Das Licht der Hajeps
von doska

 

Kapitel 7

Kapitel 7

Irgendwie war die kleine Familie ein bisschen in Sorge, doch noch für ihre Frechheit von den Hajeps verfolgt und bestraft zu werden. Obwohl Margrit eigentlich der Meinung war, dass sie ja für dieses große und mächtige außerirdische Volk im Grunde ziemlich bedeutungslos wären, zogen sie meistenteils des Nachts weiter und schliefen in den Wäldern bei Tage. Mit der Zeit jedoch wurden Margrit und Muttsch mutiger und wagten sich auch in die Helligkeit hinaus. Als dann immer noch nichts besonderes mit ihnen geschah, bewegten sie sich vorwärts wie eh und je.
Robert hatte sich ihnen gegenüber fair gezeigt und sie rechtzeitig vorgewarnt. Auch die Menschen der nächsten Stadt und Umgebung waren an irgendeiner rätselhaften Ursache ähnlich elend zugrunde gegangen, wie vordem in Coburg. Krähen kreisten über Bamberg, während die Familie aus guter Entfernung beklommen vorbei schlich, stießen heisere Schreie aus. Es roch süß und faulig nach vermoderndem Fleisch bis zu ihnen hin und es raschelte dann und wann im Laub und Gestrüpp, wohl weil Ratten und anderes fleischfressendes Getier Richtung Stadt unterwegs waren. Die anliegenden Gehöfte mied Margrit ebenfalls ganz zu recht, denn auch von dort waberten ihnen seltsame Düfte schon von weitem unangenehm entgegen.
Freilich entwickelte die Familie dabei durchaus gemischte Gefühle gegenüber Robert und seinen Verwandten, denn man fragte sich, ob die nicht sogar für die Todesursache all jener Leute mehr oder weniger aktiv gesorgt hatten. Trotzdem tauchten immer wieder Momente auf und zwar immer dann, wenn die Kinder miteinander beschäftigt oder gerade außer Hörweite waren, in denen Margrit und Muttchen unbedingt darüber reden mussten, was wohl Rekomp Nireneska inzwischen so alles mit Robert angestellt haben mochte, weil sie doch dessen Kontaktgerät zerstört hatten. Doch diese Gewissensbisse verdrängten sie schnell, da inzwischen wieder der Magen knurrte, denn es war schwer, der Versuchung zu widerstehen, nicht irgendeine Fensterscheibe der stillen Bauernhäuser einfach zu zerschlagen, um in die Küche zu stürmen und die Speisekammer zu leeren, da sie trotz der Erklärung Roberts fürchteten, dass die Hajeps auch giftige Gasen eingesetzt hatten.
Auch als sie endlich das von Robert empfohlene Dörfchen erreichten, mussten sie erst einmal miteinander beratschlagen. Richtig prächtig schien es dort den Leuten zu gehen. Sie hatten noch völlig funktionstüchtige Traktoren. Selbst die Kühe auf den Weiden waren außerordentlich gut im Stande. Es gab sogar Pferde. Einige Jeeps und sogar ein Traktor standen auf dem Hofe. Die Häuser und Stallungen schienen gut repariert. Es gab einen kleinen Laden und der Rauch aus den Schornsteinen zeigte an, dass wohl niemand zu frieren brauchte.
Vielleicht hätte unsere Familie sogar ihr Versteck verlassen, denn der Hunger war groß und womöglich brauchte man ja Hilfe bei der Ernte, wenn nicht Tobias plötzlich ein herannahendes zeppelinförmiges Flugzeug hinten am Horizont entdeckt hätte. Also warteten die fünf (Munk dabei mitgezählt) erst einmal ab.
Diese Vorsicht sollte sich keinesfalls als Fehler erweisen, denn auf einer Wiese, nur wenige Meter vom Dörfchen und nicht weit vom Versteck unserer Familie entfernt, versammelten sich einige Anwohner mit bunten Fähnchen in den Händen, wohl um das Flugschiff zu begrüssen. Sie steckten schließlich unter lauten Gesängen die Wimpel in den Boden und jemand rollte sogar einen schönen roten Teppich aus. Wenig später fuhr das fliegende U-Boot etwa acht oder sogar zehn – das war vom Versteck aus nicht so gut erkennbar – recht stabile Metallbeine aus und landete so elegant wie etwa eine Liebelle mitten auf der Wiese. Der zarte, halb durchsichtige Flossensaum waberte noch ein bisschen um das in graublauen und silbernen Tönungen schimmernde Ding herum, doch dann erklang ein Gugelgeräusch von allen Seiten und die Flossen wurden plötzlich eingesaugt. Eine der warzenähnlichen Luken öffnete sich direkt vor dem Teppich, über den wenig später der Außerirdische mit seinen üppig verzierten Stiefeln und hoch erhobenen Hauptes stolzierte, der gerade über die kurze, biegsame, ebenfalls leicht transparente Rampe des Kuarins zu den Menschen hinabgestiegen war.
Die Anwohner des Dorfes hatten sich der Länge nach mehrmals vor ihm auf den Boden geworfen und dabei laut gerufen : „Fengi pa itun, moa abuto Karimba ! Tjudin gra unka Lotek!” So lange bis der Hajep, durch ein leichtes, jedoch ungeduldiges Tapfen mit dem Fuße ihnen geboten hatte aufzustehen.
Margrit pochte das Herz bis zum Halse, nicht nur, weil sie sah, wie der eine Hajep die zahlenmäßig weit überlegenen etwa zwanzig Dörfler nun in hartem Ton herumkommandierte, sondern auch, weil diese ihm, ohne nur eine Sekunde zu zögern, gehorchten. Sie hetzten für ihn in den Laderaum des sonderbaren Schiffes und schleppten keuchend die schwersten Kisten ins Freie. Als er abflog, lagen alle der Reihe nach flach am Boden, die Gesichter demütigst im Grase, Laub und Dreck verborgen.
Margrit schämte sich plötzlich ihrer Spezies und ärgerte sich zugleich über Robert. War der also doch nicht so selbstlos gewesen wie zunächst gedacht. Denn wäre nicht dieses Kuarin so vorzeitig gekommen, hätte er wohl Erfolg gehabt und die vermutlich bereits als Geschenk angekündigten Menschen hätte Nireneska in seinem Raumschiff einfach mitgenommen. Ein Gänseschauer lief Margrit deshalb über den Rücken. Sie setzte sich sofort mit ihrer kleinen Familie in Bewegung, um sich schnellstens so weit wie möglich auch von Burgebrach zu entfernen.
Sie wären wohl dem Hungertode nahe gewesen, hätten sie nicht schließlich doch noch ein zwar einsames aber funktionierendes Gehöft entdeckt, das sogar dringend Hilfskräfte für die reichliche Apfelernte brauchte.
Muttchen konnte leider nicht für das Essen und das Dach über dem Kopf(sie schliefen in der Scheune) arbeiten, denn die Kälte und die feuchte Luft während der vielen Übernachtungen im Freien hatte an ihren Knochen genagt, vor allem quälte sie ein schwerer Husten. Darum widmete sie sich voll und ganz den Kindern. Besonders abends. denn Julchen und Tobias halfen Margrit, indem sie die Äpfel in Horden verstauten, erzählte sie ihnen Geschichten, sang mit ihnen Lieder oder beschäftigte sie mit allerlei Kinderspiel.
Eines Tages, als es Muttchen besser ging, brachte sie nach einem Ausflug ein altes, sehr dickes, zerfleddertes Buch mit, welches sie während des Markttages von einem Schwarzhändler gegen das einzige inzwischen wieder frisch gewaschene Taschentuch und zwei Paar gut gestopfter Socken getauscht hatte.
Die Kinder waren ganz begeistert davon, hatten sie doch schon lange kein richtiges Buch mehr in den Händen halten dürfen. Leider war es kein Märchenbuch, sondern eines, das von Waffen und Granaten, Raketen und Atombomben erzählte, von Kampfflugzeugen und den guten, alten Maschinengewehren, von chemischen Waffen, Biogas und so weiter. Es war eben ein zwar schön buntes aber militärisches Bildungsbuch. Da unsere Kleinen jedoch erst am Anfang ihrer Lese- und Schreibkunst standen(das alles brachte ihnen Margrit bei, denn das Schulsystem funktionierte nicht mehr), war es ihnen zu mühselig, die Namen der verschiedenen Mordinstrumente zu entziffern. Sie betrachteten lieber die Bildchen, bestaunten zum Beispiel die herrlichen Farben des Atompilzes, der dort abgebildet war, und sahen sich interessiert die rote Farbe der Blutspuren an, die ein Mensch im Schnee hinterlassen konnte, wenn er zum Beispiel angeschossen worden war und bemerkten dabei, dass sie sich so etwas schon mal in echt angeschaut hätten. Die Kinder versuchten, nicht das Grauen zu sehen, sondern eher ihr starkes Bedürfnis nach leuchtenden Farben zu stillen(die schlimmsten Seiten hatte Muttchen ohnehin vorher schon herausgerissen). Da Papier sehr knapp war und deshalb eine Kostbarkeit darstellte, war Muttchen froh, überhaupt dergleichen für die Kinder gefunden zu haben. Obwohl Tobias hin und wieder eine Frage in Bezug des grundlegenden Themas dieses Buches stellte, wurde es doch eigentlich zweckentfremdet benutzt. Man faltete nämlich aus dessen Seiten herrliche Schiffchen, die wegen der Hochglanzseiten besonders lange und ausdauernd im Wasser manch einer stattlichen Pfütze schwammen. Auch entstanden die schönsten Flieger und Segler aus Muttchens “Zauberhand” und sogar wohlgestaltete Schweinchen, Kühe, Hühner und ein prächtiger Hahn, der wie alle anderen bald ein ganzes Gehöft aus Papier bevölkerte, das in einer ruhigen Ecke der Scheune auf dem Holzboden seinen Platz fand.
Ja, Julchen und Tobias lobten und priesen jeden Tag aufs neue Muttchens grandiosen Einfall, dieses große, dicke Kriegsbuch erhandelt zu haben( es hatte sogar einen Ledereinband). Sie sogen schnüffelnd an dessen Seiten den Papierduft ein, rochen am Leder und malten mit einem Bleistift, den Muttchen immer wieder mit einem Obstmesser zurechtspitzen musste, so gut es ging abwechselnd die schönsten Bilder auf die schmalen weißen Ränder der Blätter, dort, wo ansonsten überwiegend Text war. Einen Radiergummi besaßen sie nicht, jedoch einen Schießgummi mit dem man sehr gut radieren konnte, wenn man sich nur geschickt genug anstellte.
Und dann fand sich in dieser Zeit auch noch eine andere wunderbare Beschäftigung, die wieder mal Omas Idee gewesen war. Es wurden Apfelkerne gesammelt, diese fein säuberlich geputzt, mit einer Nadel durchstochen, und auf einen Zwirnsfaden gezogen. Selbstverständlich waren diese Kerne für Julchen "Bärenkrallen", die sie sich im Kampf verdient hatte, und Muttchen musste, nachdem sie gemeinschaftlich mit den Kleinen mühsam zwei Ketten fertiggestellt hatte, diese mit feierlichen, selbsterdachten Indianersprüchen den Kindern umhängen. Seit diesem Tage liefen sie stolz und aufrecht durch die Gegend.
Leider sollte auch jene frohe, unbeschwerte Zeit bald zu Ende sein. Der Bauer brauchte die kleine Familie nicht mehr und so zog man weiter, mit einer Träne im Auge, die Papierfarm, -Schiffchen, -Segler und -Heupferdchen größtenteils hinter sich lassend. Nur eines dieser hübsch gefalteten Pferde quetschte Julchen in ihren ohnehin überfüllten Rucksack: „Liese“ eine stattliche Papierpferddame mit liebvoll aufgemaltem schwarzen Lockenponny und dicht bewimperten großen Augen, die noch ein kleines Heupferdchen mit hellerem Haar in ihrem wie eine Kuhle gefalteten Rücken trug, nämlich den „Freddi“, ihr Kind.
Es zeigte sich jedoch später, dass Freddies stets eingedetschte Stirn und sein durchgebogener Rücken vom Nagellackfläschchen herrührten, das Julchen damals gemeinschaftlich mit Tobias von Robert gemaust hatte und das nun auch immer oben im Rucksack lag, nämlich deswegen, weil sie es griffbereit haben wollte, für den Fall, dass sie sich plötzlich schick zu machen gedachte. Leider, das hatte Julchen schon inzwischen feststellen müssen, ging das Fläschchen nicht aufzuschrauben. Auch Tobias, der inzwischen ebenfalls seine Künste daran ausprobiert hatte, war zwar ein Fachmann für solche Dinge, aber das war ihm nun doch nicht gelungen. Julchen verzweifelte dennoch nicht, weil sie glaubte, dass sie es eines Tages schaffen würden.
„Das würd schon noch Tobi !“ hatte sie ihm immer wieder im Brustton der Überzeugung versichert. „Daas würd bestümmt !“
Auch Tobias konnte sich nicht von seinem Lieblingspapiersegler trennen, der selbstverständlich gleichsam einen Namen hatte, wie der „Flutschi“.
„Feuerstern“, das hörte sich herrlich wild und unzerstörbar an. Feuerstern lag immer dicht neben Flutschi im Rucksack, weil Tobias fand, dass sich die beiden, da sie fliegen konnten, eigentlich ähnlich wären und daher auch recht gut verstehen müssten
Munk hatte natürlich auch ein kleines Überbleibsel aus Muttchens Papierwelt in seinem Tragekörbchen, nämlich gleich zwei aus einer festen Seite zusammen gequetschte Bälle, die er allerdings schon nach einer viertel Stunde völlig zerpflückt hatte.
Leider passierte im Laufe der nächsten Tage, während die tapfere Familie wieder weiter Richtung Würzburg zog, etwas sehr Dramatisches ! Tobias Apfelkern- pardon!- Bärenkrallenkette riss ! Und obwohl Muttchen dem wild schluchzenden Tobias diese wieder zusammenknotete, war sie doch zu kurz geworden und reichte nur noch zu einem Bärenkrallenarmband. Kinder können Kleinigkeiten viel schwerer nehmen als Erwachsene. Ein Streit zum Beispiel kann bei ihnen intensivere Beachtung finden als ein großer Krieg, selbst wenn der dicht um sie herum tobt. Vielleicht hatten sich Julchen und Tobias aber auch im Laufe der Jahre an die ständige Möglichkeit zu sterben gewöhnt. Sie hatten zwar Albträume, aber am Tage versuchten sie alles zu verdrängen und so nahm Tobias den Verlust seiner Kette dermaßen schwer, dass er sich sogar veranlasst sah, während einer Rast zu Julchen hinüber zu fauchen:
“So, weil du mir vorhin meine Bärenkrallenkette kaputt gemacht hast, helfe ich dir auch nich mehr deine Kack ...äh...
Sch... na, deine dämliche Nagellackflasche zu öffnen. Siehste ! Das hast du nun davon !“
Da spritzten plötzlich auch bei Julchen die Tränen. „Du, du bist ja so ... so ... oooh gemein Tobias !“ heulte sie los, doch dann nahm sie sich plötzlich zusammen, holte tief Atem und funkelte Tobias mit ihren großen Augen an. „Du ... du hilfst mir doch, mein Nagelklackfläschchen zu öffnen !“ knurrte sie. „Du musst es tun ! Sonst...“
„Was sonst ?“ Er runzelte düster die Stirn, saugte aber die Unterlippe ein.
„Na, sonst ... sonst hab` ich doch keine hübschen Finger !“ Sie betrachtete traurig jeden einzelnen ihrer kurzen Fingerchen. “Hörst du, Tobi ?“
„Nee, hör` ich nich, so !“ Er schlug die Arme übereinander und wendete ihr den Rücken zu.
„Du Tobi, duhuuuu ?“
„Nein !“
„Du ... aber, duhuuu ?“
Er blickte nun doch so ein bisschen zu ihr über die Schulter und knurrte: „Hm ?“
„Du ... du kannst ja meine Bärenkrallenkette haben, ja ?“
Da kam er direkt in`s Grübeln.
„Machst du mir dann mein Nagelklackfläschchen ?“
„Ich höre hier immer das Wort Nagellackfläschchen ?“ vernahmen sie plötzlich eine höchst vertraute Stimme hinter sich.
Beide Kinder fuhren ertappt zusammen, als Margrit jedem von ihnen eine ihrer schmalen Hände auf die Schultern legte.
„Ja - ah ?“ ächzte Tobias und Julchen bekam rote Ohren.
„Nagellack ist eine Seltenheit heutzutage !“ kam auch Muttchen hinzu. „Daher tragen ihn nur wenige Frauen. Er ist in etwa so kostbar wie Schnaps oder Parfüm, Seife oder Zahnpasta !“
„Habt ihr denn so etwas...“, Margrit keuchte, ehe sie weiterreden konnte, denn sie schämte sich plötzlich wegen ihrer Kinder rein zu Tode, “....von irgend jemandem ge...“, sie musste sich die trocken gewordenen Lippen belecken, „...gestohlen ?“ war endlich das ganze Wort aus ihr heraus.
Beide Kinder wurden blass im Gesicht und nickten beklommen.
„Was habe ich euch immer gesagt ?“ brüllte Margrit nun völlig verzweifelt.
„Wir sollen nich` mehr klauen, nee !“ kam es wisperleise beiderseits zur Antwort.
Margrit seufzte und streckte die Hand aus. “Her mit dem Nagellack, los, los !“
Julchen ließ ihren Rucksack von der Schulter rutschen und vor ihre Füße fallen. Schnell hatte sie das Fläschchen gefunden, denn es lag ja wie gesagt ganz oben.
Margrit betrachtete es stirnrunzelnd, aber auch irgendwie fasziniert.
„Du ..du gibst es...“, Julchen schluckte, „....dem Robert zurück, stümms ?“
„Aha!„ Margrit hielt jetzt die Flasche ins Sonnenlicht. “Ausgerechnet den armen Robert musstet ihr auch noch beklauen!“
„D...daah müssen wir aber ganz ... gaaanz weit zurücklaufen, stümms ?“ fragte Julchen abermals.
„Stümmt“, erklärte Tobias einfach anstelle von Margrit düster.
„Komisch!“ murmelte Margrit nachdenklich. „Zwar habe ich schon seit Jahren keinen richtigen Nagellack mehr in den eigenen Händen gehalten, aber... “
„Der ist doch in Ordnung !“ meldete sich Muttchen sehr interessiert. “Ist nur ein wenig alt. Bedenke, welche Fabrik stellt heute noch Nagellack her !“
„Aber...“, Margrit hielt ihre Brille schief, wie immer, damit sie besser sehen konnte, „...wo ist denn hier der ... der Schraubverschluss ? “
Muttchen lachte. “Na sicher oben ! Der Lack hat übrigens eine sehr schöne orangene Farbe ! Na, wenn ich jünger wäre...“ Sie zwinkerte Margrit aufmunternd zu.
„Ach“, piepste Julchen zu ihr hoch, „und vorhin war er noch gelb !“
„Unsinn !“ brummte Margrit. „Du Muttsch, wo aber ist hier oben ?“ Margrit drehte und wendete die Flasche nach allen Seiten.
Muttchen kicherte abermals. „Ach Margrit, das kann doch wohl so schwierig nicht sein ! Du meine Güte, ist das aber eine herrliche Farbe !“ schnurrte sie schon wieder. „Dieses wunderbare lila würde dir bestimmt gut stehen !“
Margrit nickte und stutzte dann. “Nein Muttsch, das ist wohl eher ein silber ...ein herrliches gold-silber!“
„Na, das ist doch ganz egal, Margrit ! Also bei solch einem Nagellack würde ich nicht lange herumüberlegen und...“
„Aber...“
„Was aber ?“ murrte Muttchen.
„Es gibt gar keinen Pinsel ... keinen Pinsel zum Auftragen, verstehst du, Muttsch ?“
„Na und ? Herr du meine Güte, haben die halt damals vergessen ! Sowas soll vorkommen!“
„Hör mal, Muttsch...“, Margrit setzte sich jetzt ihre Brille wieder richtig auf, „...was wollte Robert eigentlich mit einem Nagellack - er ist übrigens grün - ohne Pinsel ? “
„Hhhrrrgh ...du kannst einen so richtig fertig machen, weißt du ? Der wollte natürlich damit gar nichts, dann schon eher Dagmar, Mensch !“
„Hä, hä, wie haben wir gelacht ! Aber kommt dir das nicht auch irgendwie ...der Nagellack ist übrigens rosa... komisch vor ?“
„Herr du meine Güte, Margrit, immer machst du alles so schwierig! Genieße doch wenigstens mal ein bisschen dieses armselige und gewiss verdammt kurze Leben und freue dich endlich, dass du einen so wunderbar weißen Nagellack gefunden hast...“
„Bist du dir sicher, dass das ein Weiß ist ?“ Margrit kniff die Augen zu skeptischen kleinen Schlitzen zusammen.
„Ich habe ihn aber gefunden !“ fauchte Tobias dazwischen.
„Stümmt !“ Julchen nickte so heftig, das ihr die struppigen Locken nur so um den Kopf herumwirbelten. “Das war der Tobi !“
„Ach, das ist doch jetzt ganz Wurst, Kinder !“ knurrte Muttchen. „Margrit bedenke, vielleicht begegnet dir doch noch eines Tages Paul und dann willst du ja vielleicht ... na ...“, sie zwinkerte ihr schon wieder verheißungsvoll zu. „....hübsche Finger haben“, fügte sie jetzt etwas sachlicher hinzu.
„Ich auch, ich auch !“ bettelte Julchen.
„Ruhe, du bist noch viel zu klein für solche Sachen !“ murrte Muttchen.
„Bin ich nich, nö !“ schimpfte Julchen trotzig.
Muttchen seufzte. „Margrit, jetzt steh` nicht dauernd da und mache so ein Gesicht.“
„Komisch, jetzt ist der Nagellack völlig klar“, brabbelte Margrit nervös, „nur eine dünne Silberpelle schwimmt oben, und wenn man ihn nun so herum hält?“
„He, wollen wir noch vor dem Dunkelwerden in Würzburg sein oder erst übermorgen ?“
„Sind die ganz schwarzen kleinen Punkte da hinten schon Würzburg ?“ fragte jetzt Tobias.
„Sind sie“, erklärte Muttsch ganz einfach.
„Ich seh` sie auch, ich seh` sie au-auuuch ! Und da ... und da und da-ah !“ jubelte Julchen und wies mit dem Finger darauf.
„Also los, pack das Zeug endlich ein, Margrit, und meinst du nicht auch, dass sich später ein Pinsel zum Auftragen finden wird ?“ brummte Muttsch.
„Nein“, Margrit schloss die Augen und atmete tapfer durch, „das kriegt der Robert zurück !“
„Das ist doch wohl nicht dein Ernst ?“ schnaufte Muttchen und stemmte die Fäuste in die Huften. „Der ... der Mann wollte uns verschenken !“
Bei diesem Gedanken riss Margrit die Augen weit auf. “Da hast du auch wieder Recht !“ keuchte sie.
Julchen machte ein trauriges Gesicht, als sie sah, wie das Fläschchen in der Innenseite von Margrits Weste verschwand.
Während sie mit den Fahrrädern weiter Richtung Stadt fuhren, begann sich Margrit doch zu fragen: Passt eigentlich ein brauner, leicht silbrig glänzender Nagellack zu zerflederten Turnschuhen und einer Hängehose ?
Leider stellte sich heraus, dass Muttchen eine Schafherde, die ganz hinten am Horizont das kärgliche Gras abgefressen hatte, irrtümlicherweise für Würzburg gehalten hatte. Der Weg war also viel länger als gedacht und so mussten sie, als es dunkel wurde, erst einmal ihre Fahrräder an einen Baum in der Nähe eines schmalen Sandweges anlehnen und in einem Steckrübenfeld, ebenso wie die sechs bis acht verwilderten Hühner, die hier lebten, nächtigen. Unsere kleine Familie nahm dabei die Koffer und Rucksäcke als Kopfstütze zum Schlafen, legte zunächst eine Plastikfolie und dann mehrere Decken darüber und dann deckte man sich noch mit Mänteln und Jacken zu, gut verborgen hinter zwei, drei großen Holunderbüschen.

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Kleine Kinder sind meistens früher auf den Beinen als Erwachsene, eigentlich auch Katzen. Doch Munk musste sich erst einmal von einer Auseinandersetzung mit einem großen, getigerten Kater gut verborgen unter Muttchens Decke erholen. Zwar waren Julchen und Tobias leise, als sie bereits im Morgengrauen Hühner fangen quer durchs Rübenfeld hindurch spielten, doch dann hatte Julchen plötzlich etwas im Gebüsch entdeckt, auf das sie Tobias unbedingt aufmerksam machen musste
„Du Tobi, duhuuu ? » quiekte sie ziemlich aufgeregt mit ihrem hellen Stimmchen.
„Ja ?“ fragte er zurück und wendete sich um, denn er war in die entgegengesetzte Richtung gelaufen.
„Du aber, duhuuu ?“ rief sie noch aufgeregter.
Er seufzte. „Ja ?“ Und kam näher. “Was gibt`s ?“
„Du Tobi, Tobi ...Tobiiii ? « Sie klatschte jetzt vor lauter Aufregung in ihre Händchen.
„Ja !“ fauchte er und kam jetzt gerannt. “Was is denn los ?“
„Na ... da !“ ächzte sie wonniglich. „Und da !“ Sie wies mit dem Finger darauf.
Aber er konnte noch immer nichts Besonderes im hohen Grase zwischen den Steckrübenblättern entdecken,
“Ich sehe nichts ?“ sagte er sehr wahrheitsgemäß.
Sie schluckte. „Aber da is doch eins!“ rief sie tief enttäuscht, weil er es nicht fand, und sie beugte sich hinunter. „Und, und, uuuund...“
Er seufzte abermals. “He, sag` doch endlich mal, was ich suchen soll !“
„Na, da is es doch ... oh ... ooooh ... da is ja noch eins, ja ...jaaaaahhh ... und da auuuuch!“ Sie kicherte jetzt glucksend in sich hinein.
„Verfick....!“ aber dann sah es Tobias auch. Er bückte sich, nahm es in die Hand und sein Herz hüpfte ebenso wie Julchens.“ Es war ein nahrhaftes und daher auch sehr wertvolles Hühnerei. Er roch daran und es war frisch ! Der Zufall wollte es – hier lagen genau vier äußerst leckere Hühnereier ! Julchen hatte das Nest einer der Wildhennen, die hier lebten, entdeckt. Die Spucke lief ihnen vor Appetit im Munde zusammen als sie die Eier aufhoben. Es wurde zwar ein sehr schönes Frühstück, nachdem Margrit die Eier feierlich in einer Blechdose mit Wasser über dem Feuer gekocht hatte, aber die Fahrräder waren weg. Zwei Bauernjungen hatten die Freude und daher auch Unachtsamkeit der kleinen Familie ausgenutzt, die Schlösser schnell geknackt und sich in die Sättel geschwungen. Man konnte sie zu Fuß nicht mehr einholen, ihnen nur noch verzweifelt hinterher schimpfen. Die tapferen vier ergriffen schließlich ihre schweren Sachen und buckelten die bis zur Bushaltestelle. Sie waren so langsam gewesen, dass für Munk unterwegs noch genügend Zeit blieb, zwei fette Brummer und einen Engerling zu verspeisen.
Sie hatten das große Glück -und Munk Pech, denn er wurde wieder in sein Tragekörbchen gesperrt-, schon nach fünf Minuten einen der äußerst seltenen Busse zu erwischen. Natürlich mussten sie den Schaffner reichlich bezahlen und zwar in Form von diversen, zur Zeit hoch im Kurs stehenden, Gütern. Margrit opferte hierfür unter anderem auch ihre noch recht gut erhaltene Strickjacke, da der Bußfahrer jammerte, sein Leben zu riskieren, indem er nun eigentlich viel zu viel Leute im Bus hätte und daher sich die Gefahr erhöhe, auf dem Weg nach Würzburg noch von Hajeps abgefangen zu werden, die ja bekanntlich größere Menschengruppen überfielen.
Diese Busfahrt lohnte sich nicht nur für unsere Familie wegen des schweren Gepäcks. Es gab auch so gut wie keine Stadtpläne. Daher hätte man lange durch die ziemlich große Stadt eilen und nach dem entsprechenden Bezirk, nach der richtigen Straße und Nummer suchen müssen, um Muttchens Bekannte zu finden, die sie aufnehmen wollten. Freilich hätten jene Freunde sie auch abholen können, aber es war ein langer Weg und das Paar war nicht so recht auf dem Posten, wie es damals in deren Brief geheißen hatte.
Als es für einen Moment etwas leerer im Bus geworden war, stiegen plötzlich ein paar Leute ein, die vor allem Tobias sofort vertraut vorkamen.
„Dieterchen !“ kreischte er plötzlich los und die Augen glänzten feucht, während er vor lauter Freude laut zu lachen begann. Dieter schluchzte hemmungslos, als er Tobias und Julchen wiedererkannte und dann quetschten sich die Kinder an den Fahrgästen vorbei und fielen einander in die Arme. Annegret war natürlich gleichsam in Tränen aufgelöst, kaum dass sie Margrit und Muttsch hinter den vielen Menschen entdeckt hatte. Nur Herbert rang nach Fassung, wischte sich jedoch immer wieder die Nase.
„Hallo, was macht ihr denn plötzlich hier ?“ krächzte Margrit an den Fahrgästen vorbei. Sie hatte sich die Brille abgenommen, um ihre Tränen von den Gläsern weg zu putzen, aber das gelang ihr nur schwer, da der Bus immer wieder schaukelte, denn die Straßen waren furchtbar. Muttchen bekam einen knallroten Kopf vor lauter Aufregung und hielt sich ihr Herz als sie keuchte:
„Also, das ist ja nicht zu fassen. Euch hier anzutreffen, aber wolltet ihr nicht in Coburg bleiben ?“
„Ja, das stimmt, aber...“, begann Herbert.
„Seine Tante, die hier in Würzburg wohnt...“, schmetterte Annegret dazwischen.
„Ja, die ist gestorben...“,sagte er jetzt einfach, „... und die ist...“
„...stellt euch vor, ganz normal an Altersschwäche !“ übertönte ihn schon wieder Annegret. Darüber musste sie allerdings lachen und das war die Chance für Herbert, endlich weiter zu reden, während sie sich ebenfalls an den Fahrgästen vorbei schoben, um Margrit und Muttsch näher zu sein.
“Tja, so was soll`s trotz allem auch noch geben !“ rief Herbert ihnen schmunzelnd zu. „Sie hat uns ihre kleine Eigentumswohnung vermacht !“
„Das ist ja toll !“ keuchte Muttsch begeistert, kaum dass sie dichter beieinander standen. „Also, wie findest du das Margrit ! He, nun sag` doch auch mal was dazu !“
„Und wie habt ihr das damals von so weit her erfahren ?“ fragte Margrit.
„Über Verwandte, die...“, beeilte sich Herbert.
„...uns auf dem Weg nach Coburg begegnet sind...“, erklärte Annegret.
„...und uns wenig später zu ihrem Gehöft mitgenommen haben...“, fügte Herbert hinzu.
„Ward ihr etwa nie in Coburg ?“ entfuhr es Muttchen und sie kam Annegret dabei noch näher, um sie besser zu verstehen, weil ihre Ohren nicht mehr die besten waren.
„Genau ! Auoooh!“ kreischte Annegret plötzlich. „Gott, meine gute Hose !“
Herbert grinste ein bisschen.
„Tschuldigung !“ keuchte Muttchen betroffen. „Munk wird eben manchmal nervös, wenn er dauernd im Körbchen sitzen muss !“ Sie schob die Pfote zurück, die der Kater zwischen die Gitterstäbe gezwängt hatte.
Herbert schmunzelte abermals und erhielt dafür von Annegret einen giftigen Blick.
„Der ist nicht nervös, Muttsch !“ schimpfte jetzt Margrit, denn ihr war das ganze peinlich. „Der ist richtig aggressiv, dein Kater !“
„Ist er nicht !“ protestierte Muttchen. „Hach, du hast ja gar keine Ahnung von Katzen !“ fügte sie eingeschnappt hinzu.
„Mag sein !“ Margrit schob sich ihre Brille auf dem Nasenrücken zurecht, wie immer, wenn sie auf ein wichtiges Thema zurück kommen wollte. „Also, ihr habt damals bei Verwandten, die Bauern sind, übernachtet und wo...„ Margrit schluckte und schaute sich dabei suchend im Bus um, „....schlief damals Paul ?“
„Ach der ...der kam auch mit uns mit...“, beeilte sich Herbert, “... weil Ilona sich zuerst...“
„...nicht von uns trennen wollte !“ übertönte ihn Annegret.
Der Busfahrer schüttelte verärgert den Kopf über den Lärm, den die beiden Familien machten. Dann jedoch gewann er immer mehr den Eindruck, jene Leute hätten durch die Kriegswirren den Verstand verloren, denn sie lachten, während sie miteinander sprachen, und weinten zugleich, umarmten sich fast ständig und betrachteten sich gegenseitig verwundert auf `s neue, konnten es wohl nicht so recht fassen, dass sie einander wohlbehalten wiedersahen.
Nur eines beunruhigte schließlich beide Familien, dass Paul und Ilona später völlig ihre eigenen Wege gegangen waren.
„Warum habt ihr das zugelassen ?“ warf ihnen Margrit schließlich vor.
„Sie meinten, sie kämen alleine besser zurecht“, kam es verschämt zur Antwort.
„Wisst ihr, dass sowohl in Coburg als auch in Bamberg und Umgebung sämtliche Menschen getötet worden sind ?“
Die Passagiere hatten die beiden Familien so gut es ging zusammen gelassen und ihnen zugehört und kaum, dass die Namen der Städte gefallen waren, warfen sie auch schon ihre persönlichen Erlebnisse oder das, was sie so alles darüber gehört hatten, mit ein.
So war es schließlich wesentlicher lauter geworden, doch das störte weiter niemanden bis auf den Busfahrer natürlich und Munk und dann auch noch Dieterchen. Dieterchen wollte nämlich all das grauliche, was gerade in seiner Nähe herum erzählt wurde, nicht hören und hielt sich daher die Ohren zu und sang dabei ein Kinderlied.
Tobias musste Dieterchen schließlich antippen, da der auch die Augen zusammen gekniffen hatte, um ihm etwas zu sagen. Dieterchen hob die Lider.
„Ja –ah ?“ fragte er.
Tobias machte ihm durch Zeichensprache verständlich, ob er denn noch den Blaui bei sich habe ?
Da nahm Dieterchen, wenn auch ungern, endlich die Finger aus den Ohren.
„Ja, hab` ìch ! Wieso fragst du ?“ Wenn er ehrlich war, langweilte ihn die komische Hartgummikugel schon seit einem ganzen Weilchen. Vielleicht lag das auch daran, weil ihm bisher kaum Kinder begegnet waren, die mit ihm Murmeln hatten spielen wollen. Es hatte auch niemanden gegeben, der ihn wegen dieser prächtigen Kugel bewundert hätte. Deswegen fragte er gleich: “Und was is mit dem Flutschi ? Hast du den noch ?“
„Schscht, leise Mann !“ Tobias zog den Schnodder in der Nase hoch (das war schon gekonnt, denn er hatte meistens gar keinen richtigen Schnupfen) und sagte feierlich: „Is doch ein Geheimnis, du Hirni !“
„Ach so – Tschuldigung !“
„Klar hat er ihn !“ entgegnete jedoch Julchen kess anstelle von Tobias.
„Und ich ... ich hab auch was...“, setzte sie sogleich dahinter, „...nämlich was gefunden.“ Sie versuchte ebenfalls, den Schnodder in der Nase hoch zu ziehen, aber das gelang ihr nicht so recht. „Nämlich einen richtigen Nageklack!“
Tobias warf ihr einen ziemlich gehässigen Blick zu. “Erstens hast du den gar nich gefunden sondern ich und zweitens das heißt nich Nageklack, du Tussi, und drittens gehört der jetzt Mama !“schimpfte er erbost, dass sie sich in Männergespräche einmischte,
„Ach, so !“ meinte Julchen kleinlaut.
„Ich geb` dir den Blaui zurück, wenn du den gegen was anderes tauschst !“ ging Dieterchen ohne Umwege gleich aufs Ziel zu.
„Was ... was willst du von mir dafür haben ?“ krächzte Tobias mit belegter Stimme, kaum, dass Dieter den herrlichen Knuddelball aus seiner Umhängetasche hervorgeholt hatte und ihm entgegen hielt. Tobias schluckte, denn ihm war in diesem Moment klar geworden, wie sehr er schon die ganze Zeit seinen besten - ach - seinen allerallerbesten Freund, seinen guten, treuen Blaui vermisst hatte. Ja, wie hatte er sich eigentlich von diesem trennen, ohne den überhaupt leben können ?
Dieterchen sah, was sich so alles in Tobias Gesicht abspielte und machte ganz kleine, boshafte Augen. „Ich will dafür aber den Flutschi haben !“ sagte er scharf.
„Gerade den ?“ ächzte Tobias. „Ich meine ...willst du nich... lieber was anderes dafür ?“
„Nein !“ Dieses Wort hatte wie ein Peitschenknall geklungen und Tobias fuhr auch so zusammen, als hätte man ihm was übergezogen.
„Naaaa gut !“ Tobias bückte sich schweren Herzens und griff in seinen Rucksack, den er vor sich auf den Boden gestellt hatte. “Ich muss ihn aber erst suchen ... dauert `n bisschen, ohne Scheiß !“
Dieterchen nickte großmütig. Er war zufrieden mit sich, denn was konnte man schon Großartiges mit solch einer dämlichen Kugel anfangen. Der Flutschi hingegen wirbelte nur so durchs Gras, wenn man ihn ankickste. Er konnte fliegen, durchs Wasser sausen, und er kam immer zu seinem Herrn zurück. Dieter schmunzelte in sich hinein, während er all diese Vorstellungen hatte.
Julchen sah dies und zog ihre kleine Stirne kraus.
„Hier !“ sagte Tobias schließlich und keuchte. Er hob etwas rundes, braunes und leicht glänzendes in seinem Rucksack in die Höhe. „Er ... er ist heute etwas schwer!“
„Heute ? Is er nich immer gleich schwer ?“ fragte Dieterchen verdutzt.
„Weiß auch nich ... kommt mir viel schwerer vor, ganz ohne Scheiß !“
„Vielleicht ... vielleicht will er ja auch nich raus ... aus dem Sack !“ piepste Julchen und mischte sich somit schon wieder ein.
„Stümmt !“ gab Tobias, wenn auch ungern zu. “Aber ich ... ich schaff` das schon! Uuups ... ich ... ich will den Blaui und nich dich !“ fauchte er plötzlich das Ding zornig an. „Gehorche ! So ! So, halt schon still, du sch ... scheißschweres Glitschding !“
„Du, Dietercheeeen ?“ fragte Julchen abermals mit ihrem quietschigen Stimmchen.
„Ja ? Gott is der schön!“ jubelte Dieter, als Tobias den herrlichen schimmernden Metallkern endlich aus dem Rucksack hinaus hatte und ihm in die Hand legte. „Der ... der is aber gar nich schwer ! Ganz leicht is der !“ rief er verdutzt.
„Ja, das is er auch manchmal !“ bestätigte Tobias. “Mal is er eben so und mal is er so !“ Er zuckte mit den Achseln.
„Egal, hier hast du dafür deinen Blaui.“ Dieterchen übergab den Tobias mit feierlicher Miene und der seufzte erleichtert.
“Endlich bist du wieder mein !“ wisperte er seinem Knuddelbällchen zärtlich zu. Ach, nur schwer konnte Tobias sich beherrschen. der Kugel auch noch einen ganz dicken Schmatzer oben drauf zu geben.
„Du, Dieterchen, duhuuu ?“ fragte Julchen trotzdem hartnäckig weiter
„Jaah ?“ Behutsam tasteten Dieterchens Finger die feine Gravur ab. Er schnalzte voller Anerkennung mit der Zunge. „Sieht echt edel aus das Ding ...na ....der Flutschi !“ Er pustete den Staub von dessem stromlinienförmigen Rücken und schon begann das Gerät zu funkeln und zu glitzern wie eine sonderbar geformte Metalllampe.
„Du, aber duhuuu ?“ quiekste Julchen abermals.
Beide Jungs seufzten.
„Du ... du wirst keine Angst haben, nee ? Auch nich vielleicht ganz .. g anz später ?“
„Warum ?“ Dieterchen machte nun doch ein etwas ernsteres Gesicht, denn irgend etwas rumorte plötzlich in dem Ding.
„Is ja auch nuuur ein ganz kleines winziges bisschen ekelig, wenn er abends mal sein...“, Julchen schluckte, „...ganz doll haariges Bein zeigt, stümms ?“
„St..stummt !“ ächzte er und wurde etwas blasser um die Nase, da er das Gefühl hatte, dass sich nun irgendetwas Hartes, Kratziges von der Seite her in seine Handinnenfläche schob.
„Na ... vielleicht ... vielleicht zeigt er auch mal was andres ?“ überlegte Julchen weiter laut. „Was andres, mein ich, als nur ein Bein !“
Dieterchen spürte nun, dass sich auch etwas an der anderen Seite des Dinges zu rühren begann.
„Naaaah, ich glaub`...“, plapperte Julchen munter weiter, „....ich frag` mal die Oma, was so ein Käfer alles dran hat. Ja ! Ganz bestümmt mehr ... mehr Beine als eins, stümms ?“
„Stümmt !“ Dieterchen nickte, noch grauer im Gesicht geworden, denn er spürte auf der anderen Seite gleich drei dieser furchtbar kratzigen Beine.
„Und das eine, das ganz doll haarige is...“
Das Ding hob das entsprechende Bein etwas an und winkte damit Dieterchen für einige Sekunden zu.
„.... dem Flutschi bestümmt nur mal so herausgeflutscht ... so nich mit Absicht, weißt du ... aber er hat vielleicht Fühler drin und die ... diiiie...“
Dieterchen merkte jetzt, dass sich irgendetwas an dem Vorderteil des Dinges rührte und deshalb wurde er plötzlich ziemlich lebhaft. Er hielt sich nämlich mit einer Hand beim Hosenschlitz fest, weil ... ihm war plötzlich so komisch zumute.
„T...ttobias hast du nich etwas anderes, als den Käf ...äh... Flutschi zum Eintauschen dabei ?“ fragte er etwas nuschelig, denn er hatte jetzt seine Lippe zwischen den Zähnen, um nicht zu kotzen.
Tobias öffnete den Sack, um abermals hinein zu schauen. „Na, was hab` ich denn da noch...“, sagte er bedächtig, grinste aber heimlich zu Julchen hinüber.
Da warfen Dieterchen zittrige Finger das unheimliche Metallding ganz schnell in den Sack.
„Wie wär`s mit dieser Bärenkrallenkette ?“ fiel es Tobias plötzlich ein, und er zeigte ihm die Kette, die er um seinen Hals hatte.
„Einverstanden !“ wisperte Dieterchen, ach, er hätte eigentlich alles genommen, nur um bloß nie wieder dieses komische Ding in den Händen halten zu müssen. „Das mit der Kette war die Oma, stümms ?“ fragte er und betastete dabei die vielen kleinen harten Dinger, die ihm Tobias mit feierlicher Miene umgehängt hatte. Er war noch gar nicht dazu gekommen, die Kette genauer in Augenschein zu nehmen.
„Stümmt !“ sagten beide, sowohl Julchen als auch Tobias.
Komisch, irgendwie traute er ihnen jetzt nicht mehr so recht über den Weg.
„He, jetzt erzählt mir bloß nicht ...“, er musste plötzlich bei diesem Gedankengang inne halten, „... dass diese Kette aus lauter kleinen schwarzen...“, und nun schluckte er bei dieser Vorstellung, “... aufge ... gespießten Käfern besteht!“
„Do–och !“ erklärte Julchen mächtig boshaft.
„Ohne Sch...? Uuups ?“
Da lachten die Geschwister schallend los und Dieterchen kicherte schließlich mit.
Leider kam es sehr schnell wieder zum Abschied, doch die beiden Familien versprachen einander, sich möglichst bald zu besuchen. Herbert hatte inzwischen, obwohl es hier wackelig war, sogar eine kleine Skizze mit den wichtigsten Straßen für Margrit und Muttsch angefertigt, damit sie wussten, wie sie laufen mussten, wenn sie zu Besuch kommen wollten, und selbstverständlich hatte Annegret noch einiges daran auszusetzen, darüber zu malen, etliches verbessern müssen, ehe Margrit das arg zerknautschte und jetzt schrecklich undeutlich zu lesende Stückchen Papier erhalten durfte.
Noch ein letztes Mal drückten sich schließlich alle sieben freundschaftlich aneinander und noch ein letztes Mal langte dabei Munk tüchtig nach allen Seiten zu und dann waren Annegret, Herbert und Dieterchen wieder hinaus. Ach, es wurde so lange gewunken, bis der Bus in die nächste Straße einbog.

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Unsere Vier waren schließlich fast die letzten, die aussteigen mussten. Die Fahrt war gut und ohne irgendwelche besonderen Komplikationen verlaufen, doch nun stand die Familie etwas verloren mit allem Gepäck an einer der ehemaligen Bushaltestellen und sah sich unsicher nach allen Seiten um. Überall waren Hochhäuser, ein ganz normales Viertel am südöstlichen Stadtrand also, wobei gar nicht mal die Tatsache störte, dass es derart hohe Häuser waren, die einen umgaben, sondern vielmehr die Art und Weise und die Eintönigkeit, in welcher sie einst erbaut worden waren. Es war eines der alten, öden und bedrückenden Wohnsilos, dieser Gettos, welche die Menschen früher immer so beklagt hatten. Heute war man wohl eher froh, dass man überhaupt noch eine Bleibe hatte, denn hier tummelte sich alles Leben.
Offenbar deswegen wartete nun auch der Busfahrer an dieser Haltestelle auf neue Fahrgäste. Er saß lässig auf der Bank im Wartehäuschen und zündete sich eine der wohl vor seiner Fahrt erhandelten Zigaretten an.
Ganz bis zur richtigen Strasse hatte er unsere Vier nicht bringen können, denn dort, wo die war, befand sich eine sehr große, selbst beim besten Willen nicht befahrbare Fußgängerzone. Muttchen hatte plötzlich wieder einmal Beschwerden mit ihrem Rücken. Das lange Stehen im Bus und zuvor die viele Schlepperei war ihr einfach nicht bekommen, daher konnte sie ihr Gepäck nicht mehr tragen. Für Margrit allein war aber alles zu schwer, um es so weit zu schleppen. Die lange Strecke hatte ihnen der Busschaffner zuvor ziemlich genau beschrieben, nachdem er Margrits Handschuhe erhalten hatte.
Sie hatten mit einer solchen Panne nicht gerechnet und besprachen nun aufgeregt miteinander, was wohl am Wichtigsten und gleichzeitig einigermaßen leicht war, um es fortzuschaffen, denn es schien beileibe nicht sicher, dass man das, was man übrig ließ, auch später wiederfinden konnte.
So schleppten Margrit, die Kinder und Muttchen schichtweise ihre Sachen erst einmal aus der Reichweite des Busfahrers, der schon einen unverhohlenen Blick darauf geworfen hatte, und aus der Sichtweite der Menschen, die anscheinend hier schon lange auf den Bus gewartet hatten, und der zuströmenden Leute.
Etwas weiter weg von der Haltestelle entdeckten die Vier, dass erstaunlich viele Würzburger von allen Seiten kamen. Ziemlich schnell wurden es noch mehr und zuerst fielen Margrit und Muttchen gar nicht die entsetzten, bleichen Gesichter jener Leute auf, auch nicht, wie sie aufgeregt miteinander tuschelten und dem erstaunten Fahrer unglaublich wertvolle Handelsgüter boten, wenn er sie nur mitnähme.
Fast alle warteten auf verspätete Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn oder Bekannte. Es war sagenhaft laut geworden. Stimmen riefen aus der Ferne einander angstvoll etwas zu, bald waren es mehr Fahrgäste als der Bus fassen konnte und plötzlich hatte es auch der Fahrer furchtbar eilig und war sogar derart nervös, dass er die Packung mit den Zigaretten einfach auf der Bank liegen ließ.
Dies machte Margrit stutzig, sie hörte auf mit Muttchen darüber zu debattieren, ob lieber die zwei Wolldecken mitgenommen werden sollten oder die Winterstiefel sondern beobachtete aufmerksam das seltsame Geschehen.
„Hajeps !“ krächzte sie plötzlich entgeistert. “Mein Gott, irgendetwas scheinen sie wieder im Schilde zu führen ! Muttchen, Tobias, Jule - schnell in den Bus ! "
Sie sah, dass noch andere Einwohner, die plötzlich aus den Straßen herbeigejagt kamen, den gleichen Gedanken wie Margrit hatten. Jemand musste besonders dieses Viertel gewarnt haben, anders war das hektische Verhalten der Bürger nicht zu erklären. Etliche von ihnen fuhren bereits auf Fahr- oder Motorrädern mit ihrer wenigen Habe Richtung Süden davon, nicht nur aus dem Grunde, weil man in dieser Richtung am schnellsten aus der Stadt hinauskam, sondern auch hoffte, dass die dichten, dort angrenzenden Wälder Möglichkeiten boten, sich vor Hajeps zu verbergen. Um Margrit herum tobte Hektik und Angst. Hunde bellten, Kinder weinten, alte Frauen hinkten mit Tränen in den Augen auf den Bus oder auf die wenigen, randvoll gepackten Autos zu, die jedoch ohne sie zu beachten an ihnen vorbeiknatterten.
Als unsere Vier ebenfalls zum Bus flitzten - leider ohne jedes Gepäck, lediglich den Korb mit dem Kater ließen Muttchens knochige Finger nicht mehr los, die Kinder hatten ihre Schätze noch immer auf ihren Rücken - verfiel der Motor des Busses bereits in heftiges, lautstarkes Getöse. Entsetzt prallten sie vor dessen Eingang zurück, denn keine weitere Person konnte da mehr hineinpassen.
„Bitte, so rücken sie doch etwas mehr zusammen !“ flehte Margrit. Es tat sich dennoch kaum etwas, alles war in Panik geraten, und selbst der Fahrer hatte vergessen, ein weiteres Tauschgut von Margrit zu verlangen. Sie durfte hinein mit ihrer Familie oder auch nicht ! Ihm schien alles egal zu sein. Er wollte nur schnellstens weg, um sein eigenes Leben zu retten.
Darum fuhr er nach kurzem Zögern einfach an. Beide Kinder hatten sich inzwischen irgendwie zwischen die Fahrgäste gemogelt, wurden fast zerquetscht, und auch Muttchen schien sich, zwar nur mit einer Hand, die andere hielt ja immer noch den Korb, seitwärts im Inneren des Busses festgekrallt zu haben. Sie hatte dabei lediglich auf dem Trittbrett Platz gefunden. Alles schwieg verängstigt, nur Munks fauchender Protest war nicht zu überhören.
„Schnell !“ rief Muttchen Margrit zu, doch da fuhr der Bus bereits mit höchster Geschwindigkeit los.
Margrit rannte schreiend mit vielen anderen Leuten nebenher, winkte, bettelte, flehte ... der Abstand zwischen dem Bus und den Fußgängern wurde immer größer... schließlich starrten die Übriggebliebenen nach Atem ringend und fassungslos dem inzwischen weit entfernten Bus hinterher, sahen, sie wie er gerade eine Kurve nahm, Richtung Süden ... in die Sicherheit !
Margrit war verlassen worden. Mit all diesen Menschen und ihren vielen Sachen blieb sie hier zurück. Wohin genau würde der Schaffner ihre Lieben bringen - würde sie die je wiedersehen ? Würde sie überhaupt all das überleben, was sicher hier bald geschah ? Mit zitternden Knien lauschte sie in die Stille hinein. Oh Gott, das war solch ein tödliches Schweigen ! Alle Menschen schienen in diesem Moment den Atem anzuhalten. Zwei Fragen standen in dabei in ihren Gesichtern geschrieben. Was können wir jetzt noch tun ? Auf welche Weise werden die Hajeps anfangen und diesmal zu vernichten ?
Da - ein kaum hörbares Wimmern etwas weiter hinter Margrit. Sie drehte sich um. Dort stand zwischen all den vielen anderen eine junge Frau. Sie fiel dadurch auf, dass sie, obwohl so blutjung (Margrit schätzte sie auf höchstens vierzehn Jahre), bereits Mutter war. Das weißblonde Haar hing ihr von all dem Laufen wirr und schwitzig im erhitzten, sommersprossigen Gesicht. Das Kind auf ihrem Arm schmiegte sich eng an ihre Brust und schluchzte leise. Die junge Mutter hingegen vergoss keine einzige Träne, dennoch verrieten ihre wasserblauen Augen, was sie empfand.
Der alte Mann auf der anderen Seite von Margrit, welcher auch dem Bus hinterher gehetzt war, hielt sich nun das Herz. Er war käseweiß im Gesicht, kämpfte immer noch um Luft.
Ein etwa achtjähriger Junge mit dunklem, widerspenstigem Haar zur Margrits linken fuhr mit bebenden Fingern durch das struppige Fell seines Hundes und redete beruhigend auf diesen ein und der Hund hechelte, die Zunge hing ihm weit heraus. Er wedelte arglos, denn er wusste ja gar nicht, worum es hier eigentlich ging, mit seinem buschigen Schwanz dicht über dem staubigen Boden.
Auch in einiger Entfernung standen die Menschen mit vornüber gebeugten Schultern immer noch keuchend und völlig fertig erst einmal herum, doch dann versuchten sich die ersten von ihnen zusammenzureißen, irgendwie so schnell wie möglich einen Fluchtplan in ihrem Kopfe zu entwickeln. Margrit sah, wie sie die Schultern strafften. Sie atmeten dabei ganz bewusst langsamer ein und aus, stützten schließlich die Hände in ihre Hüften, und ihre Blicke durchwanderten prüfend verschiedene Straßen. Andere hingegen rührten sich noch immer nicht, waren wie erstarrt, ähnlich zum Tode Verurteilter, stierten sie dumpf vor sich hin. Es gab jetzt aber auch ein paar Leute, die liefen sofort los, einfach Hals über Kopf irgendwo hin. Einige von ihnen jedoch, meistens waren es Frauen, hielten nach Verstecken in allernächster Nähe Ausschau. Wieder andere nahmen zu Fuß genau die Strecke, die der Bus genommen hatte (das waren meistens Männer) und etliche sahen das und folgten ihnen, obwohl sie wussten, dass es lange dauern würde, auf diese Weise aus der Stadt hinaus zu sein, über die Äcker in den rettenden Wald zu kommen.
Nicht wenige, die sich hier auskannten versuchten es darum wohl mit besonderen Abkürzungen. Ein paar, die wie Margrit, hier nicht so heimisch waren, hatten dabei Stadtpläne zur Hand. Sie versuchten als Gruppe oder allein das Viertel bis zum Stadtrand zu durchqueren.
Es gab aber auch Familien die zu ihren Häusern, auf der Suche nach einem guten Versteck, zurückkehrten. Und dann entdeckte Margrit auch Menschen, die plötzlich ihre Ohren mit einem Schal zugebunden und dann noch eine Mütze darüber gezogen hatten und so in schlimmer Erwartung auf das Kommende einfach weiterliefen. Aber es bildeten sich auch Gruppen, die erst einmal miteinander gründlich berieten. Die diskutierten jetzt ziemlich laut und sehr aufgeregt und immer wieder wies jemand von ihnen dabei auffordernd mal in die eine oder andere Straße, was jedoch stets mit skeptischem Kopfschütteln abgelehnt wurde.
Gerade als sich Margrit damit trösten wollte, dass diese Panik ja vielleicht auch von einem Verrückten und daher völlig unbegründet herbeigeführt oder irgendeine Nachricht fehlgeleitet sein könnte, vernahmen ihre empfindlichen Ohren ein ihr wohl bekanntes Gebrumm und zwar weit, ganz weit aus der Ferne und sie versuchte sich, wenngleich sie sehr nervös war, darauf zu konzentrieren.
Schweiß trat nach einem Weilchen auf ihre Stirn und dann wusste sie es ganz genau : ja, eine Flotte Trestine näherte sich tatsächlich der Stadt, und kam, das war dabei das Schlimmste, aus dem Süden, genau aus der Richtung, in die der Bus mit ihren Lieben verschwunden war.
`Julchen, Tobias, Muttchen!` pochte es in ihrem Gehirn. `Was kann ich jetzt noch für sie tun ?` Sämtliche Flüchtlinge, ob mit Auto, Motor- oder Fahrrad oder einfach nur zu Fuß hatten sich ja ebenfalls nach dort hin bewegt. Würden all diese Menschen schneller sein als die Hajeps ? `Niemals ... nie!` knallte ihr die Antwort entgegen und ein weiterer fataler Gedanke drängte sich ihr ganz nebenbei auf. Waren etwa die Warnungen über Funk oder Radio für das südliche, dieses besonders dicht bewohnte Viertel, womöglich eine Finte der Hajeps gewesen, nur um am Stadtrand möglichst viele....? Margrit wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen, statt dessen wurde ihr Hals unangenehm trocken, sie räusperte sich, kämpfte erneut gegen diese lähmende Verzweiflung an. Beschämende Gedanken kamen leider noch hinzu, denn womöglich waren bei diesen Nachrichtenübermittlungen sogar Menschen tätig gewesen ! Menschen gegen Menschen! Menschen auf der Seite der Rehanan oder der Nobos ! Welch eine furchtbare Tatsache ! Aber es WAR nun mal eine TATSACHE, verdammt !
Das Summen aus der Ferne übertönte nun den fiebrigen Klang in Margrits Ohren. Unfähig, jetzt auch nur irgendetwas anderes zu tun, grübelte sie darüber, welche sonderbaren Waffen die Hajeps wohl diesmal einsetzen würden, denn sie hatten ja dafür reichlich Auswahl ! Alles, was Margrit bisher gehört hatte, flitzte dabei durch ihr Gedächtnis. Sie schaute schließlich mit flackerndem Blicken umher, konnte dabei nur noch an das denken, worüber sie zuletzt mit Robert diskutiert hatte. Stand hier vielleicht bereits irgend so ein Gerät ... solch ein komischer Kasten, der diese irren Töne von sich gab, welche die Gehirne zerfressen sollten ?
Im Geiste huschten dabei noch einmal Bilder der seltsam gekrümmten Leichen, die sich die Ohren zuhielten, vorbei. Entschlossen kniff sie die Lippen zusammen. Sollte sie nach diesen Maschinen vielleicht sofort suchen ? Konnte man so etwas noch beizeiten wegräumen oder gar entschärfen wie eine Bombe ? Nein, diese Suche würde gewiss zu lange dauern. Ja, es war doch im Grunde gar nicht sicher, was jetzt passieren würde ! Sie nahm sich vor, ruhiger zu atmen, damit man vielleicht so ein Ding hören konnte. Summte es wenigstens so ein ganz kleines bisschen ? Oder war es besser, wenn sie sich einfach nur die Ohren rechtzeitig zuhielt ... vielleicht noch einen Schal drum herum band, wie die Leute von vorhin ? Hatte das denn je den Menschen genutzt ? Vielleicht schützten ja Häuserwände ? Aber hatte es nicht auch Leichen in den Wohnungen gegeben ?
„Sie ... sie kommen!“ rief sie jetzt einfach dem Mädchen mit dem Kind zu.
„Ich weiß !“ erwiderte die apathisch, machte aber keinerlei Anstalten fortzulaufen. “Es ist zu spät ... viel zu
spät !"
Margrit schob sich an dem alten Mann und den zwei Damen vorbei, von denen die eine fortwährend weinte und sich vergeblich mühte, die rotgeweinten, verquollenen Augen trocken zu wischen.
„Ach, was erzählen Sie denn da!“, hörte sich Margrit und war selber erstaunt über ihre plötzliche Entschlossenheit. „Sie sind doch Mutter. Auch wenn sie selbst noch ein halbes Kind sind, haben Sie doch Verantwortung ... noch können wir alle von hier weg !“ Margrit spähte zum Himmel, denn das Dröhnen war inzwischen entschieden deutlicher geworden. Die Schiffe näherten sich eindeutig der Stadt.
„Fliehen Sie mit mir !“
Stumm, fast trotzig schüttelte die junge Frau ihren Kopf, während das Kind auf ihrem Arm Margrit aus großen, braunen Augen musterte.
„Ich komme mit ... Sitz !“ wisperte der Junge mit dem kurzen Struwwelhaar und zog seinen Hund dabei näher zu Margrit heran. Dieser gehorchte artig, wedelte mit dem Schwanz und fegte dabei ein paar Herbstblätter zur Seite.
„Es ist nicht gut, wenn Gruppen gebildet werden !“ mahnte der alte Mann aufgeregt. „Wenn jeder allein in eine andere Richtung läuft, haben wir bessere Chancen zu entkommen !“
„Er hat Recht !“ wisperte eine etwa fünfzigjährige Frau, die gerade vorbei kam und tatsächlich noch immer ihre Habe mit sich herumschleppte. “Es dürfte recht mühselig für die Hajeps sein, nach jedem Einzelnen von uns zu suchen !"
„Ach, was denkt ihr denn“, schluchzte plötzlich die junge Mutter zu Margrits Überraschung plötzlich los. „Wenn sie wollen bekommen sie uns alle !“ Das Mädchen schob sich das Kind in eine bequemere Lage auf ihre Hüfte. ”Sie haben albtraumartige winzige Waffen, die sie, so als wäre es Schmuck, an ihren Körpern tragen. Zum Beispiel, wenn man sich versteckt...“, wisperte sie, „...das ist keine Lösung für uns, denn sie hören wo wir sind !“
Die Umstehenden schüttelten nun entsetzt ihre Köpfe und wieder ein paar von ihnen ergriffen sich ihr weniges Gepäck und gingen einfach weiter, aber es kamen fast gleichzeitig Neugierige hinzu.
„Meinen Vater, meine Mutter, fast alle ... haben sie auf diese Weise erst kürzlich erwischt und ... „
„... wie machen sie das ... ich meine dieses Hören?“ fiel ihr Margrit ziemlich unhöflich ins Wort.
„Die Jimaros senden, wenn sie zu Fuß sind, mit einem etwa sechs Zentimeter langen, stiftförmigen Gerät Schallwellen in einem bestimmten Umkreis aus, die auch für uns ab einer gewissen Entfernung vernehmbar sind, sofern wir noch gute Ohren haben. Die Töne, die in einem ziemlich gleichmäßigen Abstand erfolgen, erinnern etwas verfremdet an das helle Zwitschern eines Vogels, überschlägt sich jedoch diese Vogelstimme, verändert sie sich zu einem langen und lauter werdenden Pfeifton, dann haben sie einen Menschen erwischt! Es ist zu spät für ihn, zu entfliehen, ihre winzigen Fang- und Schussgeräte funktionieren nämlich blitzartig. Du kannst nicht mehr davon ...ooooh... damals fing alles ähnlich an, doch da hatte ich noch eine Chance, konnten ich und mein Kind im letzten Augenblick gerettet werden...“
Die meisten der Leute, die zugehört hatten, gingen nun auch. Lediglich fünf, nein, sechs blieben, außerdem der Junge mit dem Hund und erstaunlicherweise noch immer der alte Mann.
„Und wie geschah das ?“ wollte Margrit wissen, neugierig, wie sie von Natur aus war.
„Sie können einem aber auch Löcher in den Bauch fragen!” knurrte die junge Mutter verdrießlich und ihr Blick ging dabei zu dem Motorradfahrer, der mit dem Lärm, den seine völlig mit Koffern und Säcken überladene Maschine machte, ihre Stimme fast übertönt hatte. Knatternd und qualmend verschwand er endlich in einer der Nebenstraßen.
“Mein Onkel kam gerade in dem Augenblick hinzu, als der Hajep auf mich zielte, es war im übrigen nur ein einziger Jimaro, denn nur fünf hatten unser kleines Städtchen erobert, nur ein Trestine war bei uns auf dem Acker gelandet. Mein Onkel sprang todesmutig aus seinem Versteck und zog ihm einfach den unteren Teil der Maske vom Mund. Darüber war der Hajep so verdutzt, dass er daneben zielte. Dafür traf mein Onkel gut, er feuerte ihm einfach mitten in den Mund. Wir hatten Glück, dass dieser Jimaro, der wie alle anderen schusssicher von Kopf bis Fuß gekleidet war, so überrumpelt werden konnte. Er brach tödlich getroffen zusammen, ohne seine Kameraden noch um Hilfe rufen zu können und...“
„Habt ihr ihm nicht sofort den Helm abgenommen und die Brille, um zu sehen, wie Hajeps überhaupt
aussehen ?“ rief Margrit aufgeregt. Sie musste diese Frage wohl sehr laut von sich gegeben haben, denn es blieben nicht nur wieder Leute stehen, zusätzlich kam noch eine ziemlich große Gruppe zu ihnen über die Straße gelaufen.
„Sie waren wohl noch nie in Lebensgefahr!” zischelte das Mädchen erbost und die Menschen warfen Margrit sowohl verwunderte, als auch missbilligende Blicke zu. „Sonst wüssten Sie, dass einem dabei sämtliche Neugierde vergeht, dass man nur eines kennt : zu entkommen !“ Blicklos wanderten nun die hellen blauen Augen des Mädchens wieder zu dem Strom Menschen, der hinter dem Kreis Zuhörer jetzt unablässig vorüberzog. Die meisten trugen dicke Mäntel oder Jacken. Einige Männer hatten sogar Mützen oder Hüte auf, Frauen nicht selten Kopftücher um ihre ungepflegten Haare. Dennoch wirbelte allen der Wind, als wolle er sie necken, die fettigen und verfilzten Strähnen darunter hervor.
„Ich war öfter in Lebensgefahr, als Sie denken...”, sagte Margrit leise, „... dennoch finde ich...“, sie dachte dabei für einen Augenblick an Georges Worte und holte daher tief Luft, ”... dass wir uns endlich darum kümmern sollten, wer eigentlich unser Feind ist ! So habe ich zum Beispiel heute zumindest erfahren können, dass Hajeps keineswegs unverwundbar sind, wie es immer felsenfest behauptet wird. Wir Menschen können sie sogar mit unseren einfachen Waffen töten, das ist mir jetzt, Gott sei Dank, klar ! ”
„Wer weiß !“ rief ihnen ein Radfahrer aus der Menge der Vorüberziehenden zu. „Vielleicht war es ja nur ein Roboter!“ Seine große Tochter, die hinter ihm auf dem Gepäckständer saß, mit langen baumelnden Beinen, lächelte dazu unsicher. Das Rad kippelte, als er zur Weiterfahrt ansetzte.
”Hören Sie das eigenartige Gebrumm ?“ fragte die junge Mutter Margrit und ihr Kind schien dabei mit zu lauschen.
Margrit nickte.
„Sie sind gleich da !“ Die Bewegungen der jungen Frau waren ziemlich fahrig, als sie sich mit der freien Hand, eine der langen blonden Strähnen hinter das Ohr strich.
Wie auf Befehl verstreuten sich nun die Zuhörer, liefen schnell, aber immer noch ziellosen Schrittes in die Straßen. Einige hatten Handwagen mit, die sie nun über das ungepflegte und holprige Pflaster der Bürgersteige hinter sich herzogen, manche sogar die schwersten Rucksäcke auf ihren gekrümmten Rücken, doch die Gesichter hinter den meist hochgeschlagenen Krägen und unter den in die Stirn gezogenen Hüten hatten dabei immer den gleichen Ausdruck ... den einer unbeschreiblichen Leere.
Jemand hakte sich trostsuchend beim anderen ein und eine junge Frau kuschelte sich schutzsuchend an die Schulter ihres Freundes, während sie gemeinschaftlich, als gingen sie zum Schafott, um eine Häuserecke tappten.
Margrit sah all jenen mit großem Kummer nach und vernahm dabei einen stetig lauter werdenden Orgelton. Zunächst meinte sie, dass ihre Ohren klingeln würden, aber dann merkte sie, dass die Menschen mitten in ihren Bewegungen verhielten und zwar überall in den Straßen, und dass sie dabei völlig entgeistert waren. Sie schienen wie aus Stein gemeißelt zu sein, nur die Köpfe bewegten sich noch, wurden in die Höhe gereckt, denn sie schauten nach Süden zum Himmel hinauf.
Und da entdeckte Margrit es auch : ein kugelförmiges Gebilde mit einem Durchmesser von etwa vier Metern, das oben und unten ein wenig abgeplattet und abwechselnd mit spitzen, antennenähnlichen Stäben und feinen Düsen versehen war, kam langsam näher. Der helle Orgelton wurde deshalb lauter und es flog ziemlich niedrig, immer nur knapp über den Dächern dahin, verhielt sogar für einen kurzen Moment da und dort, erhob sich mal ein bisschen oder senkte sich, drehte sich um die eigene Achse, als ob es sich nach allen Seiten umschauen würde.
„Was will plötzlich dieses DING...“, Margrit fand keinen anderen Namen dafür, ”...über der Stadt ?“ fragte sie sich laut.
„Es ist ein Scabatu!“ erklärte die junge Mutter mit bebender Stimme und drückte das Kind dabei so fest an sich, als könne sie es dadurch schützen.
„Ein was ? He, das fabriziert jetzt wohl extra diese irren Töne für uns“, krächzte Margrit mit belegter Stimme, “damit uns zuerst das Trommelfell kaputt gehen soll, dann die Nervenbahnen und...“
„Nein, nein, so etwas ist es nicht !“ fiel ihr das Mädchen ins Wort. Sie tröstete ihr Kind, da es die Unruhe spürte und wieder zu weinen begonnen hatte.
„Ist schon gut meine Kleine, ja, ja, ja !“ und begann es zu wiegen, bis es wieder völlig still war.
„Und was macht nun so ein Sca...?“
„Scabatu !“ Das Mädchen wischte sich ärgerlich eine ihrer Tränen weg. „Das ist eine intelligente, frei bewegliche Beobachtungssonde aus Biomaterial...“, sie hob sich das Kind auf die andere Seite ihrer Hüfte, ”...die sicher bereits in ihrem Gehirn gespeichert hat, wohin sich die meisten Menschen im Süden wandten und wird auch bestimmt gleich sehen, wohin wir laufen werden.“
Das Baby starrte nun auch zum Himmel, sein kleines Däumchen, an dem es bisher genuckelt hatte, dabei völlig außer acht lassend, denn das Ding schwebte jetzt direkt über ihnen.
Margrit hielt ihre Brille schief um besser zu erkennen. Der Satellit sah, von hier unten aus betrachtet, tatsächlich weich und irgendwie lebendig aus. Die lederartige Haut war vernarbt und hatte überall knubbelige Verfleischungen und Schwielen. Das ganze Ding schimmerte in einer blaugrauen Farbe, fast wie der Himmel. Nur ab und an blinkten kleine rote, manchmal weiße Punkte darin auf.
„Das Scabatu ist über Funk...“, erklärte das Mädchen weiter, „...wahrscheinlich mit den Helmen der Jimaros, jener Truppen verbunden, die hier gleich landen werden.”
„Jimaros ?“
„Ja, das heißt übersetzt Töter, Soldat ! Wussten Sie das nicht? „
Margrit schüttelte den Kopf „Aha, deshalb tragen die ... diese Jimaros immer Brillen ? ”
„Ach wo, nicht nur deshalb, denn...“, das Mädchen kam mit diesem Satz aber nicht zu Ende, da sich ihnen plötzlich ein ziemlich merkwürdiges Bild hier unten auf dem Platz und in den Straßen bot.
Das anfängliche Staunen und die Starre der Menschen hatte sich jetzt in recht übertriebenes Leben verwandelt.
Gestandene Männer brachen sich zum Beispiel, kaum, dass sie das Ding über sich gesehen hatten, in einer Allee kräftige Äste von den Bäumen, wohl um sich irgendwie gegen den zu erwartenden Feind zu wehren. Das wirkte fast komisch, wenn man dabei an die hochtechnisierten Waffen der Hajeps dachte.
Der Anblick des Dinges war wohl auch für zwei Frauen, vermutlich Mutter und Tochter, zuviel gewesen. Sie verkrochen sich, kaum dass die Sonde hinter den Dächern der nächsten Häuser wieder verschwunden war, laut kreischend im Gebüsch, das einen Parkplatz umrahmte und auch der Junge, eben noch dicht an Margrit gedrängt, flitzte wieselschnell, dabei leise vor sich hinweinend und eine Hand ins rissige Halsband seines Hundes gekrallt, einfach fort.
Margrit war entsetzt, denn sie hatte ihn nicht mehr beim Ärmel packen und aufhalten können.
„Bleib doch !“ schrie sie ihm nun hinterher. “Lass dich nicht bange machen ! Wir müssen alle genau überlegen ! Komm zurück ...bitte !“
Auch der Alte hörte nicht, er überquerte ebenfalls so schnell er konnte die Straße, wenn auch schwankend und sich immer wieder das Herz haltend. Margrit schüttelte fassungslos den Kopf. Nur die Mutter mit dem Kind hatte sich noch immer nicht gerührt. Es war im Süden seltsam still geworden, lediglich im Norden hörte man noch den stetig abebbenden Orgelton der davonsausenden Sonde. Margrit ahnte, weshalb es im Süden plötzlich so ruhig geworden war, die Trestine waren wohl zu groß, um direkt hier zu landen, wohl aber am Stadtrand in der Nähe dieses Viertels, irgendwo auf den Äckern.
Wenig später erfolgte jedoch weiteres Grollen aus der Ferne. Diesmal von anderer Seite der Stadt und zwar aus dem Westen ... also näherte sich von dort noch ein kleines Geschwader ! Es war der reinste Hexenkessel !
„Los, komm du wenigstens mit mir !“ Margrit packte die junge Frau beim Arm und versuchte sie mit sich zu zerren. Zögernd folgte die ihr tatsächlich und das Kind auf ihrem Arm blickte erstaunt von einer Frau zur anderen, sein rotgenuckeltes Däumchen immer noch weit von sich streckend.
„Wohin wollen Sie denn mit mir hin ?“ erkundigte sich das Mädchen halb aufgebracht, halb mutlos, als sie an einem kleinen Park vorbeikamen, in dessen Mitte ein Springbrunnen war, der nicht mehr funktionierte.
„K ... keine Ahnung !“ erwiderte Margrit und sie schaute sich dabei in den trostlosen Gassen um. “Ich ...äh... kenne mich hier nicht aus!“
„Unverschämtheit !“ das Mädchen riss sich los. „Was glauben Sie denn, wer Sie sind ? Die Retterin Menschheit ?"
„Nein ...hm... aber ich höre sehr gut, und wenn Sie vielleicht die Güte haben würden, mir zu erklären, wo genau wir uns jetzt befinden, dann könnten wir uns geschickt verstecken ...“
„Das können wir wohl kaum ! Ich habe ihnen doch eben erklärt, welche Geräte die Hajeps haben! Das Scabatu beobachtet alles! Sitzen Sie denn auf diesen Ohren, mit denen sie angeblich so gut hören können ? "
„Aber... es sieht uns doch nur von oben!“ bemerkte Margrit zögerlich.
„Na, von unten wird`s wohl schwerlich gehen !“ Das Mädchen lachte ärgerlich auf und das Baby begann deshalb wieder angestrengt an seinem Daumen zu nuckeln, die kleine Stirn in tiefe Fältchen gelegt.
„Äh, ich meine damit nur, dass diese Sonde“, begann Margrit von neuem, „kaum die Häuser total bis ganz nach unten durchleuchten wird o...oder doch ?“ Margrit bekam bei diesem Gedanken irgendwie Atemstörungen.
“Nein“, beantwortete sie sich ihre Frage einfach selbst, ”denn sonst bräuchten die Hajeps ja ihre komischen Pfeifgeräte nicht !“
„Das ist nicht ganz dumm gedacht”, räumte das Mädchen ein und strich sich dabei ihr langes, blondes Haar aus dem Gesicht, “aber wer sagt Ihnen, dass die Hajeps auch heute diese Pfeifgeräte einsetzen werden ? Es könnte durchaus sein, dass jene Sonde nicht ein Scabatu sondern ein Spelk ist...“
„Ei...ein... Spr...Spelk ? ” ächzte Margrit entsetzt.
„Genau ! Ich kenne mich nämlich darin nicht so recht aus, und ein Spelk kann sehr wohl die Etagen einzelner Häuser von oben nacheinander durchleuchten und dort sofort Menschen entdecken, auch wenn sie sich noch so gut verstecken. Doch Spelks sind wohl ziemlich kompliziert und aufwendig herzustellen und darum sieht man häufiger Scabatus als Spelks über den Städten kreisen. Aber auch ein Scabatu ist schon gefährlich genug, denn es erkennt, wohin sich die Menschen auf den Straßen wenden. Dorthin werden sich dann später auch die Einheiten der Außerirdischen bewegen, daher ist es tatsächlich wichtig, dass jeder von uns alleine bleibt ...Tschüß !“ Und sie bog dabei in eine andere Richtung ein als Margrit.
„Moment“, rief ihr Margrit hartnäckig hinterher, „wissen Sie, dass sie jetzt gerade nach Süden laufen? Meine Uhr ist nämlich gleichzeitig ein Kompass und..."
„Ja und ?“ Das blonde Mädchen sah Margrit plötzlich herausfordernd an. “Ist das denn nicht völlig egal ? ”
„Ich ...ich meine ...nein !“ stotterte Margrit.
„Tristine sind doch auch im Westen gelandet, haben das ihre guten Ohren etwa vergessen ? He, kommen Sie mir ja nicht hinterher“. kreischte sie jetzt und ihre Lippen bebten. „Dies ist mein Weg, den ich gewählt habe !"
„Hab` ich mitgekriegt und deshalb auch kein Interesse an ihrem Sch...Scheißweg !“ brüllte Margrit wütend zurück. Sie schämte sich nun doch ein bisschen. Gut dass das Tobias nicht hören konnte! „Trotzdem müssen sie mir noch eines verraten ... weshalb töten Hajeps nicht gleich sämtliche Menschen mit einem Ruck ? Ich meine, weshalb machen sie sich so viele Umstände, wie zum Beispiel heute ?“
„Weil sie nach etwas suchen !“ rief das Mädchen und schlug dabei den großen Kragen hoch, nachdem sie ihr helles Haar zuvor in die Jacke gestopft hatte. Jetzt sah sie so grau und leer aus wie alle anderen.
„Und WAS ?“ fragte Margrit einfach weiter. “Sicher ihre entflohenen Sklaven, nicht wahr ?“
„Davon habe ich auch schon gehört.“ Das Mädchen blieb nun nachdenklich stehen. „Trowes ... die wollen sie anscheinend lebend haben !“
„Und deswegen werden wir heute sozusagen handverlesen!“ vollendete Margrit deren Satz.
Nun musste das Mädchen doch Grinsen, wurde aber sofort wieder sehr ernst und nickte. „Uns Menschen bringen sie allerdings gleich um!“
„Ist sozusagen, weil`s ohnehin viel zu viele von uns gibt, ein Abwasch !“ Margrit kicherte jetzt ziemlich hysterisch und das Mädchen fiel mit ein.
„...sind ja auch zu viele hierher gekommen“, sagte sie. „Die Hajeps sind geradezu überflutet worden. Diese Trowes müssen allerdings ungeheuer wichtig für die Hajeps sein. Diejenigen Menschen, welche sie heute an die Hajeps verraten oder gar an sie ausliefern, kommen bestimmt zur Belohnung mit dem Leben davon.“
„Ob sich die Trowes wohl als Menschen verkleidet haben ?“
„Ganz bestimmt ! Ich muss sagen, ich bewundere diese Sklaven“, erklärte das Mädchen mit leuchtenden Augen, “dafür, dass sie den Feind so lange schon an der Nase herumgeführt haben.“ Sie holte tief Atem. „Aber das ist es womöglich nicht allein, was die Hajeps suchen.“ Sie drückte das Köpfchen ihres Kindes dicht an ihre Wange und gab ihm einen Kuss. „Sie suchen eigentlich IMMER schon nach Salvarin Trochose !“ Sie machte eine abwehrende Bewegung mit der freien Hand. „Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, was das ist, aber dazu brauchen sie Menschen ...viele Menschen !“ Und dann wendete sie Margrit endgültig den Rücken zu und lief weiter.
„Halt ...Hallo ? Ei ...einen Moment noch“, schrie ihr Margrit trotzdem hinterher.
Aber das Mädchen reagierte nicht mehr, bog um die Ecke, verschwand einfach hinter einem der leer stehenden Läden.
„Woher wissen Sie eigentlich immer so verdammt gut Bescheid ?“ rief Margrit dennoch und machte sogar Anstalten, dem Mädchen zu folgen. „He, wer sind Sie eigentlich ?“ rief sie jetzt etwas leiser, da sie meinte, dass das vielleicht gar nicht mehr aus solch einer Entfernung zu hören war. „Verdammt, wo kommen Sie her ?“
„Geheimnis !“ hörte Margrit hinter der Ecke. „Viel Glück !“ und dann Schritte, die sich sehr schnell entfernten. Oder hatte sich Margrit das nur eingebildet ? Margrit biss sich auf die Lippe und trottete dann nach kurzem Zögern nach Norden. Sie wollte sich nicht so schnell verstecken, weil sie wusste, dass sie von oben gesehen wurde, sondern lieber Haken schlagen, hierhin laufen, dorthin laufen, beweglich sein, sich dabei aber immer wieder nach den Haltestellen richten, die Route einfach zurück, denn sie hatte vorhin vom Bus aus bemerken können, dass es irgendwo eine uralte riesige Baustelle gab, bei der man damals mit den Häusern nicht fertig geworden war. Es lohnte kaum für Hajeps dort nach Menschen zu suchen, da dieser Platz ziemlich übersichtlich war, und zum Teil ganze Dächer und Wände fehlten. Außerdem befand sich dort auch noch ein alter Selbstbedienungsladen mit Lagerhallen, und einem Hochhaus, umgeben von Bäumen und verwilderten Hecken, in dessen Keller, sich Margrit verbergen und übernachten wollte. Von dort aus würde sie dann weiter zurücklaufen, bis zur anderen Seite der Stadt, in den Norden, wo ein kleiner Wald war mit Moorgebieten.
Sie hielt den Atem an. Alles wirkte wieder so still und viel zu ruhig, nicht mal ein Hund bellte. Anders als zuerst vermutet, war sie sich nun sicher, dass es kaum noch etwas Lebendiges in diesen Häusern geben konnte. Die vielen Menschen, die sie an der Haltestelle noch gesehen hatte, waren vielleicht nur der letzte Rest gewesen. Die Hajeps selber hatten womöglich gar nicht Mal den Alarm ausgelöst. Es kam nämlich mitunter vor, dass die Leute noch rechtzeitig über das Radio von den Beobachtungsposten der Menschen gewarnt wurden. Dieser Fall war hier wohl eingetreten. Es hatte aber anscheinend doch noch Leute gegeben und so auch diesen Busfahrer, die nur deswegen so spät Bescheid wussten, weil sie eben kein Radio gehörten hatten. Margrit nahm an, dass zum Beispiel der Schaffner lieber in aller Ruhe um die Handelsgüter für diese Strecke gefeilscht hatte, als sich mit den neuesten Nachrichten zu beschäftigen ! Sie dachte dabei kurz zurück, wie er sich sich während der Fahrt mit einem Kollegen, der später hinzugestiegen war, unterhalten, und den störenden Radiofunk letztendlich ausgeschaltet hatte.
Deshalb also saßen Margrit und ihre Familie jetzt in der Tinte!
Margrit war voller Furcht und Zorn zugleich. Wie wenig Rücksicht nahmen doch Menschen aufeinander. Die meisten kannten wirklich nur sich selbst. Und wie unvernünftig und dickköpfig. Sie wischte sich den Schweiß - oder sollten das schon wieder Tränen sein ? - vom Gesicht, während sie die nächste Straße, an einer Tankstelle mit eingeschlagenen Scheiben vorbei, überquerte. Alles Wehklagen half ja nun gar nichts mehr. Sie hatte sich, weil sie dem Bus hinterhergerannt war, von der Fußgängerzone mächtig entfernt gehabt.
Defekte, leer geräumte Autos, die manchmal irgendwo inmitten der Straßen standen, sahen sie traurig an, schienen darauf hinweisen zu wollen, dass sich die Menschen einst in einer hochtechnisierten Wohlstandszeit befunden hatten.

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Nach exakt einer halben Stunde hatte Margrit zwar längst sieben weitere Bushaltestellen hinter sich gelassen, aber von einer riesigen Bauruine, geschweige denn einer Lagerhalle war weit und breit nichts zu sehen. Hatte Margrit sich etwa verfranst ? Das fehlte noch. Na, wenigstens schien sie inzwischen vom südlichen Stadtrand weit genug entfernt zu sein, um den ersten Attacken der Hajeps entgehen zu können.
Während Margrit in einem kräftesparenden Tempo weiter trabte versuchte sie sich damit zu trösten, dass das eventuell keine Hajepeinheiten waren, die in diese Stadt gebracht wurden, sondern Menschen, die nur im Dienste der Hajeps standen. Wie waren eigentlich Menschen zu Menschen, wenn sie die zu töten hatten ? Bestimmt nicht viel anders !
Ihr war ziemlich übel bei diesem Gedanken geworden und so versuchte sie, sich nur ganz auf den Weg zu konzentrieren, vernahm den dumpfen Hall ihrer Tritte, wenn sie wieder über den Asphalt einer Straße preschte oder durch Herbstblätter raschelte und schaute manchmal sogar hinauf zu den Baumkronen. Zwei Straßen weiter ertönte auch von Osten her das lebensgefährliche Brummen.
Zu Tode erschrocken hielt sie erst mal inne ohne zu atmen. Landete etwa noch ein Geschwader ? Ihr Herz hämmerte bis hinauf zu den Ohren, pochte dort unangenehm. Nein, bloß nicht, das durfte nicht sein ! Dann gab es ja nur noch eine Fluchtmöglichkeit, und zwar die nach Norden, genau in jene Richtung wohin die Sonde verschwunden war. Aber, vielleicht verhörte sie sich ja auch ? Sie horchte mitten in diesen störenden Hämmerrhythmus ihres Herzens hinein - verdammt, es stimmte !
Man konnte, wenn auch undeutlich, jetzt von dort ein Grollen vernehmen, das stetig lauter wurde. Margrit schluckte, doch der Klos im Halse wurde dicker, verschloss nicht nur die Kehle, sondern schließlich auch beide Ohren, denn die waren mit einem Male zu. Zu ... aus und vorbei ! Sie hörte nichts vor lauter Angst ! Oder geschah dies, weil sonderbare Töne bereits ihr Trommelfell angriffen ? Sie versuchte diesen Klos endlich hinunter zu bekommen, doch der rührte und ruckte sich nicht. Stattdessen flimmerte und blitzte es jetzt vor ihren Augen und ein grauer Schleier nahm ihr mehr und mehr die Sicht. Säuerlicher Geschmack legte sich auf ihre Zunge. Sie hatte plötzlich unsäglichen Durst. Mein Gott, sie hatte ja auch schon unendlich lange kaum mehr etwas getrunken. Vielleicht funktionierte ihr Kreislauf wieder, wenn sie ganz schnell ein paar Kniebeugen machte !
Vögel flogen jetzt komischerweise hektisch auf und schlugen am Himmel verwirrt ihre Kreise, ehe sie wieder in den Bäumen landeten. Hatte auch ihnen der Lärm Angst gemacht ? Oder war das ein schlimmeres Zeichen ?
Nach nur sechs Kniebeugen waren Margrits Ohren, wenn auch pfeifend und dröhnend, endlich wieder frei und sie machte einen Schritt von der Straße auf den Bürgersteig, als könne sie sich dadurch noch vor allem Übel retten und lachte gleichzeitig innerlich über sich selbst. Sie benahm sich heute wirklich zu dämlich ! Aber sie hatte ihre Ohren wieder, das war das Wichtigste !
Das Donnern aus der Ferne ebbte ab und wieder herrschte völlige Ruhe. Also verließen die Außerirdischen wohl auch auf dieser Seite ihre großen Flugschiffe. Was wurde hier wohl wirklich gesucht ? Es musste etwas verdammt Wichtiges sein, dass sie dafür so viele Leute einsetzten ? Vermutlich würden sie nun mit ihren schnellen Lais durch die Stadtviertel sausen. Von welcher Seite konnten die gnadenlosen Killer wohl zuerst bis in diesen Bezirk vordringen ? Es würde die Hajeps wohl etwas Zeit kosten, vom Osten die Häuserblöcke genauestens bis hierher nach Menschen durchzukämmen ... sofern es in diesen Häusern überhaupt noch Menschen gab! Margrit schluckte bei dieser Vorstellung. Aber wenn, dann hatte Margrit möglicherweise doch noch eine Galgenfrist! Denn auch das Töten verlangte ja, so makaber der Gedanke auch war, wenigstens ein bisschen Zeit ! Die Hajeps vom Süden her würden natürlich schneller sein, denn es war schon ein Weilchen her, dass sie dort gelandet waren.
Sie schob jetzt mit gerunzelter Stirn den Ärmel ihres dreckigen, verfransten Hemdes hoch und blickte auf die kostbare Uhr, die ihr Paul damals überlassen hatte : ja, gute vierzig Minuten länger als die Landung der Flotten im Westen. Vom Süden aus würde es also als erstes am Gefährlichsten werden. Wie weit war dieser Bezirk, in dem sie sich nun befand, vom Süden entfernt, wie groß war er eigentlich und wie die übrigen Bezirke hier ? Sie nahm sich Annegrets und Herberts Skizze wohl heute schon zum dritten Mal zur Hilfe. Hätte sie je gedacht, dass sie die so brauchen würde ? Herbert war sehr gründlich gewesen und hatte auch die übrigen Bezirke wenigstens flüchtig angedeutet. Automatisch musste sie wieder an die beiden denken und auch an Dieterchen. Sie war an deren Haus längst vorbei. Die Türen und Fenster hatten dort überall offen gestanden und sie hatte niemanden gehört, geschweige denn dort gesehen. Hoffentlich waren sie rechtzeitig gewarnt und von irgend jemandem mitgenommen worden ! Und dann war Margrit mit ihren Gedanken schon wieder bei Muttsch und den Kindern. Oh, Gott wenn ... nein, sie durfte sich damit nicht mehr fertig machen. Sie brauchte ihre Kraft, ihren Verstand. Bestimmt hatten sie auch längst die junge blonde Mutter ...! Schon wieder so ein Gedanke. Margrit schob auch den mit aller Macht zur Seite. Sie musste jetzt laufen, laufen, laufen. Je eher sie auf ihrem Weg nach Norden zur Stadtmitte kam, um so sicherer würde sie erst einmal vor den Hajeps sein. Darum jagte sie jetzt so schnell wie sie nur konnte an altertümlichen Mietsblöcken, winzigen Grünanlagen, die von Unkraut und Müll überdeckt waren, an öden Parkplätzen, Selbstbedienungsläden mit zerschlagenen Scheiben und oft völlig zerstörten Kneipen und Restaurants vorbei. Und da – endlich – sah sie auch wieder Menschen.
Etliche jagten genauso wild durch die Gegend wie sie, schauten dabei immer wieder prüfend zum Himmel oder blickten angstvoll hinter sich. Es gab auch welche, die fieberhaft damit beschäftigt waren, die Türen und Fenster ihrer Häuser zu verbarrikadieren. Viele waren als Gruppen zusammen geblieben und einige von ihnen ließen sich sogar beim Vorbeilaufen von Margrit ansprechen. So erzählten sie zum Beispiel, dass die Hajeps ziemlich schnell vorrückten und äußerst brutal dabei vorgehen würden und dass es sehr, sehr viele Jimaros wären. Manch einer berichtete Margrit sogar von eigenartigen Rauchwolken, welche die Hajeps zunächst vor sich her durch die Straßen geschickt hätten. Aber dieser Rauch wäre völlig harmlos, man wisse nicht, auf welche Weise er für die Hajeps nützlich sei.
Dann war Margrit doch wieder weiter gelaufen, und dass obwohl man ihr geraten hatte, sich lieber möglichst bald zu verstecken. Schneller und schneller war sie geworden und es zeigte sich, dass es gut war, früher eine Sportlerin gewesen zu sein. Ihr Herz ging schließlich wieder ruhig und ihr Atem war gleichmäßig. Würde sie es schaffen, die riesige Baustelle, die Lagerhallen noch rechtzeitig zu erreichen ?
Doch als Margrit gerade eine Wohngegend erreichte, die einst wohl von betuchteren Menschen belebt worden war, geschah es ... da glaubte sie plötzlich erneutes Getöse zu vernehmen. Sie unterdrückte das heftige Schnaufen ihrer Lungen. Oh Gott, das Grollen kam ziemlich eindeutig aus der Richtung, in die sie gerade lief, nämlich aus dem Norden. Also landeten auch Raumschiffe dort. Peng ! Die Stadt war also entgültig eingekreist ! Feine Geschichte! Margrit blieb stehen, ließ die Arme und den Körper nach vornüber baumeln, um den Kreislauf ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. Was jetzt ?
`Nur einen klaren Kopf behalten !` sagte sie sich, dennoch begann Blitze vor ihren Augen zu zucken und sie drehte sich wie ein gefangenes Tier hilflos um ihre eigene Achse. `Wohin jetzt nur ... WOHIN ?` hämmerte es durch ihren Schädel. Und abermals spürte sie unsäglichen Durst. Sie versuchte sich schließlich nur auf diesen Durst zu konzentrieren, um bloß nicht wieder von diesen schrecklichen Vorstellungen gepeinigt zu sein. Gab es hier eine Wasserpumpe ? Irgendwo draußen an den Häusern müssten doch Wasserhähne sein ! Oder nahm das Suchen danach zu viel Zeit ? Bloß nichts verkehrt machen ! Der seltsame Geschmack im Mund ließ schließlich nach. Ja, einen Plan entwickeln, das ist das einzige, was vielleicht helfen konnte ! Das leise Knacksen in den Ohren gab den Weg zum Handeln wieder frei.
Doch diese Ohren vernahmen nun leider auch noch das zarte, fast lieblich klingende Sausen der Lais aus den südlichen Bezirken hinter sich, die wohl sehr schnell näher kamen. Also hatten die Hajeps die Häuserblöcke dort bereits durchgeforstet und sicher auch getötet, was das Zeug hielt ! Sie konnte nicht verhindern, sich dabei doch all die schreienden, sterbenden Menschen vorzustellen. Nun war es also soweit ! Die Hatz nach Menschenleben würde von jetzt an für Margrit hörbar sein, weil diese nämlich direkt in diesem Bezirk stattfand. Gab es keinen Ausweg mehr ? Sollte die junge Mutter Recht gehabt haben ?
Ach, Unsinn ! So lange Margrit noch zwei Beine hatte um zu laufen, durfte sie nicht aufgeben. Sie musste ganz einfach zurück zu den Hochhäusern von vorhin, dort waren nämlich sehr dicht stehende Mietsblöcke. Schnell in deren Höfe hechten, sich dort verstecken !
Gesagt, getan. Margrit trabte zu einem von diesen und suchte. Wie kam man nur von hier aus auf solch einen Hof ? Wo war der Eingang, der dorthin führte? Zum Beispiel bei diesem Backsteingebäude hier, an dem sie gerade vorbeischlich ? Oder war man durch die Häuser, die meist um solch einen Hof gebaut waren, erst recht eingesperrt und konnte später nicht schnell genug hinaus ?
Sie hörte inzwischen nun auch das leichte, vielfältige Sausen vom Westen her näherkommen, doch das störte sie im Augenblick weniger. Schlimmer war, dass der Lärm aus dem Süden jetzt so laut tönte, dass er sich sogar an den Wänden genau jener Häuserblöcke brach, vor denen sie stand. Margrits Pulsschlag fing schon wieder an ziemlich wild in den Schläfen zu pochen.
Sie lehnte sich gegen eine Laterne und versuchte sich zu erholen, denn immerhin trabte sie ja bereits mehr oder weniger schnell für gute zwei Stunden durch die Stadt. Dabei hatte sie fast pausenlos Haken geschlagen, in der Hoffnung, die Sonde dadurch vielleicht etwas zu irritieren. Blinzelnd suchten die Augen nun die ganze Umgebung nach einem einigermaßen sicheren Weg ab.
Dort, ganz weit vorne, konnte sie etwas ähnliches wie einen Sportplatz, nein, eher Schulhof ausmachen und wo ein Schulhof war, befand sich ja bekanntlicherweise auch ein Schulgebäude. Ja, da musste sie hin, denn das große Gebäude erschienen ihr im Moment am günstigsten, um sich zu verstecken und gleichzeitig noch ein wenig beweglich zu sein.
Nanu ? Der feine Summton der Gleiter hatte jetzt aufgehört ? Liefen die Jimaros hinter ihr etwa inzwischen zu Fuß ?
Ja, so schien es. Plötzlich drangen kaum hörbare Befehle von irgendwo her bis zu ihr hin. Der Wind, der sie ihr zutrug, verzerrte sie zwar etwas, aber dennoch war die eigenartige Sprache, welche Margrit erst kürzlich durch Roberts Funkgerät vernommen hatte, gut vernehmbar.
Margrit erschauerte, oder war ihr nur kalt ? Sie hatte so viele Hajeps noch nie aus solch einer Nähe gehört. Kaum waren die Befehle verklungen, folgten stürmische Antworten aus - erstaunlicherweise wieder sehr heiseren -Männerkehlen. Diese klangen zwar für Margrits Ohren genau wie damals, fremd und seltsam, sehr dunkel und rauh, jedoch hatten sie eine sonderbare Ausstrahlung, die man (Margrit war im Begriff sich für diesem Gedanken zutiefst zu tadeln) irgendwie auch als erotisch bezeichnen konnte. Aber es gab wirklich kein treffenderes Wort dafür ! Wie mochten Männer, die solche Stimmen hatten, wohl erst aussehen ? Margrit errötete. Was war nur plötzlich mit ihr los? Weshalb konnte sie derartige Gefühle trotz dieser großen Lebensgefahr für den größten Feind der Menschheit entwickeln ? Hatte sie denn plötzlich den Verstand verloren ?

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