Die Saga von Jelke Eisenseite
von Carsten Maday

 

Wie die Wikinger fliehen

Jelke spürte einige sanfte Schläge auf den Wangen. Eine beruhigende Stimme forderte sie auf aufzuwachen. >Ach, noch einen kleinen Augenblick!<, säuselte sie. Ein etwas härterer Klaps brachte sie zurück. Sie riss die Augen auf, starrte in das einäugige Gesicht des Thal. Erschrocken schrie sie, strampelte mit den Beinen, um fort von dem Unhold zu kommen. Dann wurde ihr bewusst, wo sie war. Auf dem Schlachtfeld, umgeben von den Kameraden. Und Thal, der vor ihr kniete. Sein Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck angenommen, als Jelke versuchte von ihm wegzurücken. Jelke schämte sich. Im ersten Augenblick hatte sie den unheimlichen Berserker über sich geglaubt, der die morden wollte. Nun aber sah sie, dass es wieder der Thal war, den die kannte. Ein müder, ausgezerrter Mann mit leerem Blick. Sie wollte sich entschuldigen, fragte dann nur aber was geschehen war.
Koll hatte die Männer angetrieben und war mit ihnen zum Thal geeilt. Sie hatten ihm das Schwert aus dem Schenkel gezogen und die Wunde verbunden. Die war nicht schrecklich, denn die Albe hatte nicht den Knochen getroffen, sondern lediglich das Fleisch an der Innenseite.
Von überall her erklangen die Geräusche der fliehenden Lormyrer, aber so weit Jelke sehen konnte, war es feindfrei. Das war allerdings nicht sonderlich weit, denn das Schneetreiben hielt an.
Thal sprach nicht. Sein Mund zitterte und er sah so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Neben ihm steckte die schwarze Albenklinge. Die Männer sahen ihn abwartend an.
>Thal?<, fragte Koll und musste ihn noch dreimal beim Namen rufen, ehe der eine Reaktion zeigte.
>Thal, was nun?< Das war eine gute Frage, dacht die Eisenseite. Was nun? Und was ist mit mir? Die Schulter schmerzte nicht mehr, sie war wie betäubt und fühlte sich kalt an. Keinen Schritt schaffe ich, dachte die Jelke.
Thal erhob sich, besah sich das kleine Häuflein Männer, das einen guten Rat von ihm erwartete. Mit schwacher Stimme sagte er:
>Wir trennen uns! Nehmt Grettir (den Verwundeten)! Ihr seid genug, um Euch beim Tragen abzuwechseln und gut voran zu kommen. Wenn ihr es in die Berge schafft, gibt es vielleicht Hoffnung.<
>Hm<, machte Koll. >Wenn wir nicht erfrieren!<
>Dann stehlt den Toten die Mäntel. Die brauchen sie ja nicht mehr. Aber sputet Euch, denn ich glaube, wir werden hier nicht allzu lange ungestört bleiben. Schwerlich wird der Toste ruhen, ehe er unsere spitzzüngige Freundin hier erwischt hat.<
Da stimmten ihm die Gefährten bei und meinten, das schiene ihnen ebenso, da die Jelke eine außerordentlich spitzige Zunge habe.
>He...!<, protestierte Jelke schwach. Niemand beachtete sie. >Toll!<
>Und du?<, fragte Koll.
>Ich nehme Jelke! Halt! Kein Wort! Ich gebiete es! Weit werden wir nicht kommen, weit darf sie auch nicht getragen werden.<
>Das ist Euer Tod!<
>Wenn schert´s?<, sagte Thal.
>Moment mal! Mich!<, sagte Jelke.
>Alles klar?<, fragte Thal. >Gut, dann macht, dass ihr wegkommt!<
Man reichte sich männlich die Hände, strich der Jelke zum Abschied übers Haupt. Dann waren die Gefährten fort und Thal und Jelke allein.
>Großartiger Plan!<, sagte Jelke.
Thal zog sich mit den Zähnen den Panzerhandschuh aus. Dann beugte er sich zu seinen Schwert und begab an den Lederriemen des Griffes zu fingern. Ein kleiner Silberring blinkte an seiner Hand auf.
>Hast du einen besseren?<, sagte er, blickte Jelke kurz an, ehe er sich wieder seiner Arbeit widmete.
>Ja, hab´ ich!<, sagte Jelke bissig. >Lass´ mich einfach zurück! Ich schaffe es eh´ nicht.<
>Buweishanshenau...<, sagte Thal, als er versuchte mit den Zähnen einen Knoten zu lösen, was zugleich schwierig und ohne Stiftzahn recht schmerzhaft war.
>Wie meinen?<
Thal unterbrach sein Werk:
>Ich sagte, als Einhändiger ist es verdammt schwer, einen Knoten aufzubekommen. Nein, ich meinte, dass du ganz genau weißt, dass ich das nicht tun kann! Außerdem bekommen wir Besuch.<
Durchs weiße Treiben hörte man Waffengeklirr, dass den Hang hinauf kam. Ein zorniger Ruf des lormyrischen Thronerben erklang, als er Jelke und das Wetter verfluchte.
>Sch...ande!<, sagte Jelke. >Du hast recht! Gut, ich bin erwachsen genug, um dir zu gestehen, dass ich lieber langsam an Wundbrand eingehen will, als dem in die Hände zu fallen.<
>Mawitte.Nabischnochnesagt! Offen! Endlich! Was knotet die denn auch wie ´ne Blöde!<, fluchte Thal, rollte die Riemen ab und brachte etwas zum Vorschein, dass er der Dramatik halber verbarg und mit dem Rücken zur Thorgesttochter studierte.
>Was hast´n da?<, fragte die Neugierige.
Thal drehte sich triumphierend um und warf der Thorgesttochter ein Stück Pergament zu. Erstaunt besah sie es sich, erkannte einige Striche, die grob eine Karte ergaben, geschmückt mit seltsamen Zeichen.
>Äh<, machte sie angeekelt. >Sind das etwas diese Buchstaben?<
>Jap! Kannste nicht lesen, wie?<
>`Ne! Normale Leute benutzen ja auch Runen, nicht so´n neumodischen Schweinkram! Was steht denn da?<
>Dass wir zum Pass müssen, Jelke Eisenseite.< Er nahm die Karte wieder an sich, barg sie in seinem Beutel und kniete sich dann neben die Thorgesttochter.
>So, bist Du bereit?<
Jelke nickte. >Eine Frage hab´ ich aber noch.<
>So?<, machte Thal, als er seine Arme unter die Thorgesttochter schob.
>Ja! Wo bitte schön hast du dein Schwert eigentlich verloren, hä?<
Da Jelke vor Schmerzen wieder das Bewusstsein verlor, als Thal sie aufhob, fühlte sich der Mann aus Munz nicht verpflichtet zu antworten. Mit der Jelke Thorgesttochter, der geborstenen Eisenseite, verschwand er in der Wand aus Schnee.

Nicht viel später gelangte der Toste an die Stelle und zwang trotz des Wetters seine Mannen dazu, jede Leiche umzudrehen und zu sehen, ob nicht vielleicht die Jelke darunter war. Viel Hoffnung hatte er nicht, denn er ahnte, dass die Thorgesttochter unter einem besonders unverdienten Schutzgott stand. Das Wetter nun hatte auch endlich seinen Zorn gekühlt und Toste ging müde und niedergeschlagen ins lormyrisch Lager zurück.
So bald es das Wetter zuließ, wollte er dann Reiter aussenden, welche die Gegend nach der Thorgesttochter absuchen sollten. Um sicher zu sein, konnte er auch noch jeden Hafen von Lormyr bis Hre absperren lassen. Und um ganz, ganz sicher zu gehen, wollte er den Göttern das versprochene Opfer bringen, obwohl sie ihn enttäuscht hatten. Toste zuckte mit den Schultern. Na ja, man konnte ja nie wissen.

Seinen Mannen aber wurde sein Befehl bald mühsam, denn der Schnee fiel immer stärker und begrub das Schlachtfeld gnädig unter sich. Und hätte man nicht hier und da die Schreie der Verwundeten gehört, hätte man glauben können, es gäbe keine friedlicheren Ort, als dieses schneebedeckte Tal.

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