Die Saga von Jelke Eisenseite
von Carsten Maday

 

Jællen Thorgesttochter

Der Regen vermischte sich mit dem Schweiß, der ihr in Strömen vom Leib herab rann. Bereits der Marsch zu Barriere war anstrengend gewesen, aber nun, auf der anderen Seite, zerrte jeder Schritt den Hügel hinab mehr und mehr an ihren Kräften. Jællen spürte das Gewicht ihres Kettenhemdes, den widerlichen Schlamm, der an ihren Stiefel sog und sie nur widerwillig freigab, um sie kurz darauf erneut zu schlucken. Immer wieder glitt sie aus und bemerkte, wie sich ihr Geist von ihrem Körper zu lösen begann, um ihm die Strapazen erträglicher zu machen. Sie wehrte sich dagegen, taumelte vorwärts, zwang sich, die Umgebung wieder wahrzunehmen, sah die Toten und die, die sich bald zu ihnen zu gesellen hatten. Sie war hartes Marschieren gewohnt, aber als sie sah, wie klein die Strecke, die sie zurückgelegt und wie lang die, die sie noch zu gehen hatten, war, hätte sie laut heulten können. Sie sah ihre Männer: die Belger waren zwar viel leichter gepanzert, als die Jovener, aber die o-beinigen, rossegewohnten Kerle taugten nur wenig zu solchem Unterfangen. Sie sah muskelbepackte Hünen erschöpft im Schlamm ausgleiten und den Hügel wieder hinabrutschen, bis der Körper eines Toten oder der einen Kameraden sie stoppte. Sie sah hochrote Gesichter unter blonden Schnurrbärten, die vor Anstrengung zu bersten schienen. Den Legionären erging es nicht besser. Das war längst keine Schlachtreihe mehr, sondern ein heilloses Durcheinander von Soldaten, die verzweifelt ihre genagelten Stiefel in den Schlamm traten und vorwärts krochen, von Männern, die strauchelten und das pilum in die Erde rammten, um nicht durch die hinteren Reihen zu schlittern und alles mit sich zu reißen. Der Helm drückte die Jællen und bei jedem Schritt pochte es wild und schmerzhaft hinter ihren Schläfen. Noch waren die Soldaten zu sehr mit dem Aufstieg beschäftigt, aber wenn sie erst auf Wurfweite heran und den Feind riechen konnten, würde die Angst sie packen, und in ihrem Zustand würde es nicht viel brauchen, um alle, Veteranen wie Frischlinge, in eine kopflose Flucht zu stürzen.
Vor ihr sank ein Mann und krallte sich mit den Händen im Schlamm fest. Sie sah, wie sich sein breiter Rücken wild auf und ab bewegte. Einige andere gingen ihm müde aus dem Weg, stiegen über Tote hinweg, die besseren Halt gaben.
Jællen packte den Mann am Nacken, drehte sein Gesicht zu ihr. Erschöpfte, mutlose Augen. Sie kannte ihn, Gerlan, oder so, mit starken, goldberingten Armen, die nun Schlamm bedeckt waren.
>Auf<, brüllte sie ihm in Gesicht, dass ihn ihr Speichel traf, >Packt Dich, du missratendes Stück Scheiße, oder ich prügle dich den Hügel hinauf!<
Stolz flackerte in seinen Augen auf und Jællen trat den Mann hart in die Seite. Mühsam erhob sich Gerlan, stapfte trotzig weiter, dass Jællen Mühe hatte, hinterher zu kommen. Zustimmendes Gemurmel von den anderen. Den nächsten würde sie töten müssen.

Es regnete stärker. Die tausend Mann zogen sich über eine Länge von hundert Metern den Hügel hinauf. Legionäre und Belger hatten sich vermischt. >Aufschließen<, hörte sie Jason brüllen, >Legionäre vor!< An Halten und Warten war nicht zu denken. Wenn die Männer erst standen, wären sie nicht mehr in Gang zu setzten, denn sie kamen heran und die Furcht machte die vorderen bald mehr schwitzen, als die Anstrengung. Jællen hörte sich selbst Befehle brüllen: Vorwärts, ihr Hunde! Auf ihr Lutscher! He, Thoma, warum so lahm, he, wenn´s ins Hurenhaus geht, bist du doch immer der erste! Eine Sprache, die die Männer liebten, teils drohend, teils lobend, immer aber unflätig, eine Sprache, die Jællen seit Jahren zu sprechen verstand und doch nie die ihre wurde und ihr nun dazu diente, ihren Geist aus den Erinnerungen zu reißen. Sie stolperte weiter, wich Leichen aus so gut es ging, dachte an Jason, wie sie heute gefrühstückt hatten: Käse, harten Käse und trockenes Brot, denn „die Arschbacken zusammenkneifen“ kam nicht von ungefähr. Im Laufe der Jahre hatte sie schon viele Frischlinge sich in die Hosen machen sehen, aber auch manchen von den Alten Hasen. Und die Klügeren verspotteten sie nicht, da es jeden treffen konnte. Aus einer Laune heraus, hatte sie Jason von der Nacht, von ihrer Schwester erzählt. Warum? Vertraute sie ihm? Wie keinem zweitem! Sie kannte ihm kaum, aber sie fühlte, dass sie ihm trauen konnte, und das Gefühl vor der Schlacht wog schwerer als eine jahrelange Freundschaft. Wollte sie ihr Gewissen erleichtern? Viele taten es vor einer Schlacht, gestanden Ungeheuerliches, aber Jællen wusste, dass es nicht die Furcht war, sein Leben in Sünde zu beenden, sondern ein nie ausgesprochener Aberglaube, dass der Geständige mit dem Leben belohnt, der Ungeständige aber mit dem Tode bestraft wird. Jællen schämte sich nicht wenig, als sie spürte, wie erleichtert sie war alles gebeichtet zu haben. Jason gewährte ihr lächelnd den ersehnten Dispens und meinte nur, dass Blut dicker als Wasser und es für den Legaten wohl auch so am besten sei.
Vorne ging es nun langsamer und sie sah den Hünenleib des Centurios neben dem Helmbusch des Lollius. Ein wenig rückten die Nachzügler auf. Weiter, weiter, ihr belgrischen Kinderschänder! He, Johannes, lass deinen Schild nicht fallen, wirst ihn schon noch brauchen, wart´s nur mal ab! Weiter, Männer! Jællen konnte bereits einzelne Gesichter der Seeschäumer erkennen, die über ihr auf den Hügel standen. Sie ertappte sich, wie sie die Reihe nach ihrer Schwester absuchte und als sie die Gesichter musterte, erinnerte sie sich, wie sie einmal eine Stadt belagerten.
Sturmangriff! Sturmleitern vor und rauf. Links, rechts fielen Männer von den Leitern, die ein Pfeil oder ein Stein getroffen hatte. Zappelnd stürzten sie in die Tiefe, zerschmetterten auf den Felsen oder erschlugen ihre Kameraden unten. Der Mann vor ihr sank zusammen und glitt die Leiter hinab. Mit Mühen konnte Jællen ihn beiseite stoßen, ehe er sie mit sich reißen konnte. Sie blickte ihm nach, als er gellend fiel und Soldaten am Fuß der Leiter begrub. Als sie wieder nach oben sah, blickte sie in das behelmte Gesicht eines Mannes, ein Gesicht, wie eines der Männer auf den Hügel. Seine Hände, die den Felsblock geworfen hatten, hingen noch über der Brüstung, als sich ihre Blicke kreuzten. Sie sahen sich eine endlose Sekunde in die Augen. Dann schrie Jællen und der Mann machte den Fehler sich nach einem weiteren Stein zu beugen. Sie schnellte sie Sprossen hinauf und stieß dem Mann den Dolch unter der Kehle in den Rachen, als er schon den Stein zum Wurf erhoben hatte. Der Stein viel hinter ihren Rücken auf den Mann unter ihr und zerschmetterte sein Haupt. Sie schaffte es auf die Mauer, tötete, bis die anderen ihr folgten und die Sache ging so aus, dass sie als erste die Mauer erklommen hatte und die corona muralis erhielt. So machte man Karriere.
Bald waren sie auf Wurfweite heran. Schwerter ´raus! Die eigene Hand war kraftlos und zitterte, als sie die Waffe griff. Sie fühlte sich schwach, fast angenehm kraftlos.
ZIRR! Ein Mann, keine fünf Schritt von ihr, taumelte und blickte auf seine Brust. Ein Pfeil stak darin. Er kippte um. ZIRR, ZIRR! Bogenschützen, rief einer und die Männer fielen ein! Bogenschützen! Die Männer stockten im Vormarsch. Jason bellte, Jællen hörte den Lollius schreien. ZIRR, ZIRR! Die Männer hoben die Schilde. Jelke blickte erstarrt auf den Toten und sein Gesicht. Es erinnerte sie an jemanden, nein, es rief nur eine Erinnerung hervor, die Jællen in den unpassendsten Situationen heimsuchte: Beim Aufwachen, auf Wache, sogar auf der Latrine, immer wenn sie allein war.
Marco oder Marcus, na wie auch immer er hieß. Irgendein Sommer an irgendeinem See. Unwichtig. Sie schwimmen, lieben sich im Gras und danach liegt sie, die Beine über Kreuz, die Arme hinterm Nacken verschränkt, nackt auf einer Wiese. Sie schließt die Augen, spürt, wie die Sonne ihren Körper streichelte. Irgendwann öffnet sie die Augen. War sie eingenickt? Sie dreht sich zu ihm. Er ist nackt wie sie, hat den Kopf auf dem Arm gestützt, beobachtet sie und kaut genüsslich auf einem Grashalm, der langsam von Mundwinkel zu Mundwinkel wandert, auf und ab wankt und nicht ganz zufällig hier und da ihre Brust berührt. Sie lehnt sich zurück, stößt wohlig den Atem aus und genießt die Berührung des Grashalmes. Er fiel in irgendeiner Schlacht, irgendwann. Wenn ich mich doch nur an sein Gesicht erinnern könnte! Die ganze Erinnerung liegt in diesem Bild, dem Grashalm der in der Sonne langsam auf und ab wandert.
Vielleicht sind meine Nerven einfach nicht mehr die besten, dachte sie verwirrt, sah die Männer, die im Vormarsch innehielten. Vorwärts, weiter ihr Trollköppe! Natürlich ham´se noch´n paar Pfeile! Aber nicht mehr viele, wartet´s nur ab! Einige bekamen einen Treffer. Wenn ich nur nicht auf Jelke treffe, dachte sie. Dann waren sie auf Wurfweite heran.

Das pilum war eine furchtbare Waffe. Von geübter Hand auf kurze Distanz geschleudert, konnte der schwere Wurfspieß leicht Schild und Brünne durchschlagen. Die Spitze war lediglich durch einen Bolzen am Schaft befestigt, der beim Aufschlag brach und es so dem Feind verwehrte, die Waffe gegen ihren Besitzer zu verwenden. Ein Befehl gellte, der signifer hob die Standarte, die Männer holten aus. Ein Pilumhagel sollte die Reihen der Feinde brechen, sie mürbe machen, damit der gladius lediglich den Rest niederzumachen hatte. Eine erprobte und wirkungsvolle Taktik, Jællen hatte es oft genug gesehen. Das Problem war nur, man konnte mit einer knappen Kohorte wenig gegen fünfhundert Mann ausrichten, zumal sich viele der Legionäre beim Versuch sich mit dem pilum gegen das Herabrutschen zu wehren die Waffe zu Schanden gemacht hatten. Eine Bresche in die Mauer aus Fleisch schlagen und durch, ehe die Seeschäumer sie wieder schließen konnten. Wurf! Keine hundert stiegen auf, viele Legionären verloren das Gleichgewicht, rutschen im Schlamm aus, stürzten, blockierten den Weg, an Nachsetzen nicht zu denken. Selbst Jason geriet in Straucheln.
Die Wurfgeschosse sanken, Männer schrieen, als das Eisen klaffende Wunden in ihr Fleisch biss. Einige fielen. Einer stürzte mit durchbohrtem Schenkel vorne über, glitt hinab, mitten unter die Legionäre, eine blutige Spur nach sich ziehend. >Ran! Ran! Impetuuuuuuuuuuus!<, schrie vorn der Lollius.
Jællens Gedärm verkrampfte sich, die Knöchel der Hand spannten sich weiß um den Schwertgriff.
Ran! Ran! Raaaaaaannn!, schrie sie, Raaannn! Laufschritt! Vorwääärts! Unmöglich! Die Hälfte der Belger verlor den Halt und die Legionäre gewannen keine zwei Schritt, ehe die Seekrieger ihre Reihe geschlossen hatten. Drei Schritt, die Männer sahen, rochen einander. Jællen setzte sich mit einigen Belgern an den linken Flügel, sah ihren Feldherrn, der bleich wie der Tod auf die Feinde vor ihm starrte. Jællens Scham verschwand, als sie sah, dass es dem Lollius nicht besser erging als ihr.
Ein Mann schlug. Sie schrägte den Schild, der Schlag glitt zur Seite. Sie hieb nach ihm, ihre Klinge fraß sich durch seinen Schenkel, blieb im Knochen stecken. In Jællen Thorgesttochters Adern brannte wieder das heiße Blut, das sie verzehrte.

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