen und nuckelte aufgeregt an seiner Unterlippe.
„Was soll mit denen sein?“ fragte Margrit möglichst arglos.
„Das sind riesige Spünnenköpfe, Tobi!“ klärte ihn Julchen einfach an Stelle von Margrit auf.
Tobias zog den Schnodder in seiner Nase hoch, was er meist tat, wenn er ziemlich aufgeregt war, und sagte: “Riesige Kreuzspinnenköpfe Jule!“
„Stümmt!“ ächzte Julchen und dann wurde sie käseweiß. “Ich glaub` ich muss ko-oootzen, Mamms!“
Tobias tippte Julchen von hinten an die Schulter. “Hab` ich schon ... kam aber nur Spucke raus ... uuups!“
„Aber Kinder, das ist doch alles Unsinn!“ sagte Margrit sanft. Trotzdem pochte ihr Herz etwas schneller, denn sie fragte sich, weshalb der Feind nicht endlich weiterflog? Der hatte doch nun genug umher geguckt. Automatisch tauchte wieder das furchtbare Bild von Mariannas und Armins grausamen Tod vor ihr auf und auch ihr Magen rumpelte. Waren sie die nächsten?
„Und .... und warum haben die ... die außerirdischen Kreu ... Kreuzspinnen so viele am Kopf?“ hakte Tobias nach.
„So viele WAS, Tobias?“
„Ich weiß es!“ keuchte Julchen. “Weil ... in den vielen Beulen ... da sind die vielen, vielen, ganz vielen Augen
drin!“
„Uuuurgh!“ machten nun die beiden Kinder gleichzeitig.
„Das sind keine Beulen sondern schicke ... na irgendwie aufgetürmte Frisuren!“ fiel es Margrit grad` so ein.
„Aber ... sind doch Männer, nich`? Oder .... oder sind`s Mädchen?“ erkundigte sich Julchen. Und die Blässe verschwand ein wenig aus ihrem Gesicht.
„Es sind Männer!“ bemerkte Tobias jetzt ganz einfach. “Spinnenmänner!“ Und auch er bekam eine etwas frischere Farbe.
„Mädchen können auch Soldaten sei ... ein!“ trällerte Julchen jetzt triumphierend.
Komisch, dass der Feind auch weiblich sein könnte, daran hatte sie eigentlich bisher noch nie gedacht! Oder war der gar geschlechtslos? Auch diese Idee erschien Margrit mit einem Male gar nicht mal so abwegig. Selbst wenn George bei der Schönheit des Feindes ein bisschen fehl lag und auch nicht in allem Recht behalten hatte, so verschaffte Margrit doch seine letzte Bemerkung einigen Trost - Spinnenköpfe hin, Beulenaugen her - er hatte Margrits Vermutung bestätigt, dass den Feind so wenige Leute gar nicht interessieren würden.
Deswegen fasste sie mit einem Male soviel Mut, dass sie die Bauchseite der ´Qualle´ bei dieser Gelegenheit gründlicher in Augenschein nehmen wollte, wo stets das spezielle Erkennungszeichen der unterschiedlichen außerirdischen Gruppen zu sehen sein sollte. Sie schob ihren Kopf ins Freie. Das Zeichen, welches ihr in grau, schwarz und rot entgegenleuchtete, war das nun ein Drache, um welchen sich eine Schlange kringelte oder nicht? Schade, dass sie so eine schlechte Brille hatte.
„M...mach` keinen Sch.... Mamms!“ Tobias schlich, wenn auch mit weichen Knien, Margrit hinterher, vergeblich mühte sich Julchen ihn zurückzuhalten und nun spähte er auch empor. “Da is´ echte K... am brodeln Mamms!“
Julchen nickte stumm und begann, mit ihren kleinen Zähnchen den Ärmel von ihrem Pullover zu benagen.
Margrit rügte die Kinder diesmal nicht, denn verdammt ... leider merkte sie auch, dass einige der Insassen von ihren Sitzen aufgestanden waren, sich helmartige Gebilde über die anscheinend weichen Köpfe geschoben hatten und nun Umhänge über ihre etwas stacheligen Schultern warfen. Sie schienen wohl weiter ins Innere des Flugschiffes laufen zu wollen, wo sich bereits eine Gruppe von etwa fünf Mann formiert hatte.
„Verpi ... äh ... wollen die etwa alle hier aussteigen?“ Tobias Hand tastete instinktiv nach dem ´Blaui´, um die Hartgummikugel gegebenenfalls gleich dem erstbesten Außerirdischen an den Kopf zu werfen.
„Ha, es ist also tatsächlich eine hajeptische Qualle ... quatsch ... Flugzeug!“ rief Margrit aufgeregt und der Wind peitschte ihr dabei die Haare ins Gesicht. “Das Zeichen ist zwar ein bisschen klein, aber ich konnte es trotzdem erkennen. Es enthält keine Schlange.“
„Und, was nutzt dir das?“ brüllte Paul nun ziemlich ungehalten aus der gegenüber liegenden Höhle. Auch sein Haar war völlig verwurstelt. Er sah wie ein Igel aus, als er hinter seinem Felseingang hervor lugte. “Die ... die grässlichen Dickschädel werden gleich zu uns hinabsteigen und wenn sie zu uns kommen, was machen wir dann?“
„Wir sagen ihnen guten Tag!“ schlug Tobias ganz spontan, aber etwas grau im Gesicht, vor.
„Iiiih ... ihhhgittt! Ich mag aber keine Spünnenhand sch ... schütteln!“
„Kreuzspinnenhand, Jule! Uuups!“
„Oh Gott, nein! Paul hat ja so Recht!“ jammerte Muttchen, die dicht hinter Paul stand. Ihr langes Haar hatte sich völlig aufgelöst. “Was machen wir, wenn....huuuch ! Munk...MUNK ! Ach Gott, ach Gott, wirst du wohl nicht ins Freie laufen !“
Paul warf stirnrunzelnd einen Blick auf den Kater, der wohl irrtümlich ein prächtiges welkes Blatt, was draußen vom Wind aufgewirbelt worden war, für eine Maus gehalten hatte und dieses nun nicht gerade sehr gescheit betrachtete. Und dann musterte Paul mit bedenklicher Miene das Flugschiff am Himmel. “Hättest den verrückten Kater halt gleich in den Korb sperren sollen. Aber auf mich hört ja keiner !“
„Aber...wenn Munk nun etwas passiert ?“ Muttchen hielt sich ihr schwaches Herz. “Paul ?“
„NEIN ! Meinst du, ich bin lebensmüde und gehe jetzt hinaus ? Besser dem Kater passiert was als mir !“
„Tierfeind ! Oh, oooh ! Jetzt läuft er...“.
„Was sollte der sonst tun ?“ murrte Paul. “Na, fliegen könnte er vielleicht auch....von hier hinunter ! Siehst du dort hinten den Abgrund, da ist ein tiefer Riss im Felsmassiv !“
„Ja, ich sehe ihn du...du Sadist !“ schluchzte Muttchen.
Paul lachte trotz aller Angst, dann schaute er zu Margrit und den Kindern hinüber. “Schon gut !“ sagte er kleinlaut.
„Ha, gerettet !“ keuchte Muttchen jetzt erleichtert .“Er...er läuft zu dir, Margrit. Nein, du lieber Himmel ... er hat sich nur in die Mitte gesetzt, d...direkt unter dem Raumschiff gemütlich gemacht ! Wie kann er nur...“
„Na, du siehst doch, wie er es kann !“ brummte Paul.
Munk schien den Wind von oben wohl zu mögen, der ihm um die Ohren und durchs schwarze Rückenfell fegte. Er schnurrte behaglich, denn der heutige Herbsttag war reichlich warm gewesen, und leckte sich noch ein wenig die weißen Vorderpfoten.
„Ob ich den dummen Kater einfach von da weg hole ?“ fragte sich Margrit laut.
„Munk ist nicht dumm !“ schimpfte Muttchen zu ihr hinüber. “Er ist nur ein bisschen unvorsichtig !“
„Bisschen ist gut !“ Paul verzog das Gesicht zu einem verärgerten Grinsen. “Nein, Margrit lass` das verrückte Tier da sitzen !“
„Da hat er recht, Mamms !“ Julchen zog einen Faden aus ihrem Ärmel. “Weil die schick gekleiderten
Spünnen...“
„Schick gekleideten Kreuzspinnen, Jule !“
„Also, die....die beratschlagen sich nur noch ein ganz kleines winziges bisschen !“ Sie hielt zwei ihrer Fingerchen zu einem schmalen Spalt zusammen und Margrit entgegen
Tobias nickte. Er hatte den Blaui noch immer fest in der Hand.
Die Kinder sollten recht behalten. Nach etwa drei Minuten dehnte und streckte sich eine zunächst runde und recht winzige Luke an der Bauchseite des großen Flugschiffes so ein bisschen. Schließlich wurde sie oval und vergrößerte sich bis auf etwa zwei Meter Höhe und ein Meter Breite. Unsere Familie hielt den Atem an, denn ein elegantes löffelartiges und transparentes Gebilde schob sich daraus hervor.
Munk schaute deshalb nun doch ein wenig verwundert nach oben, er betrachtete es interessiert. Der weiche, schlauchartige Stil wurde länger und länger und der Rand des Gebildes wuchs wulstig von allen Seiten in die Höhe, bis er eine tiefe, geräumige Mulde bildete. Das Ding schimmerte und funkelte jetzt, als hätte es dabei winzigkleine Sternteilchen verschluckt. Munks Schnurrhaare zuckten, denn ein Bein in kniehohem Stiefel in einer mit üppigem Pflanzenmuster verzierten Pluderhose rutschte aus der Luke, nahm in der Mulde Platz und schon kam das zweite und stellte sich daneben. Vier bis fünf dicke, platin-, gold- und bronzefarbene Ketten hingen um schmale Hüften und zwischen den durchtrainierten Schenkeln. Der geschmeidige Körper im weiten, von ebenfalls viel zu vielen Schnörkeln übersätem Hemd glitt hinterher. Zuletzt fiel der graufarbene Umhang über die stachelbewehrten Schultern. Der graublaue, tropfenförmige Helm bot besonders am Hinter- und Oberkopf einigen Platz. Ein biegsames Metallband, überzogen von sechs verschiedenen farbigen Streifen lag waagerecht über der Stirn und Nasenpartie. Hatte das Wesen wirklich mehrere Augen dahinter verborgen ? Der feste, schnabelartige Gesichtsschutz - es überkam einen dabei das Gefühl, dies wäre ein aus mehreren Geschöpfen zusammengesetzter Raubvogel - verband den unteren Teil des Antlitzes mit den vielen, dicht bei dicht liegenden Ketten am Hals. Wo waren die Waffen ? Es gab breite Reifen zum Beispiel um Handgelenke oder Oberarme, an denen kostbare, steinähnliche Dinge zu sehen waren oder längliche, komische Stäbchen. Sonst war auf den ersten Blick überhaupt keine Waffe erkennbar. Während sich die außerirdische Kreatur panthergleich in das löffelförmige Gebilde hineinkauerte, die behandschuhten Finger hielten dabei einen länglichen Gegenstand in den Händen, der einige Ähnlichkeit mit einem Fernrohr hatte, und es wohl weiter hinabgehen sollte, denn es zeigten sich bereits die ebenso pompös verhüllten Beine des nächsten Soldaten in der Luke, verriet jener, der zuerst hinunter hatte wollen, wenn auch nur verhalten, einige Aufregung. Sein Fernrohr zuckte und er wies damit auf Munk, der plötzlich fauchte und dabei sogar eine seiner weißen Vorderpfoten himmelwärts erhoben hatte. Offensichtlich hatten diese Außerirdischen noch nie eine Katze gesehen, waren sich jedoch nicht im Klaren, ob sie die nun töten wollten oder nicht !
Der Soldat wedelte nun ein wenig ungelenk mit den Fingern und da wuchs das löffelartige Gebilde in wenigen Sekunden zu einem mächtigen, blütenkelchartigen Trichter empor, das den Soldaten völlig umhüllte, aber transparent blieb, so dass er gut beschützt weiter hinunter schauen konnte. Munk zeigte jetzt sein schwarz-weiß geschecktes Fell hoch geplustert, der Soldat fuhr ziemlich heftig zusammen und hob den Zeigefinger und schon ging`s wieder hinauf. Das kelchartige Gebilde war zwar mitsamt Soldaten in der Luke verschwunden, doch diese war offen geblieben. Warum ?
Margrit riss dem verdutzten Tobias plötzlich entschlossen den Blaui aus der Hand, ließ die Hartgummikugel aus der Höhle rollen und rief gleichzeitig mit lockender, heller Stimme. “Guck, Munkilein, was wir da für dich haben !“
Wie wir wissen, schätzte Munk Bälle über alles und Tobias Blaui mochte er besonders. Im nu war er auf den Pfoten, flitzte los, ja, er konnte, wenn es um so was ging, ein schönes Tempo zulegen und das, obwohl er eigentlich nicht mehr der Jüngste war. Keine Sekunde zu früh ! Während Munk die Kugel ins Maul nahm, sauste schon zischelnd ein feiner Feuerstrahl von oben herab. Lediglich einer aus der Hajepmeute hatte mit einer kleineren Handfeuerwaffe geschossen, die anderen hielten sich noch immer unschlüssig zurück.
Munk sprang erschrocken nach vorn, ließ aber die Kugel noch immer nicht los, und der Strahl fraß sich hinter ihm durchs Gestein. Oben wurde man indes übermütig, man jagte ihn, erreichte ihn, sengte die prächtige Schwanzspitze an und wenig später roch es entsetzlich nach verkohlten Katzenhaaren, aber da war er schon in Julchens rettende Arme gehopst. Tobias blies die blauen Flämmchen aus. Munk war schwer erschüttert. Das musste er erst einmal alles geistig verarbeiten. Daher hatte er nicht mitbekommen können, wie sich die Luke abermals weitete, eine ca. ein Meter große, glibberige Blase glitschte hervor, klatschte auf den Boden und rollte auf die Höhle zu, in welcher sich Margrit, Munk und die Kinder versteckt hielten.
Das seltsame Ding schien aus einer narbigen und zum Teil geschuppten, beigefarbenen Lederhaut zu bestehen. Diese wirkte irgendwie lebendig, denn sie stieß, so als ob sie schwitzte, ständig Schleim aus den Poren aus. In deren Innerem schien es außerdem bei jeder Bewegung tüchtig zu rumoren, es knisterte dabei sogar und während die Blase vorwärts rollte, ließ sie hinter sich eine lange, klebrige Schleimspur.
„Uuuuh !“ keuchte Julchen deshalb erschrocken und schüttelte sich. “In der Bl...Blase sind bestümmt Spünnen
drin !“
„Bestimmt, ganz kleine, klebrige Spinnen !“ krächzte Tobias, ebenso käseweiß im Gesicht geworden.
„Bestümmt ganz kleine, klebrige Kreuzspünnen !“ verbesserte ihn Julchen und zog sich dabei noch einen Faden aus ihrem ohnehin völlig zerfledderten und inzwischen sehr kurzen Ärmel.
„Oh, Gott ! Meine arme Tochter, meine armen Enkel, mein armer, armer Munk !“jammerte Muttchen. “So tu doch endlich irgendwas, Paul !“
Paul tat jedoch weiterhin nichts, außer sich nachdenklich das Kinn zu reiben, denn ihm fiel einfach nichts ein.
Nun nahm die Blase eine zeppelinähnliche Form an, wohl um besser in die Höhle hinein glitschen zu können.
Alles kreischte deshalb erschrocken, einschließlich Munk, das konnte er ja jetzt gut, weil er schon längst den Blaui in der Höhle verloren hatte.
Es machte : “Blobb“ und schon befand sich das schleimige Ding mitten in der Höhle. Es wippte nun ein wenig auf der Stelle und nahm auf diese Weise wieder die runde Form an.
Julchen weinte, als sie das sah, wischte sich die Nase, stellte sich dann aber schützend vor Tobias und dieser zog knatternd den Schnodder in seiner Nase hoch, Munk fauchte was das Zeug hielt, verließ aber trotzdem nicht Julchens Arm. Nun begann die Kugel vorwärts zu rollen. Eigentlich konnten Munk Bällchen immer nie groß genug sein, aber bei diesem hier überkamen ihn doch Zweifel, ob er mit dem spielen konnte oder der eher mit ihm.
Da knallte ein Schuss. Paul war nämlich todesmutig ein kleines Stückchen ins Freie gehopst und hatte mit seinem Revolver zur Höhle hinein direkt auf die Blase gefeuert, dann war er zurück gehechtet. Er hatte aber gar nichts verändert. außer dass die Luke des Raumschiffes abermals aufging und eine weitere Blase zu Boden klatschte, die nun auf Pauls und Muttchens Höhle zu rollte.
Beide schrieen sie nun deshalb ebenfalls aus vollem Halse.
Das schien den unheimlichen Kugeldingern wohl irgendwie richtigen Spaß zu machen, die zweite Blase flutschte nämlich ebenso zielstrebig, als wäre sie ein Lebewesen und noch schneller als die erste zu Paul und Muttchen in die Höhle hinein.
Die andere rollte sogar auch etwas fixer auf die drei verängstigten Menschlein zu, und diese wiederum rannten nach rückwärts, wenngleich sie wussten, dass es dort keinen rettenden Tunnel gab, wohin man entweichen hätte können. Hart stießen sie sich ihre mageren Körper an den feuchten und kalten Felswänden hinter sich. Sie waren gefangen, der tödlichen Gefahr hoffnungslos ausgeliefert. Währenddessen hörten sie Muttchen und Paul verzweifelt, ja fast hysterisch in einem fort weiter schreien und immer wieder lösten sich dabei Schüsse aus Pauls Revolver, die wohl ihr Ziel nicht verfehlten, aber dem nicht viel antun konnten.
Von draußen vernahmen sie nun außerdem das saugende, blubbernde Geräusch des Flugschiffes, was sich jetzt wohl wieder in Bewegung gesetzt hatte und dann anschließend den feinen Summton von kleinen Düsen über dem Bergmassiv. Also flogen beide Flugkörper davon. Wohl, weil dessen Mannschaften in Eile und sich völlig sicher waren, dass die lästigen Erdlinge mitsamt ihrem kleinen komischem Fellwesen in wenigen Minuten völlig ausgelöscht sein würden.
Doch noch schien dieser Zeitpunkt nicht gekommen. Julchen hatte nämlich Munk – zu dessen Enttäuschung - wieder auf den Boden gesetzt und dieser stand mit zitterigen Beinen da, das Fell zur größten Bürste seines Lebens gesträubt. Doch dann, als er sah, wie das Ding auf Julchen zurollte, überwand er sich selbst, wuchs er heroischerweise weit über sich selbst hinaus, denn er stieß nicht nur einen lauten Kampfschrei aus, er sprang direkt auf die Blase und bearbeitete diese in Sekundenschnalle mit allen vier Pfoten zugleich. Doch die produzierte nur noch mehr Schleim und erhielt deshalb keinen einzigen Kratzer. Sie änderte zwar ihre Richtung, doch drehte sich weiter mit Munk. Der tat immer noch sein bestes, aber schließlich blieb er nur an klebrigen Haut haften. Nur mit Mühe gelang es ihm, gerade noch rechtzeitig abzuspringen, ohne von der Blase völlig überrollt zu werden. Hinter Margrits Beinen versteckt schwor sich Munk, künftig nie wieder Bällchen anzurühren, wenn bloß dieser schreckliche Traum endlich ein Ende haben würde.
Doch plötzlich stoppte das Ding, diesmal nur einen Meter von Margrit entfernt, kam irgendwie nicht mehr so recht voran, denn es hatte eben etwas komisches überrollt, und das war Tobias Blaui gewesen, den Munk vorhin hatte. Tobias harte aber auch recht elastische Kugel klebte also am Schleimbauch der weichen Blase. Sie holperte daher etwas, während sie -wie nach kurzem Nachdenken- wieder weiter rollte, behielt aber irgendwie ihre Richtung nicht so recht bei. Tobias und Margrit schauten sich an und da hatten sie beide den gleichen Gedanken. “Steine werfen!“ brüllten sie.
„Steine werfen ?“ hörten sie verwundert Pauls erschöpfte Stimme von gegenüber.
So schnell wie sie nur konnten schleuderten jetzt nicht nur Margrit, Tobias und Julchen der Blase Steine in den Weg, sondern auch Muttchen und Paul.
Würden sie Erfolg haben ? Beide Blasen schienen tatsächlich Schwierigkeiten zu haben über die vielen Steine zu rollen. Sie mussten noch mehr Schleim produzieren, nicht nur um glitschiger zu sein, auch um das Ankleben der Steine an der weichen Haut zu verhindern.
Eine unheimliche, gelbliche Soße ergoss sich dabei über den Boden.
„Einen Wall bauen !“ brüllte Paul jetzt zu ihnen hinüber.
„Einen WAS ?“ fragte Margrit laut zurück, während ihr die Kinnlade nur so zitterte, da die Blase nun zu schaukeln begann, wohl um Schwung zu holen, um besser über die Steine zu kommen.
„Er hat gesagt WALL, Mamms! G...ganz ohne Scheiß !“ und schon schickte sich der Kleine an, es Paul nachzutun.
„Wir müssen ihn so machen, dass die Blase immer wieder zurückrollen muss...hab` sowas nämlich schon ganz oft für den “Blaui“ gemacht“.
Kaum hatte die Kugel die erste Steinreihe überrollt, nahm sie schon den Wall in Angriff, rollte vor, kam zurück, rollte vor. Da sich der Blaui inzwischen von der Kugel gelöst hatte - Munk hatte sich verkniffen den anzurühren - nahm ihn Tobias, nachdem er den Schleim an der Felswand abgewischt hatte, in die Hand und ließ ihn, gerade als es der Blase gelingen wollte, über den Wall zu kommen, vorsichtig den Wall hinunter gegen den Bauch der Blase rollen.
Die Blase hatte offensichtlich nicht mehr genügend Klebe, verlor wegen der kleinen Kugel deshalb fast vollständig die Balance und rollte nur nach rückwärts, die alten getrockneten Schleimspuren entlang zur Höhle hinaus.
Draußen begegnete ihr die zweite Blase, Paul und Muttchen musste ein ähnliches Kunststück geglückt sein, und die beiden Blasen prallten zusammen. Sie klebten aneinander und rollten nun gemeinschaftlich ein gutes Stück noch weiter nach rückwärts.
„Puh, war das ein Schreck !“ Paul kam aus seiner Höhle hervor, wohl weil er alles für erledigt hielt.
Doch zu früh gefreut. Die Beute war nahe und diese Chance wollten die Blasen nun doch noch nutzen. Sie gingen an die Reserve heran, produzierten noch eine kleine Menge Schleim und schon rollten beide Kugeln vereint aber heißhungrig auf Paul zu.
„Ihr Biester !“ kreischte da Julchen mit Tränen in den Augen, ergriff sich Tobias Blaui -Munk hatte sich abermals verkniffen diesen anzurühren- und warf die Hartgummikugel nach den beiden Blasen.
Julchen war noch sehr klein und konnte daher auch nicht besonders gut werfen, doch jene Blase, welche bereits schon zweimal mit diesem kleinen blauen Ding schlechte Erfahrung gemacht und dieses wohl auch bei sich gespeichert hatte, rollte sicherheitshalber vor der kleinen Kugel erst einmal zurück und riss dabei die andere mit sich, welche noch immer an ihr klebte. Tobias Blaui sprang indes, wohl weil hier so viele Unebenheiten waren, wie etwas Lebendiges über Stock und Stein, hüpfte erst völlig zick zack, aber dann plötzlich schnurstracks zu den Blasen hinunter. Er gewann dabei sogar an Beschleunigung. Die Kugeln wichen zwar ebenso schnell zurück, achteten jedoch dabei nicht auf das, was hinter ihnen war. Da war nämlich nichts ! Vor lauter Schreck versuchten sie noch einmal Klebe zu produzieren, es gelang ihnen auch noch ein winziges kleines Kleckschen und so blieben doch noch in allerletzter Minute am Felsrand des Abgrundes, allerdings „kopfunter“ hängen. Sie schaukelten wie wild hin und her und wurstelten sich dabei mit größter Mühe vollends hoch. Gemeinschaftlich versuchten sie schließlich etwas mehr Schwung zu bekommen, um auch noch über den dicken Rand des Abgrundes und somit völlig auf die rettende ebene Felsfläche zu gelangen. Da hüpfte Tobias Blaui gerade das letzte Stückchen ausgesprochen elegant zu ihnen hinunter und Zack kickste er auch noch gegen die Blasen. Dieses kleine bisschen gab den entscheidenden Ausschlag. Das dünne Klebestückchen, an welchem die Blasen sich bisher noch gehalten hatten, riss nun doch und die beiden segelten gemeinschaftlich in den Abgrund.
Es knallte unten ganz gewaltig – sie waren wohl ohnehin für einen Vorgang der Explosion vorprogrammiert gewesen - eine grünliche Masse spritzte dabei nach allen Seiten, bis ganz nach oben. Es roch noch immer ätzend bis zu Tobias Nase und er hielt sich diese deshalb zu, als er hinunter schaute.
Schlagartig waren in diesem Felsspalt Bäume und Büsche verätzt und ein erhebliches Loch hatte sich dort gebildet, wo einst die zerfetzten Blasen aufgeschlagen waren.
„Uuuuh ! Das war echt knapp !“ ächzte Tobias erleichtert, dann wurde sein Gesicht aber plötzlich ganz ernst. “Und wo ist jetzt der Blaui ?“
Paul stand hinter ihm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. “Tja, der ist wohl für immer weg, Tobias !“ Er machte ebenfalls ein ernstes Gesicht. “Damit musst du dich nun abfinden ! Trage es tapfer wie ein Mann, denn...“
„Lügner, Lügner !“quiekte Julchen. hinter ihm. “Ich habe dich ja gesehen, wie du ihn vorhin aus dem Löwenzahn geholt hast, Paul !“
„Die Explosion hat ihn also bis ganz nach oben...? “Tobias wasserblaue Äuglein leuchteten auf. “Du liebe Schei...äh....schön !“ krächzte er zutiefst erleichtert.
„Ach Julchen, du bist wirklich eine Schnatterliese !“ schimpfte Paul lachend und dann griff er feierlich in die Gesäßtasche und stutzte, denn da war die Kugel nicht. Die Finger fuhren in die Tasche auf der anderen Seite, wieder nichts. Seine Bewegungen wurden immer schneller und unsicherer als er schließlich seine ganze Kleidung durchsuchte. “Ich muss sie verloren haben ?“ keuchte er und wirkte dabei so erschrocken, wie eigentlich sonst immer darüber nur Tobias. “Und zwar vorhin, als ich das Taschentuch hervorgeholt habe....“
„Er war keine “Sie“ sondern ein “Er !“ schniefte Tobias und wischte schon an einem seiner Augenwinkel herum.
Da hörte man das feine Rieseln von kleinen Steinchen und ein flinkes Rascheln.
“MUNK !“ kreischte plötzlich alles.
Munk schaute richtig verschämt drein, aber als man ihm die Kugel wegnahm, mit der er gerade so schön gespielt hatte, um sie Tobias zu reichen, fauchte er doch..

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George blickte hinab auf seine geschundenen Füße. Er musste sehr vorsichtig sein, dass er bei diesem Tempo keinen Fehltritt machte und die wunden Sohlen nicht schon wieder gegen einen der spitzen Felsen kamen, die hier und da herausragten. Zu spät ....“Aaaargh !“ Er schrie abermals schmerzerfüllt auf, aber der Hajep hinter ihm hatte kein Erbarmen, trieb ihn mit vorgehaltener Waffe einfach immer weiter den Pass hinab.
“Noi te jetira ! Ich bin unschuldig !“ beteuerte George schon wieder. Keine Reaktion erfolgte. Er hatte in hajeptisch gesprochen, also mussten die sechs Kerle hinter ihm ihn eigentlich verstehen. Er versuchte, für einen Augenblick über die Schulter nach ihnen Ausschau zu halten, um festzustellen, ob sie ihn überhaupt gehört hatten oder ob sie nur untereinander Kontakt mit ihren Sendern hielten, die in den tropfenförmigen Helmen verborgen waren, aber er hatte Angst zu stolpern. Es war schwierig, mit den hochgebundenen Armen im Nacken bei solch einem Tempo die Balance auf einem derart schmalen Gebirgspfad zu halten, also sah er lieber wieder nach vorn und passte weiterhin auf wohin er lief. Zwar war er hier aufgewachsen und kannte daher fast jede Felszacke, auch konnte er klettern wie eine Bergziege, aber ohne Schuhe war es kaum möglich, den Außerirdischen zu entkommen. Wer mochte ihn wohl vor rund zehn Tagen bestohlen haben ? Es fehlte ihm auch das Rad, sein Rucksack und noch andere weitaus wichtigere Dinge, an die er jetzt nicht zu denken wagte, denn er war sich nicht sicher, ob zumindest einer von diesen Soldaten die Fähigkeit hatte, Gedanken lesen zu können, da er schon so manches darüber gehört hatte.
Aber ärgern, dass er so versagt hatte, das leistete er sich nun doch. Niemals wäre er wohl in diese Situation gekommen, hätte er nicht damals den von irgendjemandem selbstgebrauten Fusel bis auf den letzten Tropfen in sich hineingekippt. Todsicher war der nicht in Ordnung gewesen, denn er hatte deswegen gleich geschlafen wie ein Toter und danach noch die nächsten zwei Tage davon kotzen müssen. Und gerade, als es ihm endlich so ein bisschen besser gegangen war und er in den leer stehenden Hütten der nächsten Umgebung nach Nahrung zu suchen begonnen hatte, waren diese sechs hajeptischen Soldaten gekommen, hatten ihn eingekreist, nach Waffen durchsucht und verlangt, dass er sofort mitzukommen habe.
Was wollten sie von ihm ? Was hatten sie vor ? Es waren keine Loteken, sondern reinrassige Hajeps. Suchten sie nach etwas bestimmtem und meinten, dass gerade er darüber Bescheid wissen müsse ? Warum ? Hatte irgendjemand irgendetwas über ihn weiter herum erzählt ? Sein Herz machte einen Sprung, denn dort unten in einer kleinen Talsenke erkannte er ein silbergraues, etwa fünfzig Meter langes, stromlinieförmiges Kontrestin, das gerade gelandet war und - hoffentlich nicht auf ihn!– wartete. Es hatte seine Flügel zusammengeklappt und am Körper angelegt. Obwohl er große Angst hatte, was sie nun mit ihm anstellen würden, denn er hatte schon die fürchterlichsten Dinge gehört, tröstete ihn grotesker weise gerade das, was ihn eben noch am allermeisten geärgert hatte, nämlich die Tatsache, bestohlen worden zu sein. Ha, er wusste ehrlich nicht, wo es war ...ES.... nach dem sie ganz sicher suchten ! Niemand außer dem grauen Himmel über ihnen konnte nun über dieses Ding Auskunft geben. Und mit einem Male stimmte ihn dieser Umstand direkt ein wenig heiter. `Sie haben es nicht mehr`, jubelte eine trotzige Stimme in ihm, `sie, die großartigen, übermächtigen, hochnäsigen, reinrassigen Hajeps. Sie haben zwar unsere ganze wunderschöne Welt gemeinschaftlich mit den brutalen Loteken erobert, aber es besteht die wunderbare phantastische Möglichkeit, dass sie ES vielleicht sogar nie...NIE MEHR wiederbekommen werden !` Diese Tatsache verschaffte George mit einem Male einen dermassenen Trost, dass er leise ein Kinderlied vor sich hin zu summen begann.
Das schien die sechs Außerirdischen hinter ihm irgendwie nervös zu machen – also konnten sie doch hören !
Ihre Gesichter hinter den üppig verzierten Helmscheiben waren zwar nicht zu erkennen und somit auch kein Mienenspiel, aber sie schienen ihre Köpfe einander zuzuwenden und die Bewegungen ihrer Arme und Beine wurden ungleichmäßiger. Der Gewehrlauf jenes Soldaten, welcher direkt hinter ihm war, bohrte sich ihm schließlich schmerzhaft in die Rippen.
„Ne tus sanna...ZIETT ! Deakalis ?“ hörte er wütend eine heisere und etwas nasal klingende Stimme aus dem Helm.
Aha, er sollte also auf der Stelle ruhig sein. Ehe George Zeit hatte, irgend etwas Belustigtes in Hajeptisch zu erwidern, war er auch schon über einen Felsbrocken, der im Wege gelegen hatte, gestolpert und lang hingeschlagen.
Der Soldat war ungeheuer fix und noch vor ihm, ehe George auf die Beine gekommen war. Er packte ihn beim Kragen.
“ To Keinen Ton mehr. Ichto dala unto, CHAGA ?“ der riesige Kerl riss ihn dabei mit nur einer Hand vom Boden hoch und stellte ihn wie eine Puppe – George war nicht gerade leicht und auch nicht klein - auf den Boden..
George keuchte überrascht. “Ja, ich werde euch alles sagen !“ erklärte wieder in Hajeptisch. “Was bleibt mir anderes übrig !“ George wedelte hilflos mit den Händen. “Aber ich weiß nichts,wirklich nichts !“

„Dam- hes ribuna inti !“ fauchte der Außerirdische und schüttelte ihn, doch plötzlich geschah etwas sehr Verblüffendes, denn irgendwie schmerzerfüllt ließ ihn der Hajep los, ließ den Arm kraftlos hängen und bewegte dann vorsichtig einen seiner behandschuhten Finger nach dem anderen, wobei er immer noch große Schmerzen zu haben schien.
Nicht nur George war darüber erstaunt, auch die Soldaten hinter ihm. Diesen Moment des Abgelenkt seins nutzte George für sich aus.
“Ok, keine Lieder mehr !“ rief er noch auf Hajeptisch, verbarg scheinbar spielerisch sein Gesicht mit den Armen, spuckte dabei jedoch den Ring in seinen Ärmel, den er die ganze Zeit in seiner rechten Backe verborgen gehalten hatte, senkte die Arme zu beiden Seiten, als würde er artig stramm stehen und ließ dabei den Ring in die Faust fallen. Im Nu hatte er nicht nur die Winzwaffe auf dem Finger, sondern auch entriegelt und nach den ersten drei, vier völlig verdutzten Soldaten hinter ihm gefeuert.
Doch wenngleich er vorhin noch den Eindruck gewonnen hatte, dass diese Hajeps in Uniformen aus irgendeinem zwar fremdartigen jedoch weichen Tuch gekleidet waren, so wurde er jetzt über diesen Irrtum aufgeklärt. Denn kaum hatte der feine bläuliche Strahl ihre Uniformen berührt, zog der weite bauschige Stoff seine Maschen drastisch zusammen und bildete einen harten Panzer. Doch der Aufprall des Strahls war so schnell erfolgt und so massiv gewesen, dass die Soldaten keine Zeit fanden, sich von ihrer Überraschung zu erholen und ihre Waffen richtig einzusetzen. Selbst die Balance auf diesem schmalen Pfad zu halten gelang ihnen nicht, sie fielen nach hinten, und das sah beinahe lustig aus, wie sie dabei auch noch die anderen, welche George nicht getroffen hatte, mit sich rissen und den Hang hinab rollten.
George zögerte keine weitere Sekunde. Er drehte sich herum, um auch auf jenen Soldaten zu feuern, von dem er hoffte, dass der immer noch mit seiner schmerzenden Hand beschäftigt sein würde. Doch dem war nicht so. Licht funkelte aus dessen Helm und der Außerirdische hielt genau jenen Arm, der wohl nicht schmerzte, George ausgestreckt entgegen. George feuerte trotzdem und fühlte sich im selben Moment wie von Geisterhand in die Luft gehoben. Der Schuss ging dabei nicht nur fehl, George sah, dass sich der feine Feuerstrahl seines Ringes ins Felsmassiv genau jener Felsspitze eingefressen hatte, bis zu der ihn besondere Kräfte, die er nicht kannte, blitzartig empor gehoben hatten. `Telekinese !` durchfuhr es George entsetzt, als er so in der Luft schwebte. Ich bin ihnen ausgeliefert ! Verzweifelt versuchte er, sich an dieser Felsspitze festzuhalten, da er spürte, wie diese unheimlichen Kräfte ganz allmählich nachließen. Angsterfüllt blickte er hinab, und sah winzig klein nicht nur die sechs Hajeps wieder auf dem schmalen Bergweg direkt unter ihm stehen. Auch andere aus dem Tal kamen gerade hinzu. Sie hatten alle ihre Köpfe zu ihm erhoben und blickten zu ihm hinauf, als würden sie sagen : Komm` doch von da zu uns herunter, du Lümmel, hähähä !
Das derbe Gestein fraß sich in Georges kräftige Finger, als er da so für ein ganzes Weilchen hing. Zum Glück war er das Klettern gewohnt. So konnte er das für eine Weile aushalten. Die Außerirdischen schienen viel Zeit zu haben, denn sie warteten dort unten in aller Seelenruhe neugierig darauf, was er nun wohl da oben so alles anstellen würde. Als erstes hörte er erst einmal auf, wie ein Verrückter weiterhin nach ihnen zu feuern, denn er erreichte sie nicht mehr, dann machte er Klimmzüge, um mit den schrundigen Füße an der ausgesprochen schmalen Spitze irgendwo Halt zu finden. Doch die war durch seinen Schuss ziemlich porös geworden. Es knackste nach einem Weilchen bedenklich. George hoffte nun, einen Felsvorsprung irgendwo vorzufinden, auf dem er sich fallen lassen konnte, um von dort aus um die Spitze herum einfach auf die rückwärtige Seite des Berges zu klettern, damit er nicht mehr zu sehen war. Zwar wusste er, dass diese reinrassigen Hajeps sagenhaft schnell denken konnten, aber damit hatte er nun nicht gerechnet, denn ausgerechnet dieser Berg, war rundherum total glatt, was bedeutete, dass er, wenn er losließ, nur noch ein Matschhaufen sein würde, sobald er vor den Füße der Hajeps landete. Abermals knackste es und er hatte das Gefühl, als gäbe die Spitze bereits ein kleines bisschen nach. George trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Er hoffte jetzt wie nie zuvor, dass sich keine „Scramune“ Gedankenleser unter diesen Soldaten befinden mögen und schrie dann aus Leibeskräften.
“Bitte....bitte lasst mich beizeiten herunter. Ich bin lebend am Wertvollsten. Habt ihr gehört ? He, ich kann euch ein Versteck verraten, wo etwas liegt, nach dem ihr wohl sucht !“ Er schluckte, denn ihm war ganz trocken im Halse. Hoffentlich hatte er die richtigen hajeptischen Worte gefunden, denn vollkommen kundig in dieser Sprache war er leider noch immer nicht. Auch beherrschte er oft nicht die richtige Betonung. Sein Herz pochte. Hatten sie verstanden ? Verdammt, wieder erfolgte gar keine Reaktion ! Zu seinem Entsetzen merkte er stattdessen, dass nun die Felsspitze völlig nachgab. Sein Körper war für diese lange Belastung zu schwer gewesen, es knirschte und knackte noch ein allerletztes Mal, das war gar nicht mal so laut gewesen, dafür aber Georges Geschrei, als er zwar immer noch die Felsspitze verzweifelt und hoffnungslos in den Händen haltend, ins Leere hinabsauste.
Hier und da fingen ihn endlich zwar seltsame Kräfte auf, aber er prallte dabei komischerweise gegen die Felswände, rutschte und rollte dabei an irgendwelchen Berghängen hinunter, bis er endlich in einer gewaltigen Wolke aus Staub und aus vielen Wunden blutend mit total zerschlissener Kleidung wieder auf dem Bergweg angekommen war. Halb ohnmächtig blieb er erst einmal vor den Füßen der Hajeps liegen, die für ihn nur einen Schritt zur Seite gegangen waren. Als er zu sich kam, hatte er keinen Ring mehr am Finger und es stellte sich ihm ein Stiefel in den Nacken.
“Rutak enu ta orba, SUKI ! Tjoro ka ne a JIMA lumanti !“ hörte er den Hajep über sich fauchen. Also hatten sie ihn verstanden und ihm wohl sogar geglaubt. Sein Nacken schmerzte, denn der Stiefel war hart. Es war eine andere Stimme als vordem gewesen. George blinzelte daher vorsichtig hoch und entdeckte am Saum des Mantels, der über dem Stiefel hing, die gelbe Borte, also das typische Zeichen eines Tjufats, eines Unteroffiziers, einer jener ranghöheren Männer, die wohl eben aus dem Tale zu ihm hoch gekommen waren..
George versuchte ein Nicken, was ihm unter dem Stiefel nur kläglich gelang. “Ich....tue alles für euch !“ versuchte er möglichst deutlich auf hajeptisch zu sagen. Doch er hatte den Eindruck, da sein Mund fast völlig auf den Felsboden gedrückt wurde, es wäre nur ein einziges Genuschel. “Äh.....folgt mir, es ist ein langer Weg, aber ich w...werde euch diesen Weg zeigen.“ Er wartete, denn wieder erfolgte keinerlei Reaktion. Hatten sie das Geknautsche verstanden ? Er zweifelte plötzlich völlig an sich selbst. Der Stiefel drückte ihn jetzt noch fester auf den Boden. George konnte die Lippen gar nicht mehr bewegen, nur noch keuchen. Er wusste, sie konnten ihn zertreten wie eine Fliege. Plötzlich ließ der Druck nach, spürte er, wie der Stiefel erhoben und schließlich dicht neben seine Wange auf den Boden gestellt wurde.
“Laku schré, tabit Lumanti ! Ne kok ti emra ! Wona silfan plo tu !“ brüllte ihn das Oberhaupt der kleinen Meute an.
George durfte sich also erheben, sie glaubten ihm. Er sollte sie zu seinem Versteck führen, dorthin wollten sie mit ihm fliegen. Er taumelte, als er sich aufrichtete, alle Knochen taten ihm weh und er sah, dass er überall blutete. Ein Tritt in den Hintern veranlasste ihn jedoch, sofort schnellstens zum Tal hinab zu laufen.

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Etwa drei Tage nach diesem Erlebnis begegnete ihnen eine andere Familie, die, genau wie die Bauern damals, in die entgegengesetzte Richtung nach Norden wollten. Paul klärte sie über die schrecklichen Verwüstungen in Hornberg auf und so kehrte die Gruppe -sie bestand im übrigen aus einem etwa vierzigjährigen Mann, seiner wohl fast gleichaltrigen Frau und deren fünfjährigem Söhnchen und einem jungen Mädchen, welches auf der langen Flucht ihre Eltern verloren und sich denen angeschlossen hatte– traurig wieder um, denn man hatte sich dort Zuflucht bei Verwandten, endlich ein Dach über dem Kopf erhofft. Unterwegs kam man sich näher und ins Plaudern und so schilderte Paul ihnen unter anderem auch das Erlebnis mit den glibberigen Blasen. Als er zum Ende kam, gerade wo Tobias Blaui gesiegt hatte, lachten alle vier laut und verblüfft auf.
“Das ist ja fast symbolisch“, meinte Annegret, die kräftige und sportlich wirkende Frau von Herbert, “denn dieser
Blaui...“ ( Tobias hatte ihn zuvor natürlich stolz und hoch erhobenen Hauptes herumgereicht ) „...sieht wirklich geradezu verblüffend unserer Erde ähnlich ! Ha, unsere Welt besiegt vielleicht doch noch eines Tages diese schrecklichen Außerirdischen!
Annegret waren bei dieser Vorstellung ganz automatisch die Tränen gekommen. “Ach, ich wünschte, es wäre wirklich so“, hatte sie gestammelt und dann musste sie plötzlich losschluchzen.
“Aber Anne!“ Herbert, der beinahe zierlich gegenüber seiner Angetrauten wirkte, nahm sie betroffen in die Arme und wischte ihr die Tränen von den runden Wangen. “Reiß` dich doch bitte ein wenig zusammen, ja ?“ dann wandte er sich an die anderen. “Ja, ja, es war wirklich schlimm für uns !“ meinte auch er ziemlich nervös. “Diese ganze letzte Zeit ! Das muss man schon sagen. Wir können noch froh sein, dass wir nicht völlig dabei durchgedreht sind.“
Und schon begannen sie, ohne dass Margrit sie noch rechtzeitig wegen der Kinder, die ja dabei zuhörten, stoppen konnte, von all den grausigen Dingen zu erzählen, vor denen sie sich oft gerade mal so hatten retten können.
Natürlich schnitten sie dabei auch ein wenig auf. Margrit kannte das ja. Jeder, der ihnen begegnete, hatte eigentlich immer das Schlimmste erlebt, was es halt so geben konnte ! Und dabei fiel ihnen auch noch ein, was sie so alles über Loteken oder Hajeps gehört hätten und so hielt sich alsbald Dieterchen, das etwa fünfjährige und ziemlich lebhafte Söhnchen beide Ohren zu und Julchen und Tobias taten es ihm nach. Ja, sie sangen schließlich noch dazu ganz laut vor sich hin, jeder ein paar muntere Kinderlieder. Herbert gemahnte sie immer wieder zur Ruhe und so trollten sich die Kinder bis ganz nach vorn an die Spitze des Zuges. Muttchen führte den diesmal seltsamerweise an, wenn auch sehr langsam, und noch weiter vorne schlich Munk in großem Abstand.
Man schlenderte also ziemlich bedächtig vorwärts – Munk hatte inzwischen sogar eine altersschwache Amsel erlegt, die er sofort verspeiste – und schließlich war Annegret sogar stehen geblieben, so sehr war sie bewegt von dem neuen Thema, auf welches sie auch noch zu sprechen kommen wollte. Herbert stoppte ebenfalls und holte tief Atem. In diesem Moment wünschte sich Margrit insgeheim, es den Kindern nachtun zu dürfen, aber das wäre ja unhöflich gewesen. Und da Paul sich tatsächlich sehr interessiert zeigte, konnte Annegret nun auch noch in aller Ruhe schildern, wie Herbert und sie selbst vor einigen Tagen nur knapp mit dem Leben davon gekommen waren.
Paul fand schließlich zu Margrits Überraschung, dass es ausgesprochen gut war, nach Tagen völliger Isolierung endlich Menschen angetroffen zu haben, von denen man nicht nur neues hören, sondern sich zudem über all seine Probleme, die man inzwischen reichlich gehabt hatte, aussprechen konnte. So war es nicht verwunderlich, dass man auch abends gemeinsam vor dem Feuer saß und Paul schließlich – wieder sehr zu Margrits Verwunderung - sogar seine mühsam erhandelten Lebensmittel anbot. Da kam man sogar zu dem Entschluss, künftig gemeinsam weiter Richtung Coburg zu ziehen und sich erst dort zu trennen.
“Es ist ja der reinste Unsinn“, meinte Herbert, während er noch an seinem Brot kaute, “dass die Außerirdischen kleineren Gruppen nichts tun würden ! Sowohl Hajeps als auch Loteken scheint das doch inzwischen ziemlich egal zu sein. Hauptsache sie haben Menschen vor sich, die sie möglichst bequem “erledigen“ können !“
„Genau !“ erwiderte Paul, der sich von den Bauern damals auch ein kleines Schnapsfläschchen erhandeln hatte können. Er rülpste laut und stieß mit Herbert an. “...und Prost !“
„Prost Paule...auf ein langes Leben !“ Herbert lachte dabei hysterisch und Paul fiel gleich mit ein.
Annegret, Margrit und Muttchen waren zwar sehr müde, kicherten aber ebenfalls. Ach, man konnte sich gegenseitig nicht genug austauschen, zum Beispiel über das geschickte Flicken und Stopfen von Kleidung oder aber auch über das Erstellen aparter Süppchen aus den Kräutern der anliegender Wiesen und Wälder. Erst als sie darauf zu sprechen kamen, dass auch Mäuse, ja, ganz besonders gut sogar Katzen schön lange über dem Feuer gebraten schmecken sollten und Annegret dabei einen recht hungrigen Blick auf den alten, aber immer noch stattlichen Munk zu werfen begann, wurde man doch etwas stiller.
Tobias und Julchen indes kümmerten sich noch immer nicht um die Erwachsenen. Sie spielten die ganze Zeit mit Dieterchen Versteck. Munk machte auch manchmal mit, aber er konnte das nicht so gut und so übersah man ihn zu seinem Ärger immer wieder.
Schließlich stieß sich Dieterchen, gerade als ihn Tobias haschen wollte, an dessen Rucksack ziemlich schmerzhaft den Fuß. Und heraus aus dem Sack trudelte der braun schimmernde, etwa zehn Zentimeter lange und ca. sechs Zentimeter breite Metallkern. W..was ist denn das ?“ rief Dieterchen verdutzt und rieb sich leise ächzend den großen Zeh..
Tobias errötete. “Schscht, leise Mann, das hier is` nämlich ein richtiges außerirdisches Geheimnis !“ Und er verstaute hastig, sich mehrmals dabei nach den Erwachsenen umschauend, das seltsame Ding.
„Echt ?“ entfuhr es Dieterchen mit einer Mischung aus Angst und großer Bewunderung.
„Schscht...ohne Scheiß, Mann !“ Nun doch ein wenig stolz und mit geschwellter Brust lehnte Tobias den Rucksack an die Feldwand.
Du....duhuuu...“, krächzte Julchen, die nun auch etwas angeben wollte, leider ziemlich laut Dieterchen ins Ohr und daher verzog der sein Gesicht, „... das is` nämlich ein Käfer !“
„Glaub` ich nich` !“ protestierte Dieterchen mit einem Male neidisch. “Weil, Käfer sind gar nich` so groß und...der...der hier is` aus Metall. Es gibt nich` Käfer aus Metall, so !“
„Gibt`s doch, ätsch !“
„Quatsch !“ Dieter hielt sich sicherheitshalber das Ohr zu. “Außerdem hat der hier keine Krabbelbeine !“
„Hab es aber gese-häään !“ triumphierte Julchen noch lauter und er drehte daher sicherheitshalber auch noch seinen Kopf weg.
„Was ?“ zischelte er verdrießlich zu ihr über die Schulter.
„Na, sein Bein !“ Julchen zeigte ihm dabei einen ihrer Finger. “Der...der hat eins, ein ganz langes und ganz ganz doll haariges... puh !“
„Was soll ein Käfer nur mit einem ?“
„Weiß ich auch nich` !“ sagte sie kleinlaut.
Ein jeder war also beschäftigt. Nur Ilona, das junge, schwarzhaarige Mädchen, hielt sich still und schüchtern zurück.
In den nächsten Tagen anstrengender Wanderschaft bemühte sich Paul rührend um das auffallend schweigsame, jedoch hübsche Geschöpf, und siehe da, mit einem Male wurde es wesentlich lebhafter, dankte ihm seine Aufmunterungsversuche, Witze und Scherzchen zunächst mit kleinen Küsschen auf die Wange und schließlich auf den Mund, wobei sie ihm tief in die Augen sah. Schließlich tobte Paul, wann immer es ihm auch nur möglich war, mit Ilona über die Wiesen oder durch die Wälder. Freilich machten die Kinder gern dabei mit, aber Margrit glaubte zu bemerken - oder war sie nur eifersüchtig ? - dass für Paul die Kinder im Grunde ziemlich unwichtig dabei waren.
Doch weitere Gedanken konnte sich Margrit kaum machen, denn im Laufe weniger Tage waren die Vorräte bei zwei Familien schnell verbraucht. Da man also wieder sehr hungrig war, beschloss man, sich nach den niedrig fliegenden Raumschiffen zu richten, wie manche Tiere etwa nach den Schwalben, denn man hatte inzwischen begriffen, was das bedeuteten konnte : Drehte es sich zum Beispiel dabei um ortsansässige Hajeps, waren diese meist bemüht die riesige Flut Menschen, welche wohl plötzlich von allen Seiten in ihre Gebiete zu strömen schien, auf alle nur erdenkliche Weise zu vertreiben, gegebenenfalls aber auch zu töten. Waren es allerdings Loteken, die so niedrig flogen, konnte man ziemlich sicher sein, dass sie wieder mal ein Dorf überfielen und dessen Einwohner töteten. Meist sprengten sie die Dörfer nicht in Luft, so wie einst Hornberg. Daher blieb viel Nahrung in den Häusern zurück, welche die Eroberer nicht anrührten und da die selbstgebastelten, stets am frühen Abend aufgestellten und am frühen Morgen wieder eingesammelten Tierfallen, kaum den kargen Speiseplan erweiterten, zogen beide Familien, obwohl sie sich schämten, los, in diese zerstörten Dörfer, ließen die Kinder bei Muttchen, die denen dann stets Märchen erzählte. Sie selbst kletterten manchmal dabei sogar über die oft grausig verstümmelten Leichen und durchsuchten die Hütten nicht nur nach Nahrung, sondern auch nach warmen Decken, nach Kleidung und Werkzeug, um die Fahrräder zu reparieren, aber auch nach anderen fahrbaren Fortbewegungsmitteln. Manchmal begegneten ihnen dabei “Smurlis”, Schwarzhändler, welche ebenfalls die Überfälle bemerkt hatten, oder von irgendwoher informiert worden waren.
Eines Tages erfuhren sie deshalb von solch einem “Smurli”(es war ein hajeptisches Wort und hieß Dieb), während sie gerade einen großen Sack mit Äpfeln durch die Gegend schleppten, die sie von einem der Bäume geerntet hatten, dass zur Zeit wohl das ganze Gebiet von Loteken bevölkert wäre.
“Bin gespannt, wie lange die Hajeps sich das noch gefallen lassen werden“, knurrte der. “Sollte mich nicht wundern, wenn es deswegen vielleicht sogar eines Tages Krieg zwischen unseren Eroberern geben würde. Stellt sich dabei nur die Frage. Wäre das gut oder schlecht für die Menschheit ?“ Der Smurli kratzte sich dabei gedankenversunken an seinem schmutzigen Stoppelkinn. “Sind schon beides arg verrückte außerirdische Völker, ausgesprochen hitzig und kriegerisch ! Dabei interessiert mich, was die Loteken wohl plötzlich haben ? Irgendetwas Ungewöhnliches muss doch mit einem Male passiert sein, dass die so durchdrehen ? Tja, wer weiß, was wir noch alles zu erwarten haben ?“ Er war sehr gesprächig, denn er hatte einiges getrunken und so erzählte er, dass es noch heute Morgen in diesem Dorf von lila-grauen Uniformen nur so gewimmelt hätte. Freilich wären jetzt alle fort, aber wehe, wer ihnen heute begegnete !
Man kann sich vorstellen, welche Sorge Margrit nach dieser Hiobsbotschaft - trotz allem – auch um George hatte. Denn sie meinte nun zu wissen, auf welche Weise der Junge damals zu seinem Proviant gekommen war. Außerdem, konnte man barfuss im Gebirge klettern ? War man da schnell genug, wenn die Außerirdischen kamen ? War es ihm gelungen, noch rechtzeitig Schuhe zu ergattern ? Er schien kein Mörder zu sein. Auch das hatte sich herausgestellt. Der Dörfler war ganz sicher an “Mygestin", einem Serum, das im Blut eine solch verrückte Reaktion auslöst, dass mit zunehmendem Maße kein Gerinnungsstoff mehr im Körper gebildet werden kann, zu Grunde gegangen. Durch einen nur winzigen Einschuss, konnte jeder Mensch in wenigen Sekunden zum “Bluter“ werden. Wer keine Ahnung hatte und die Wunde berührte, stand in Gefahr, sich durch den an der menschlichen Haut lang anhaftenden und äußerst wirkungsvollen Stoff selbst zu infizieren. Ein solch infizierter Mensch verblutete also allmählich und lebte nicht länger als einen Tag. George hatte, vermutlich aus hygienischen Gründen, die Leiche des Mannes in den Abgrund geworfen, wohl damit dieser auf dem Erdreich zwischen Bäumen und Gebüsch besser und schneller verweste als das auf Felsen und Gestein der Fall gewesen wäre, denn mit sich schleppen konnte er ja den hochgefährlichen und gewiss auch schweren Leichnam nicht auf ewig. Er hatte die kleine Familie wohl auch deswegen mitten in der Nacht um Hilfe bitten wollen und es sich dann doch anders überlegt.
„Ja und ?“ bemerkte Paul nur dazu trocken. “Es sterben so viele Menschen. Es macht mir nichts, ob dieser George nun sofort im Gebirge oder auf irgend einem längeren Weg von Hajeps oder Loteken aufgegriffen worden ist.“
„Aber mir“, fauchte Margrit fassungslos. “Nie...nie mehr werde ich jemanden nur wegen eines bloßen Verdachtes Willen in Gefahr bringen. Nie mehr ! Hörst du ?“
„Ja, ich hab`s gehört und weißt du was ? Nicht nur George auch deine Meinung ist mir inzwischen scheißegal !“
„Der...der hat Scheiße gesagt ?“ mokierte sich Tobias, welcher genau wie Julchen und Dieter in diesem Moment zugehört hatte. Es saugte seine Unterlippe ein, Julchen zog stirnrunzelnd einen weiteren Faden aus ihrem Ärmel und Dieterchen sang plötzlich wieder sehr laut ein Kinderlied und dann hüpften alle drei Paul davon.
„Und die Kinder, die sind dir wohl auch sch....na..ganz egal, was ?“ schniefte Margrit und suchte dabei nach einem der Taschentücher, die ihr George einst als kleinen Vorrat gegeben hatte..
„Die Kinder, die Kinder, nuuur die Kinder !“ murrte Paul.
„Ach, ist ja gar nicht wahr !“ schluchzte sie. “Du bist ja so ungerecht !“
„He, und nun sind wir gleich wieder am weinen, nuuur am weinen !“
„Ja, und ?“ fragte sie und schnäuzte sich dabei gründlich die Nase aus. “So bin ich halt !“
Er schüttelte nur stumm den Kopf und wandte sich ab.
Tage vergingen und die kleine Schar huschte ängstlich, gleich verlorener, aufgescheuchter Küken an Wiesen und unbearbeiteten Äckern vorbei. Etwas mutiger liefen sie hingegen durch die Wälder. Ilona, das junge Mädchen mit den großen, schwarzen Augen und dem dichten, langem Haar, wurde in solchen Momenten zu aller Überraschung sogar überlaut. Sie lachte und sang Lieder, kitzelte dann und wann dabei Herbert ab und schlich sich danach meistens von hinten an Paul heran, um ihn zu necken. Das endete nicht selten damit, dass sich Paul mit Ilona um die Bäume herum jagte und dann ging`s los, über Stock und Stein, oft in die Waldeslichtungen hinunter, bis man die beiden nicht mehr sah, wo aber Paul ganz gewiss endlich Ilona bändigte.
Den Kindern war das inzwischen irgendwie zu „blöde“ geworden. Sie hatten eigene Interessen und beschäftigten sich miteinander ganz ausgezeichnet.
Oft, wenn Margrit mit Annegret und Muttchen Beeren oder Pilze sammelte, Herbert half nicht selten dabei, hörten sie das laute Juchzen von Ilona und Paul noch aus weiter Ferne. Es dauerte schließlich immer länger, bis die beiden mit rot erhitzten Gesichtern auftauchten und mithalfen.
Nicht nur Paul und Ilona auch Julchen und Tobias versteckten sich inzwischen vor Margrit, denn auch sie hatten ebenfalls ein Geheimnis zu verwahren, natürlich teilten sie dieses wie immer gemeinsam mit Dieterchen, denn es galt, mit Munks Unterstützung den außerirdischen “Käfer“, von dem Dieterchen immer noch behauptete, dass der keiner wäre, auf das Gründlichste zu erforschen, denn der wollte partout kein Bein mehr vorzeigen. Selbst Tobias begann allmählich, Julchens Aussage zu bezweifeln. Dabei stellten die Kinder allerdings fest, dass “Flutschi”, wie das “Ding” von Tobias genannt worden war, fliegen konnte, sobald man “ihn“ nur einander zuwarf, ähnlich wie einen Ball. “Flutschi” pflegte dann, zu beiden Seiten seines schön gerundeten Körpers ein paar gelee -und flossenartige Flügelchen auszufahren und an seinem Hinterteil drei winzige gummiähnliche Düsen, die ihn dazu brachten, elegant durch die Luft zu sausen oder schwerelos einfach stehen zu bleiben. Trotzdem stritt Dieterchen weiterhin vehement ab, dass solche Flügel ein Beweis dafür wären, dass dieses “Blechding“, wie er es verächtlich nannte, nun ein Käfer sei.
Flutschi war aber zu Tobias Stolz bald sehr in Form ! Er wies zwei ganz verschiedene Möglichkeiten an Flugbewegungen auf, bei denen “er” – Julchen meinte allerdings, es wäre eine “sie“– vorwärts oder rückwärtig ausweichen konnte. Hob man “ihn“ zum Beispiel mit ausgestrecktem Arm nach oben und hielt die Hand ruhig, bevor man “ihn“ fortwarf, rauschte “er” auch ebenso ruhig und schnurgerade auf`s Ziel zu, welches man bereits für “ihn“ ausgesucht hatte, schwenkte man “ihn“ jedoch zuvor für einige Sekunden hin und her, segelte “er” hektisch und in Schlangenlinien los. Dabei nahm “er” die Farben seiner Umgebung an, ähnlich wie ein Chamäleon, so dass er praktisch unsichtbar war. Die Kinder hatten es sich inzwischen zur Aufgabe gemacht herauszufinden, weshalb “Flutschi” ausgerechnet diese Art Fortbewegungsmöglichkeiten anzeigte und ob “er” die wohl auch im oder gar unter Wasser konnte.
Tobias, Julchen und Dieter hatten also richtig viel zu tun und weil richtige Forschungsarbeiten richtig anstrengend werden können, hielten sie es für richtig, richtige Pausen zwischendurch einzulegen, in denen sie oft Murmeln spielten, wobei Dieter zu seinem Kummer noch nie Tobias “Blaui” gewonnen hatte.
Einige Tage später, als Margrit nach solch einer langen Mittagspause und nach noch längerem Suchen Paul und Ilona nackt und eng umschlungen und hinter einem prächtigen Busch liegend, vorfand, riss bei ihr doch der Geduldsfaden, und sie stellte Paul zur Rede. Aber anstatt, dass der auf Margrits Fragen einging, sprach mit ihr nur das Mädchen.
„Margrit, ja, es ist ganz so, wie es aussieht !“ sagte Ilona seelenruhig. “Warum sollten wir uns schämen ? Außerdem...ich weiß gar nicht, was du hast ?“ Sie hielt sich nur flüchtig das schicke Blümchenhemd vor ihre Brüste und auch Paul, der zwar einen roten Kopf bekommen hatte, bedeckte sich nur ausgesprochen knapp vor Margrit. “Du lieber Himmel“, meinte Ilona weiter, “wir leben im Krieg, jeder nimmt sich, was er nur so bekommen kann !“ Und ihr Blick versenkte sich dabei ziemlich unverhohlen zwischen Pauls Schenkel, blieb haften an dem, was dort noch zu sehen war. “Paul hat mir von Anfang an gefallen !“ Sie beleckte sich die Lippen. “Er bietet mir alles, Geborgenheit, Schutz und vor allem Zärtlichkeit !“ Ihre Augen wurden zu kleinen Schlitzen. “Zunächst hatte ich zwar Hemmungen wegen der Kinder, weißt du ? Deswegen war ich erst so still, aber dann erfuhr ich, dass sie weder deine, noch seine sind !“ Ihr hübsches Gesicht bekam einen heiteren, fast erlösten Ausdruck. “Du hast sie dir nur einfach genommen.“ Sie lachte befreit und schwenkte dabei ihr Haar nach hinten über die bloßen Schultern. “Paul ist nicht einmal mit dir verheiratet ! Also, was willst du eigentlich ?“
„Ich...“, begann Margrit, wusste aber plötzlich nicht mehr so recht, was sie dazu anmerken konnte, `...liebe
ihn !` hatte sie eigentlich hervorbringen wollen.
„Ach, behalt` DU doch ruhig diese Kinder, ja ?“ plapperte Ilona einfach weiter. “Und ICH behalte meinen Paul,
ok ?“ Sie beugte sich vor und ihre Zunge fuhr sacht über Pauls noch immer liebeshungrigen Mund. Er musste darüber lächeln, wenn auch verstohlen.
“Ach, sie ist ja, so ein Kind !“ mühte er sich noch schnell Ilona bei Margrit zu entschuldigen. Schon ließ das Mädchen das Hemd fallen und schlang beide Arme um seinen Nacken. “Jetzt nicht !“ keuchte er. “Ilona, hörst du, jetzt n.... !“ Da konnte er nicht mehr anders, als sich mit zarten und dann immer wilder werdenden Küssen des Mädchens zu ergeben. Ach, es störte die beiden ganz und gar nicht, dass Margrit dabei zuschaute. Deren Blick verschleierte sich allmählich, heiße Tränen tropften ins Gras. Gesenkten Hauptes schlich Margrit endlich von dannen.
Noch am selben Tage machte Margrit Anne und Herbert deutlich, dass sie künftig ohne Paul weiterziehen wollte. Natürlich waren die beiden zunächst total geschockt, doch dann erzählte Margrit, was vorgefallen war. Da auch
diese Familie, wie fast alle Menschen jener Zeit, sehr verständnisvoll für jedes Gefühl der Liebe war, verurteilte niemand Paul oder gar Ilona deswegen. Aber man reagierte auch nicht mit Unverständnis, dass Margrit traurig darüber war und dies alles nicht länger ertragen wollte.
“Überleg`s dir trotzdem noch mal, Margrit!“ gemahnte sie Annegret. “Auch wenn die Außerirdischen unbesiegbar sein sollen, so stellt ein Mann an eurer Seite doch immer einen gewissen Schutz dar!“
Gesprächig wie Annegret war, teilte sie dabei Margrit mit, dass es ihr schwer fallen würde, sich von Ilona zu trennen. “Das Mädchen ist uns inzwischen sehr ans Herz gewachsen, stimmt`s Herbi?“
Der hatte nur Zeit für ein kurzes “Ja“, denn sogleich begann Annegret von all dem zu erzählen, was sie so bereits mit ihr erlebt hatten. “Sie ist im Grunde ein guter Kerl!“ endete sie und Herbi nickte dazu grinsend. “Das kannst du vielleicht nicht verstehen, weil sie dir den Mann weggenommen hat, aber....“, Annegret konnte, wenn sie erst einmal in Fahrt gekommen war, so schnell nicht mehr aufhören, und nur hier und da warf Herbert etwas dazu ein, aber immerhin kam schließlich doch etwas sehr Wichtiges dabei heraus, nämlich, dass sie doch ein bisschen früher in irgendeiner Stadt ihr Glück versuchen wollten, als es Margrit, Paul und Muttsch beabsichtigt hatten
„He, da ist es doch ganz günstig, das bei dieser Gelegenheit gleich mal genauer abzusprechen!“ schlug Herbert endlich vor. Er war zu Worte gekommen, weil Annegret eine Fliege ins Auge gefallen war. “Also, was willst du? Gleich nach Coburg abdampfen oder noch ewig wandern, bis wir endlich....“, er unterbrach sich selber und verzog bei diesem Gedanken das Gesicht. “Nee wirklich, diese viele Latscherei, das ist echt nichts mehr für mich! Tja, wenn ich die verdammten Kreuzschmerzen nicht hätte, dann würde ich vielleicht....“
„Ach, das ist es nicht allein!“ schmetterte Annegret, da sie die Fliege endlich aus dem Auge hatte, sofort wieder dazwischen. “Vergiss Dieterchen nicht. Er mit seinen dünnen Beinchen ... wie soll er das noch weiter schaffen?“
„Och“, warf Margrit ein, “der springt doch ganz munter damit herum!“
„ICH strapaziere eben nicht meine Kinder so wie du!“ fauchte Annegret.
„Besser strapaziert, als eines Tages von den Hajeps geschnappt!“ konterte Margrit.
„Dafür kannst DU deinen Kindern auch keine Sicherheit geben!“ zischte sie zurück.
„Na, na, na, ihr werdet euch doch nicht zu guter letzt in die Haare gehen?“ rief Herbert besorgt. “Ihr habt ja beide Recht! Jawoll, so was kann es geben! Niemand weiß doch im Grunde, was mit uns heute oder morgen geschehen wird!“
Beide Frauen atmeten mit hochroten Gesichtern tief durch. Er hatte wirklich Recht. Margrit besann sich als erste und begann in etwas ruhigerer Tonlage, obwohl sie noch immer völlig aufgeregt wegen Paul war: “Also, Muttsch und ich möchten vorerst keine größere Stadt betreten und erst in Würzburg bleiben.“
„Erst in Würzburg?“ riefen die beiden wie aus einem Munde. “Das ist vielleicht eine Strecke. Na schönen Dank!“
Dann trat für einen Augenblick Stille ein, was sehr erstaunlich für Annegret war.
„Schade!“ meldete sich Herbert sogar als erster. Er senkte den Kopf, dann schaute er zu Muttsch und den Kindern, die gerade in einer Waldeslichtung wieder einmal Verstecken spielten. “Die armen Kleinen ...“, er kam nicht mehr weiter, denn er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, “....sie haben sich doch inzwischen so gut angefreundet! Dieter hatte außerdem zum ersten Male eine Oma! Oh Gott ... wir werden ihnen wohl endlich diese schlimme Nachricht mitteilen müssen!“
Annegret kamen auch die Tränen. “Dieterchen ist außerdem ganz vernarrt in Munk“, sagte sie. „ Er ist überhaupt viel tierlieber geworden ... interessiert sich sogar für Insekten ... Käfer zum Beispiel! Er redet den ganzen Tag davon. Na ja, ich wollte ohnehin gleich packen ...da kann ich Dieterchen gleich Bescheid geben. He, war schön die Zeit mit euch!“ Dann ging sie mit schnellen Schritten weg.
Herbert hingegen stand noch ein wenig unschlüssig da. “Tja, ich glaub`, hab wohl auch noch was zu tun! Du ... du läufst doch nicht gleich weg, damit wir uns alle noch anständig verabschieden können?“
„Ehrenwort!“ schniefte Margrit
Als Margrit ihre Sachen ebenfalls zusammen packte, erschrak Paul, der wieder einmal später gekommen war. Ilona hielt sich scheu im Hintergrund, als er mit schnellen Schritten auf Margrit zuging. Eine solch plötzliche Entschlossenheit hätte er der an sich so ruhigen Margrit kaum zugetraut. Zwar wirkte sie noch immer völlig verweint und ihr Haar stand wirr vom Kopfe ab, aber sie erschien ihm doch auf eine sehr eigene Weise ungebrochen und stolz.
„Du bist albern!“ meinte er, gerade als er sie seine Sachen zu ihm rüberwerfen sah. “Und unmodern! He, weißt du denn nicht mehr, was besonders ihr Psychologen zu derartigen Eifersüchteleien sagt? Na-ah? Fällt`s dir endlich ein?“
„Stell dir vor, Paul: das interessiert mich jetzt nicht!“ fauchte sie.
„So, so, das interessiert dich also ni....hallo? Du nimmst ja MEINEN Koffer? Krieg` ich jetzt gar keinen ...
oder was?“
„Kriegst du ... aber nur den Kleineren! Wir sind mehr Leute als du, also tauschen wir, okay?
„Und wenn ich nun Nein sagen würde?“ zischelte er erbost. “He, da siehst du mal, was für eine liebe Seele ich bin!“
„Ja, du bist wie immer großartig, Paul!“ Margrit mühte sich nun, sämtliche Sachen in Pauls Koffer zu quetschen.
Er lief kopfschüttelnd zu ihr rüber und schnappte sich den Kleineren. “Das bin ich auch, du erkennst bloß nicht meine wahren Werte, Margrit!“
„Ha, ha! Wie haben wir gelacht!“ Margrit kniete sich auf den Koffer, um den mit großer Kraftanstrengung zu schließen, doch der sprang immer wieder an der einen Seite auf.
„Schwierig, was?“
Margrit versuchte sich zu verschnaufen, um mehr Kräfte für den Koffer zu haben. Dabei sah sie in der Ferne, wie gerade Annegret das wild losschluchzende Dieterchen beim Arm packte und zu beruhigen suchte. Also hatte sie ihm bereits alles erzählt. Nicht nur ihm - Tobias und Julchen waren ebenfalls in Tränen ausgebrochen und Herbert beugte sich zu ihnen hinunter, um die beiden zu trösten.
„Tja, das ist wieder mal typisch für euch Seelenklempner!“ knurrte Paul indes und nachdem er seine Sachen von überall herbeigeholt hatte und nun ganz Nahe bei Margrit den kleineren Koffer öffnete. “Kaum geht`s um euer Privatleben, dreht ihr durch!“ Paul ließ sein eigenartiges Reifenluftgelächter ertönen, das er immer von sich gab, wenn er nervös und überreizt war und legte seine Sachen ordentlich zusammen. “Aber, auch wenn du es nicht hören willst, sage ich`s dir trotzdem: Bei dir liegen große, in der Kindheit erzeugte Minderwertigkeitskomplexe vor, meine Beste.“
„Ach ja?“ fragte sie ziemlich spitz. Verdammt, sie wusste zwar, dass Paul immer einen besonderen Trick bei diesem Koffer anwandte, war aber zu stolz, um ihn jetzt danach zu fragen.
„Na klar!“ brummte er. “Sex ist doch kein Trennungsgrund, wenn man Charakter hat!“ Er hob den Wäscheberg in seinen Koffer.
„So, so, dann hat man also bei dir Charakter!“ schnaufte sie und versuchte es noch einmal.
Er schaute zu ihr hinüber und sah, wie sie sich quälte. “Darf ich?“
„NEIN!“ fauchte sie, noch röter im Gesicht geworden. Sie knirschte mit den Zähnen, warf sich mit dem ganzen Körper auf den Koffer und da schnappte das alte Ding endlich ein.
Er keuchte verblüfft.
Margrit strich sich das Haar aus dem verschwitzten Gesicht, richtete sich auf, und blieb für einen Moment erschöpft auf dem Koffer hocken. Dabei sah sie, dass die Kinder inzwischen mit empörten, verweinten Gesichtern zu ihrer Oma gelaufen kamen. Herbert und Annegret trotteten ihnen kopfschüttelnd hinterher und dann waren alle sechs ziemlich aufgeregt miteinander im Gespräch, dabei immer wieder in Margrits Richtung weisend. Margrit ergriff nun den schweren Koffer beim Henkel, ging vorn über gebeugt und völlig schief direkt an Paul vorbei.
Der schaute ihr kopfschüttelnd hinterher.
Sie lief zum Fahrrad und versuchte nun, den Koffer mit nur einer Hand hinten auf den Gepäckständer zu bugsieren, um ihn dort festzubinden, die andere hielt das Rad. Doch der Koffer rutschte nur hinunter und das Rad begann dabei zu schlenkern.
Er war ihr unsicheren Schrittes gefolgt. „Darf ich...?“
„NEIN!“ Sie holte tief Atem, hob wieder den Koffer an, und nicht nur der Koffer krachte zu Boden, auch das Rad kippte und fiel auf die Seite. “Lach` jetzt NICHT!“ kreischte Margrit. Das klang so zornig, dass Ilona – obwohl in guter Entfernung – sich instinktiv einige Schritte vor ihr in Sicherheit bringen musste. Margrit schob nun, einige wüste Sätze vor sich hin brabbelnd, das Rad zum nächsten Baum und ließ den Koffer erst einmal liegen, wo der war. “He, und du bist nun ganz und gar nicht skeptisch, dass deine kleine, süße Ilona vielleicht in Wirklichkeit eine Hajepa sein könnte, nein?“ sagte sie recht laut und gar nicht unbeabsichtigt.
Ilona schien diese Bemerkung dennoch nicht gehört zu haben. Sie stand ganz ruhig da, ließ aber Margrit und Paul nicht aus ihren schrägen Augen.
„Jetzt wirst du aber echt kindisch, Margrit!“ Paul lachte verärgert auf.
„Nein, ganz und gar nicht! Ich frage mich das wirklich!“
„Aber Margrit, Ilona ist in Ordnung. Sie ist kein Paj ... na ... Dings!“ Er schleppte ihr den Koffer heran. “Das weißt du so gut wie ich!“ und wuchtete ihn ihr einfach hinten auf das Rad, damit sie ihn festbinden konnte.
„Nein, das weiß ich nicht so gut wie du! Danke, du Dickkopf!“ sagte sie, lächelte nun doch und begann, den Koffer mit einer langen, jedoch arg zerzausten Schnur zu umwickeln. „Findest du nicht, dass sie sich immer irgendwie seltsam benimmt? Puh, das reinste Wirrwarr!“
„Margrit, wir haben Krieg, wer ist da schon normal? Nimm doch das andere Ende von der Schnur, Schatz!“
„Sag` nicht Schatz zu mir!“ knurrte sie, suchte aber dennoch das andere Ende.
Pauls Augen wanderten zu Ilona. Der schien plötzlich kalt zu sein, denn sie hatte trotz der dicken Jacke beide Arme um ihren grazilen Körper geschlungen. Sie spürte wohl, dass sie nun auch von Margrit gemustert wurde und sie senkte deshalb – etwa scheu? - den Blick.
„Du bist nur eifersüchtig, meine kleine Margrit!“ brummte Paul nun. “Gib`s doch endlich zu!“ Und er tätschelte Margrit die Wange.
Bei dieser zärtlichen Berührung kamen Margrit wieder die Tränen. Sie schob seine Hand von sich fort und blinzelte in die Ferne. Muttsch hatte inzwischen ihre Sachen zusammengepackt, das Körbchen aufgestellt und Margrit hörte, wie sie dabei irgendetwas in den Wald rief. Also holte sie Munk. Wenigstens funktionierte die Familie noch. “Das mag schon sein, Paul!“ Und sie begann von neuem den Koffer zu umwickeln. “Aber Ilona benimmt sich irgendwie ... nicht richtig menschlich! Hast du sie zum Beispiel einmal mit uns gemeinsam essen sehen? Isst sie überhaupt irgendetwas?“ Sie hielt inne. „Oh Gott, wo kommt plötzlich dieser verdammte Knoten her?“
Paul hörte Ilona schadenfroh auflachen. Es machte ihr wohl Spaß, dass bei Margrit andauernd etwas schief lief. Er schaute sich - nun doch ein wenig beklommen – abermals nach Ilona um. Diese warf, kaum dass er sie ansah, ihr dichtes, langes Haar zurück in ihren wohlgeformten Nacken und lachte weiter. Ach es war ein sonderbar tiefes und heiseres Lachen. Es klang fast wie das Knurren einer Raubkatze.
Sein Blick kam ein wenig irritiert wieder zu Margrit zurück, die noch immer mit dem Knoten beschäftigt war. “Rache ist süß, was? Nee, Margrit, das ist wirklich sehr herbei gesucht und nun tu mal nicht so, als ob du gerade bei George auf mich gehört hättest.“
„Doch, habe ich ... Mist ... jetzt sind es zwei! So ist die Schnur einfach zu kurz!“
Er verkniff sich ein Grinsen. “Noch mal aufwickeln, Schatz, dann ist alles nicht so straff und du kannst die Knoten besser lockern!“
„Nenn` mich nicht immer Schatz!“ fauchte sie und stampfte dabei mit dem Fuß auf.
„Soll ich dir helfen, Mamms?“ Tobias hatte nun Margrit fast erreicht und er hielt einen Faden in der Hand. “Den kann`ste nehmen, ganz ohne ... äh .... machst du `s?“
„Ich weiß nicht Tobias, ist der nicht ein bisschen sehr dünn?“
„Nöö!“
„Ich hab` auch einen ... einen F...aden!“ Julchen folgte Tobias keuchend, erst danach kam Dieterchen und ganz hinten sah man Muttchen mit leerem Korb, neben ihr Annegret, die natürlich ständig auf sie einredete und hinter den beiden Damen trottete Herbert, gesenkten Hauptes.
„Und Munk ist wieder nicht gekommen, Margrit, und das, obwohl ich ihn bereits zehn Mal laut gerufen habe!“ jammerte Muttchen schon von weitem.
„Und mein Faden, is´ nich´ so dünn wie Tobias Faden!“ schnaufte Julchen, die mit ihren kurzen Beinchen nicht so schnell Margrit erreichen konnte.
„ICH hab`s aber zuerst gesagt, und darum nimmt sie meinen Faden und nich´ deinen Faden , du ... du Tussi!“ brüllte Tobias und stieß mit dem Ellenbogen nach ihr.
„Und ich helf` ihr trotzdem, so!“
„Werde aber eher da sein als du, ätsch!“ Tobias schupste sie jetzt so, dass sie hinfiel.
Julchen weinte. Als sie sich wieder hoch rappelte und sich das Knie rieb, schämte sich Tobias nun doch so ein bisschen. Das half ihm aber nicht, denn schon schnaufte Julchen mit zornesrotem Gesichtchen: “Jetzt sag` ich`s, weil du so gemein bist, so!“
„Nein, Jule, das darfst du nich´ ...!“ wisperte Tobias entsetzt.
Dieterchen war nun auch angekommen und schaute überrascht von einem Kind zum anderen.
„Aber Kinder!“ schimpfte Margrit. “Würdet ihr euch wohl mal woanders streiten. Paul und ich haben hier ein sehr wichtiges Gespräch.“
„Und was wird aus meinem Munk?“ meldete sich Muttchen wieder von weitem. Sie scherte sich nicht darum, dass ihr Annegret noch etwas sehr Wichtiges zu erzählen hatte.
„Der kommt bestimmt noch!“ rief Margrit zurück.
„Ja, das sagt sich so einfach!“ murrte Muttsch.
„Aber der Tobi, deeer ... der hat da was“, fuhr Julchen hartnäckig fort.
„Schscht, Schnatterliese!“ krächzte Tobias und seine Händchen zitterten.
„Julchen, warum spielst du nicht noch ein bisschen mit Dieterchen?“ schlug jetzt Margrit vor.
Dieterchen nickte.
Julchen nicht. “Aber der Tobi, der hat da WIRKLICH was....“
„Plapperliese, Tratschtante, Zimtzicke!“ Leider fiel Tobias nichts mehr ein. Er dachte angestrengt nach, was er Julchen sonst noch alles an den Kopf werfen konnte
Diese Chance nutzte Julchen, „...nämlich was ganz, gaaanz doll Verbotenes!“
Margrit seufzte. Was hatte sie denn neulich großartig verboten? Ihr fiel nichts ein. “Julchen, lässt du mich jetzt trotzdem ...?“
„Und mein Munk?“ fragte Muttchen wieder dazwischen, die nun endlich Margrit erreicht hatte und Annegret hielt für einen Moment inne, denn sie hatte nun doch den Gesprächsfaden verloren, was sehr selten bei ihr vorkam.
„Der kommt wie immer, Muttsch !“
„Aber ... wenn nun nicht?“
„Der Tobias hat aber einen Kääääfer!“ schmetterte Julchen nun endlich heraus.
Tobias sagte diesmal nichts, er bekam nur vor Schreck ganz rote Ohren.
„Ach, das ist ja gar keiner!“ mischte sich Dieterchen ziemlich irritiert ein. “Ich hab` überall geguckt, Käfer sehen immer ganz anders aus und ...“
„Is er do-och ! Hab nämlich sein Bein, gese-heeen!“ trällerte Julchen weiterhin sehr gehässig.
„Tobias“, fauchte jetzt Margrit zu aller Überraschung entrüstet, “wie oft habe ich dir gesagt, dass du keine Käfer mehr fangen sollst! Es ist ihnen doch zu eng in deiner alten Zigarrenschachtel! Du meine Güte, der arme Käfer wird bestimmt bereits erstickt sein!“
„Aber das ... ist doch gar kein Richtiger?“ rief Dieterchen mächtig erstaunt dazwischen. “Es ist ein...“
„Jetzt rede ICH mal!“ kreischte Muttchen nun völlig wütend. “Ha, um Käfer wird sich hier großartig herum gesorgt, aber um meinen Munk, meine arme, alte Katze überhaupt nicht!“
„Ruhe!“ brüllte Margrit jetzt, hielt sich die Ohren zu. und die Schnur wickelte sich deshalb nicht nur auf, sie rutschte auch zu Boden. Gott sei Dank hielt Paul den Koffer noch immer fest. “Ihr macht mich ja alle ganz verrückt!“ Sie war in die Hocke gegangen, um den Schnurhaufen wieder hoch zu heben, aber der hatte sich dabei zum Teil in die Speichen des Rades verwickelt.
Tief enttäuscht und daher alles mögliche in sich hinein blubbernd trollte sich die kleine Schar. Annegret war die einzige, die seltsamerweise diesmal nichts sagte, denn sie dachte nach. Hatte sie doch noch immer nicht das Thema wieder gefunden, bei welchem sie vorhin unterbrochen worden war.
„Halt“, Ilona rannte hinter ihnen her, “wartet, ich komme mit euch !“ Und dann legte die schöne junge Frau mit einem seltsamen Grinsen plötzlich freundschaftlich die Arme um Julchen und Tobias. “Ihr habt also einen Käfer gefangen ?“ fragte sie katzenfreundlich, konnte jedoch nicht verhindern, dass dabei in ihren schrägen Augen ein kleines eigenartiges Feuer aufflackerte. “Ach, bitte, erzählt mir mehr davon, ja ?“
Doch Muttchen hakte sich von der anderen Seite her, plötzlich bei ihr ein. “Das triffst sich aber gut !“ krächzte sie
„Ein so kräftiges und junges Mädel wird wohl nicht nein sagen, einer schwachen, alten Dame zu helfen ihren Kater wieder zu finden, nicht wahr ?“
„Puh, sind die anstrengend !“ ächzte Paul. Seine Oberarmmuskeln zuckten, da er den Koffer noch immer hielt, als er die Meute wieder im Wald verschwinden sah.
„Einschließlich deiner Ilona. Komisch, auf einmal ist sie so kinderlieb !“ Margrit zog das kleine Taschenmesser aus dem Etui, das sie immer in der Innenseite ihrer Weste trug und dass sie stets zur Selbstverteidigung bei sich
hatte.
„Naja, sonst war sie eben nur mit mir beschäftigt !“ Er grinste verlegen. “Sieh` mal, wie lieb sie jetzt deiner Mutter hilft !“
„Das reinste Engelchen !“ Margrit schnitt jetzt die beiden Knoten einfach durch.
„Deine Stimme klingt viel zu spöttisch, Margrit !“.
„Ich war im Gegensatz zu dir immer treu, Paul !“ Sie begann, die einzelnen Teile der Schnur um den Koffer zu wickeln.
„Treu !“ echote er geringschätzig. “Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass wir vielleicht nicht einmal die heutige Nacht erleben könnten ? Und mit dieser Aussicht soll ich auf etwas Wunderbares verzichten, nur weil ich irgendwelche uralten Ideale pflegen will ?“
Margrit atmete tief durch, biss sich für einen kurzen Moment auf die Lippen, um nicht laut loszuschluchzen Sie wusste, dass dieser Satz jetzt reichlich theatralisch klingen würde, aber der musste hinaus: “Das hier ist ganz
einfach. Du liebst mich nicht mehr !“
„Doch... !“ Er versuchte sie zu streicheln, aber sie drehte ihr Gesicht von ihm weg. “Ich liebe dich halt...äh.... nun auf andere Art und Weise als eben Ilona ! He, wir...wir könnten trotzdem auch manchmal Sex miteinander haben. So ist das nicht ! Männer sind nun einmal triebhafter als Frauen. Das ist alles... Himmel! Warum weinst du jetzt erst recht?
„Ha, hat geklappt !“ Margrit machte einen Schritt zurück, betrachtete ihr Werk und wischte mit dem Handrücken die Augen trocken. “Du kannst jetzt loslassen Paul, aber vorsichtig....gaaanz vorsichtig, ja ?“
Wortlos gehorchte er ihr.
„Hallo, Muttsch ?“ Margrit wendete sich um. “Das ging aber schnell ! Da ist ja dein Kater !“
Muttchen kam ihnen strahlend entgegen und schwenkte den Korb, in dem Munk lautstark protestierte.
„Das war Ilona, wirklich ein nettes Ding !“ rief Muttchen bereits von weitem begeistert. “Hat mir sehr geholfen ! Scheint mir überhaupt sehr naturverbunden zu sein, die Kleine. Dauernd löchert sie Tobias, wo der denn seinen Käfer versteckt haben könnte !“ Sie war jetzt schon ganz nahe. “Aber der will partout nicht darüber reden und lieber Murmeln spielen !“ Jetzt stand sie direkt vor Margrit und stellte das Körbchen ab.
„Ach, Muttsch, du kennst doch Tobias ! Der ist artig und hat den Käfer bestimmt längst frei gelassen. “Danke Paul!“ Margrit schob das Rad an ihm vorbei und schritt auch auf den Wald zu. “Tobias, Julchen“, rief sie laut “Kommt, wir gehen !“
„Jetzt schon ?“ hörte man Tobias aus einiger Entfernung. Ach, er hatte schmerzlicher weise gerade seinen “Blaui“ an Dieterchen verloren.
„Noch ne Runde, ja ?“ brüllte er darum verzweifelt zurück.
„Nein !“ Margrit schob ihr Fahrrad entschlossen vorwärts „Kommst du Muttsch ?“
„Ausgesprochen ungern, muss auch ich zugeben !“ murrte die. “Hast du dir denn wirklich alles überlegt ?“
„Ja, hab` ich!“
„Hat sie nicht ! He, warte nur einen Augenblick !“ keuchte Paul. “Vielleicht kommen wir noch zu einem anderen Schluss, einen, der für uns alle erträglicher ist.“
Wieder hielt sie an sah ihm aber diesmal fest in die Augen. “Wenn du wirklich haben willst, dass wir noch zusammenbleiben, dann schlage ich vor, dich sofort von diesem Mädchen zu trennen!“
„Das ist wirklich eine große, eine sehr schwere Entscheidung, die du mir abverlangst, Margrit“, stöhnte er verbittert und sah dabei zu Boden.
„Ich glaube, dass die Familie Hegenscheidt sich nach wie vor rührend um dieses Mädchen kümmern wird“, erklärte sie und setzte knapp hinzu. “Sie wollen inzwischen ohnehin ganz woanders bleiben. “Coburg konnten wir ja bereits von hier aus sehen, also sind wir dieser Stadt ziemlich nahe. Wir könnten uns daher schon jetzt von ihnen trennen.“
Margrit sah, dass Paul immer noch unentschlossen schwieg.
„Also, wie lautet deine Entscheidung ?“ fragte sie vorsichtig.
Er sah auf und Margrit erkannte, dass er plötzlich leichenblass geworden war. “Margrit“, stammelte er, “es fliehen so viele Menschen und dieses Mädchen sehe ich gewiss nicht mehr wieder...“
„Eben, eben !“ erklärte sie recht bockig.
„Du... du musst wissen, dass sie sehr einem Mädchen ähnelt, das ich damals vor dir...“
„Ja, ja, ich weiß, das lustige Uhrenmädchen...“
„Richtig ! Ich habe diese Frau sehr geliebt, aber...“
„Ich erinnere mich. Sie wollte schließlich einen anderen !“
„Bist du mir sehr böse, wenn?“
„Nein, Paul, bin ich nicht.“ Zu ärgerlich, immer hatte sie Schwierigkeiten mit den dummen Tränen.
„Ich... ich will einen guten Abschluss !“ krächzte er, ganz heiser geworden. “Du sollst mich doch nicht allzu schlecht in Erinnerung haben. Es sind auch die Kinder, weißt du, und deine tuddelige Mutter, die mich schon immer genervt haben, und deine verrückte Art, wie du mit denen umgehst.“ Er senkte wieder den Kopf und sah betroffen auf seine Füße, die in diesen viel zu kleinen, zerbeulten Stiefeln steckten, ohne die sich Margrit ihren Paul schon gar nicht mehr vorstellen konnte.
„Hier“, sagte er plötzlich, schob den Ärmel seines Hemdes zurück und öffnete das stumpfe Lederband der äußerst eleganten Uhr, die er seit ein paar Tagen wieder am Handgelenk trug. “Das ist für dich. Mein Dank... für...für all... die Jahre... und...Abschiedsgeschenk !“ Er fügte schnell hinzu. “Du weißt, diese Uhr ist gleichzeitig ein Kompass und kann daher Leben retten ! Vergiss das nie !“
Margrit öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber er winkte energisch ab.
“Ich ahne, was du jetzt sagen willst : Die vielen Jahre der Liebe lassen sich kaum bezahlen. Auch nicht mit solch einer kostbaren Uhr. Trotzdem ....BITTE, nimm diese Uhr, damit ich heute nacht etwas beruhigter schlafen kann.“
Er legte ihr das Armband um und seine Finger zitterten dabei. Anschließend betrachtete er die Uhr zärtlich, nahm auch ihre andere Hand, drückte lange ihre beiden Hände und beide sahen sich fest in die Augen.
“Ja, Paul,“ beantwortete sie schließlich seine stumme Frage, nachdem sie wieder einigermaßen sprechen konnte. Auch wenn dich Muttsch und die Kinder genervt haben, so werden nicht nur ich sondern auch sie dich als guten Freund für immer in Erinnerung behalten.“
Er wollte ihr einen Kuss auf den Mund geben, doch sie wendete sich ab. Darum beugte er sich rasch zu Tobias hinunter, der schon wieder neben dem Rad stand und alles mitbekommen hatte.
Paul streckte ihm die Hand entgegen. “Tschüß, Tobias ! Mach`s gut Kumpel !“
Er war völlig erstaunt, weil Tobias zögerte und dann sah er, dass eine dicke Träne an Tobias Nasenrücken entlang lief und schon folgte die nächste. Tobias war das peinlich und er wendete darauf hin Paul den Rücken zu. “He, is` echt scheiße, Mann, dass du gehen musst !“ nuschelte der Kleine jetzt undeutlich.
Paul wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, da griffen auch schon Muttchens dürre Fingerchen nach seiner großen Pranke.
“Mach`s gut, Paul !“ schniefte sie. “Wirst uns sehr fehlen ! Warst ein feiner Kerl, wirklich ! Der beste, den man sich denken kann ! Aber“, sie sah plötzlich skeptisch zu ihm hinauf, “du solltest dir angewöhnen, zu dieser Jahreszeit immer einen Schal zu tragen. Gerade heute ist es sehr kalt !“
Obwohl er noch immer einen Klos im Halse hatte, musste er grinsen. “Danke, dass du mich auf diesen ausgesprochen wichtigen Punkt hingewiesen hast !“ sagte er möglichst brav und seine Finger fuhren dabei durch die Gitterstäbe des Tragekorbs, um Munk zu kraulen. Schon hatte er einen tiefen Kratzer im Finger.
„Donnerwetter, Munk, du reagierst ja heute ausgesprochen schnell !“ Paul leckte über die Wunde und seine kleinen schwarzen Augen suchte dabei nach Julchen. Endlich entdeckte er sie hinter einem großen Busch versteckt.
„Mensch, Julchen, komm doch da hervor !“ flüsterte er, während er sie umkreiste.
„Nein !“ wisperte sie zurück . “Denn dann gehst du ja !“
Und so lief er ziemlich ungelenk einfach von ihnen allen fort und auf Ilona zu, die in einiger Entfernung wieder auf ihn wartete.
Margrit warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, das sich scheu aber sichtlich erleichtert bei ihm einhakte.
„Macht`s gut ihr beiden !“ krächzte sie. “Und seht zu, dass euch nicht die Hajeps erwischen !“
Dann kam der Abschied von dem jungen Elternpaar und auch die Kinder umarmten den kleinen Dieter und sie schluchzten dabei gemeinschaftlich um die Wette, ahnten sie doch, auch wenn sie noch so klein waren, wie ernst zu nehmen jeder Abschied in diesen schrecklichen Zeiten war. Denn niemand von ihnen wusste, ob er den nächsten Tag noch erlebte, ob er den anderen vielleicht schon Morgen als grausig entstellte Leiche oder einfach nie wiedersah. So drückte sich das kleine Häuflein Menschen ängstlich und traurig aneinander, bis es sich, von gegenseitigen mutmachenden Sprüchen unterstützt und unter schier endlos langem Winken auf beiden Seiten, auflöste.
Familie Hegenscheit, Paul, der plötzlich wie ein kleines Kind in sich hineinweinte, und Ilona, die nun, wenn auch glücklich, ziemlich schuldbewusst von Paul zu Margrit sah, bogen den Feldweg zur Landstraße Richtung Coburg ein.
Margrit hingegen rührte sich nicht, blieb dort, wo sie gerade war, wie angewurzelt stehen, blickte Paul hinterher, hätte ihn am liebsten zurückgerufen, aber biss sich stattdessen so heftig auf die Lippen, dass sie anfingen zu bluten.
Auch als sich bereits Tobias und Julchen um die Bäume jagten, hatte Margrit diesen Platz noch immer nicht verlassen, schien zu Stein geworden zusein, den Blick starr in die Ferne gerichtet.
„Nun komm schon“, sagte Muttchen schließlich. ” Das ist ja gar nicht mehr mit anzusehen !“
Dennoch regte sich Margrit nicht. Ihre Augen waren zwar weit geöffnet, aber innerlich schien sie irgendwie ganz woanders zu sein.
Muttchen schluckte entsetzt und krähte: “Sie sind schon SOOO lange weg. Du kannst sie mit deinem Warten wohl kaum zurückholen !“
Wieder kam keine Reaktion.
„Mein Gott, so geht das nun schon wohl seit einer halben Stunde“, schimpfte sie. ” Was ist bloß mit dir los...hm ?“
Nicht eine Wimper zuckte.
„He, wir wollen endlich weiter“, brüllte Muttchen verzweifelt, “ehe es dunkel wird müssen wir noch einen Bauernhof finden und...die...DIE KINDER frieren ! Hörst du? Sie FRIIIIEREN ! ”
Aber immer noch kam keine Antwort, herrschte nur reglose Stille !
„Zum Donnerwetter“, kreischte Muttchen entnervt, “schreie, tobe meinethalben, wie jeder andere halbwegs normale Mensch. Aber werde ENDLICH wieder lebendig und lass` uns nicht in Stich ! Hört du ? Lass` uns nicht in Stich ! ”
Doch es geschah nichts.
„Himmel, dann hasse ihn doch, deinen Paul, verwünsche vor allem diese junge Hexe ! Aber komm` endlich zu dir !“ schluchzte Muttchen.
Da sah sie, dass Margrits Mundwinkel plötzlich zuckten. “Das tue ich ja bereits Muttsch. Das ist ja das
Schlimme ! Ich schwanke hin und her zwischen Liebe und Hass ! Wie konnte er mir das antun ? Zwanzig Jahre haben wir in größter Treue zueinander gehalten und plötzlich – AUS ! Ich begreife das nicht ! So schön war sie doch gar nicht !“
„Das kannst DU nicht beurteilen. Du bist kein Mann, Margrit !“
„Ich habe ihn wohl nie wirklich geliebt. Ich meine...so richtig selbstlos ! Denn hätte ich je echte Liebe für ihn empfunden, müsste ich ihm sein Glück doch gönnen ! Müsste ich dazu fähig sein können, mit ihm weiter zu ziehen und Ilonas Lachen dabei zu ertragen.“
„Da hast du so unrecht nicht ! Vielleicht sind wir Menschen keine guten Lebewesen ! Denn alles was wir lieben, wollen wir meist ganz für uns haben, möglichst nicht mit anderen teilen !“
„Aber so sind wir programmiert, Muttsch ! Ist das nicht grässlich ? Nun bringe ich vielleicht dich und die Kinder in große Gefahr, nur weil ich so egoistisch bin !“
„DAS bist du nicht !“ fauchte Muttchen. “Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast und...“, Sie trat ganz nahe an ihre Tochter heran, legte einen Arm um sie, die so viel größer war als sie selbst. “Ich weiß auch, wie sehr Liebe weh tun kann. Ich spreche da ganz aus eigener Erfahrung ! Aber dennoch solltest du froh sein, dass du diese Gabe hast....” Muttchen schluckte den Klos herunter, der ihr im Halse gesessen hatte, “... wissen wir denn, ob unsere außerirdischen Eroberer, die tagtäglich dermaßen grausam mit uns Menschen umgehen, überhaupt nur ein kleines bisschen zu lieben fähig sind ?”
Diese Worte – ausgerechnet aus Muttchens Mund - überraschten Margrit. Sie krauste die Stirn, blinzelte.
„Verdammt, du hast ja SOOO recht !“Sie machte sich ganz klein, legte ihren Kopf auf Muttchens Schulter und ihr Körper begann zu zucken und zu beben, während sie sich laut und herzzerreißend endlich ausweinte.

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