Die Saga von Jelke Eisenseite
von Carsten Maday

 

Was Thal von der Tarna Silberhaar, dem schwärzlich Ding, hält

>Ihre Augen!<, seufzte Thal. Jelke hatte die ihren geschlossen und sich an die Brust des Freundes gekuschelt. Das ruhige Brummen seiner Stimme hatte den Tod bis auf weiteres verscheucht und machte sie nun schläfrig. Sie seufzte. Sie erinnerte sich, wie Thorgest ihr als kleines, wildes Mädchen an den geliebten Winterabenden Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählte.
>Lass es eine schöne Geschichte sein, ja?<, murmelte sie.
>Ach, gerne Jelke. Ich hoffe es doch auch.
Augen, ja! Brauenseen! Man blickt hinein, verliert sich in der klaren Schönheit, und leicht schmilzt da auch dem Kältesten das gefrorene Herz, wenn seine Seele schmachtend, erheitert über sich selbst auch, lächelt. Was erblickt man nicht alles unter der schimmernden Oberfläche: Die Dinge, die man ersehnt: Liebe, Freundlichkeit, Vertrauen, Zärtlichkeit, Verständnis, Wärme, vieles andre mehr, den Lohn für all das lange Hoffen, eine Zukunft vielleicht und endlich auch, wenn man kühn oder verzweifelt genug ist, der Wunsch in das Wasser einzutauchen und seine Tiefe zu ergründen.
Der Feige, der Sorgengeplagte und Weise wiederum mag anderes erblicken: die Dinge, die man fürchtet, die man ahnt: Den Fels dicht unter der Oberfläche, der einem das Kreuz bricht, wenn man hinein taucht, die Kälte des Wassers, bei der man sich die Eier abfriert, die tödlichen Strudel, die einen in die Tiefe ziehen und endlich das Verlangen, tiefer und tiefer hinab zu tauchen, bis die Luft zur Rückkehr nicht mehr reicht und man nur tiefer und tiefer ins dunkle Nass gleiten kann, bis man in seiner Unauslotbarkeit ertrinkt.
Nun folgen die, die wieder andres sehen: die Verwirrten, Arroganten, die Gebrochenen, die, die hoffen, dass sie sich täuschen, weil es viel zu deprimierend wäre, wenn sie recht hätten, und doch wissen, dass es die traurige Wahrheit ist und dennoch zu hoffen vorgeben, weil ´s letztendlich egal ist und sie nicht besseres zu tun haben: diese nun fürchten, dass, wenn die Luft zur Rückkehr nicht mehr reicht, sie nicht weiter ins bodenlose Dunkel tauchen, sondern nach bereits zwei weiteren kräftigen Zügen auf schlammigen, öden Grund stoßen, der wenig zu bieten hat, außer der schmerzhaften Erkenntnis, dass der Tod, der Preis solches zu sehen, durchaus überteuert war. Das aber fürchten sie nur an den Tagen, da grenzenloser Optimismus sie befällt. An den anderen, den gewöhnlichen, da wissen sie, dass der Grund nur ein paar Meter unter der Oberfläche liegt, nah genug, ihn leicht zu erreichen und sicher wieder umkehren zu können, zu seicht, um interessant zu sein, um hineinspringen zu wollen, es sein denn, es ist sowieso gerade Badetag oder eine Affenhitze.
Wieder andere, die Geplagten, Entnervten und Faulenzer, die mir die Liebsten sind, blicken ins Wasser, fragen sich ob wohl Fische darin sind, zucken mit den Schultern, weil´s egal ist, ob einer beißt, denn der Spaß an der Sache ist, im Liegestuhl zu sitzen mit dem Bier in der einen und der Angel in der anderen Hand, in der Sonne zu dösen, derweil ein laues Lüftchen übers Wasser weht, es sanft kräuselt und man selbst in einen süßen Schlaf gleitet.
Viele andere sind mehr: Solche, die den See meiden, andere, die nie einen fanden, Nudisten, Schwimmer und Nichtschwimmer und viele mehr.
Ich bin sie alle und keiner, ich bin der, der weiß, dass man auf der schimmernden Wasseroberfläche das eine immer vor allem anderen erblickt: das Spiegelbild seiner selbst, durch das stets der Blick in die Tiefe führen muss.
Tarnas Augen sind blind, so tot und öd, wie ich mich wähne. Was immer darin liegen mag, was immer ich erblicke, es ist sie selbst und nicht die Reflexion meiner Hoffnungen und Ängste. In ihren Augen liegt kein Versprechen, keine Enttäuschung, liegt kein Grund, nur das Nichts, das meinen Blick aufsaugt und in MEINEN Augen liest, was tief mir in der Seele liegt, begraben vom Morast meines Lebens, der längst mir schon zu dick, als dass ich ihn noch durchdringen könnte.<
>Sage, Freund Thal, was liegt so tief begraben Dir im Morast?<, fragte Jelke aus der Schläfrigkeit gerissen ob solch betrüblich Rede.
>Das Wrack des Schiffes, dass einst mein Leben trug.<
>Und, Thal, tauchte ein Mensch in deine Wasser und grübe er im Schlamm, was würde er finden?<
>Solches gelänge keinem Menschen.<
>Und doch, du hoffst! Gelänge es doch, was würde er finden? Los, raus damit!<
>Geborstene Planken, moderne Spannten und ein Schild aus Bronze gewirkt mit dem Namen dieses einstmals stolzen Schiffes.<
>Thal, Thal, weh, ich ahn ´s, wie lautet der Name des Schiffes, das vergangen auf dem Grunde liegt im tiefsten Morast?<
>Sein Name war „Mensch“.<
>Scheiße!<, sagte Jelke.
>Aber ehrlich!<, meinte Thal. >Hups, jetzt sind wir aber von Kurs abgekommen, was? Also? Hm, Schiff? Untergehen? Weiber? Ah, da ist´s wieder. Tarna! Sie ist kein Mensch, sie ist im wahrsten Sinne zauberhaft!<
>Dann liebst du wahrhaftig, mein Freund!<, meinte Jelke mit sanften Lächeln in der Stimme, welches oft von Zuneigung oder großer Müdigkeit auf die Lippen gezaubert wird.
Thal aber wurde nun erst recht verzweifelt:
>Was soll das für eine Liebe sein? Bei all dem, was ich für sie empfinde, reicht doch nur ein Gedanke an mein verstorbenes Weib, um das Bisschen Lebenswillen, das in mir ist, zu töten. Dann raubt mir die Liebe zu ihr den Atem, dann ertrinke ich in meiner Verzweiflung und ich kann nicht anders, als mich zu hassen, weil ich sie verloren habe. Also nicht an sie denken? Ach, ich hab mich nie von ihr lösen können. Sie lebt doch fort in mir, sie ist in meinen Erinnerungen. Nicht an sie zu denken, wäre als töte ich sie ein zweites Mal. Was ist schon die Seelenqual, die ich erleide? Doch nur ein geringer Preis, wenn der Weg zu ihr durch meine Erinnerungen führt und sie lebt. Ist´s nicht ein zwiefach Verbrechen sich nach einem anderen zu sehen? Entehre ich nicht das Andenken an die, die ich mehr als mein Leben liebe und doch zu wenig? Und die, die ich zu lieben können mir wünscht? Betrüge ich sie nicht mit einer Toten, der Leben zu schenken ich alles opfern würde?<
>Mir ist, Freund Thal, als entsinne ich mich eines Traumes, längst geträumt in glücklicheren Zeiten. Darin es sprach ein Mann zu mir, gab mir guten Rat!<
Und Thal:
>Wichtig ist´s Träumen zu lauschen. Götter sprechen darin.<
Und Jelke:
>Von Göttern weiß ich wenig und will noch weniger von ihnen hören! Sicher ist, dass Wichtiges in Träumen liegen mag. Der Mann, einem lieben Freunde nicht unähnlich, sprach von Waagschalen, gefüllt von Hoffnung und Angst auch, gleichgewichtig. Nicht unweise sein Rat, derweil unendlich schwer zu folgen: sein Leben nicht im hadrigen Zustande zu fristen in Hoffen wie im Bangen, weil nie sich senkt oder steigt die eine noch die andere Seite. Mutig entscheide man sich für die eine oder andre, dass dem elenden Hadern man entrinne und endlich fort lebt, sei´s in die eine oder andere Richtung!<
Und Thal, frustender Dings:
>Toller Rat. Der Kerl muss ja rechter Klugscheißer gewesen sein!<
>Ähm? Wie? Nun ja, er liebte es wohl nicht wenig zu reden, oder wie?<
>Zweifelhafter Charakterzug, sag ich da!<
>Tja, wie dem auch sei! Unwahr war´s nicht! Wählen muss du! Lebe in Gedanken, doch den Tod besiegst du nicht. Oder liebe die Lebende. Und birgst du tief noch die andere, was soll´s? Musst du ihr ja nicht auf die Nase binden. Gedanken sind frei!<
>Ha, Gedanken sind frei! Hast du die Weisheit auch von dem Kerl? Frei mögen sie sein, doch sie machen nicht frei.<
>Wählen muss du doch!<
>Und hab´s schon längst getan! Ich bin Thal aus Munz! Wer will sagen, ich könne den Tod nicht besiegen?<

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