Die Saga von Jelke Eisenseite
von Carsten Maday

 

Was Jelke träumt

Sie schlug die Augen auf und blickte in einen klaren, sternenbehangenen Himmel. Ein aufgeblähter Mond stand hoch am Firmament. Jelke schauderte, denn sie dachte an den Weg mit Thal übers Leichenfeld, den eben dieser Mond die letzte Nacht beschienen... Die letzt Nacht? Sie wusste es nicht mehr. Je stärker sie versuchte sich an die Geschehnisse zu entsinnen, desto mehr entglitten sie ihr, bis sie dachte, das alles, die Schlacht, Thal und Lollius müsse vor einer Ewigkeit gewesen sein. Weiter wich die Erinnerung, bis sie nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen konnte, ob sie je wirklich so etwas erlebt hatte.
>Ach!<, seufzte sie. >Lollius!< Wasser sammelte sich in ihren Augen. Sie lag ausgestreckt auf dem Boden im weichen, trockenen Gras. Als sie sich aufsetzte, da gossen ihre Augen eine Träne aus, der Jelke erlaubte über die Wange zu kullern, ehe sie sie fortwischte. Es schüttelte sie. Sie hörte, wie sie langsam den Atem ausstieß und eine wohltuende Entspannung sich in ihr breit machte. Lollius! Sie lachte zart, wie wenn ein alter Mann an seine erste Liebe denkt und noch einmal Feuer in die Augen kommt, seine Seele die Welt umarmen will, das Blut ihm heiß ins Gemächt fährt und er zu sterben wüscht in diesem glückvollen Augenblick.
Der Tod war Jelkes Geschäft und sie wusste, dass es nur wenigen vergönnt war, im Glück zu sterben. Als sich die Thorgesttochter erhob, da war das Gefühl bereits verflogen und sie sah die Eiche wie vor langer, langer Zeit vom rotgelben Schein des Feuers in ein seltsames Leben getaucht. Sie rannte eifrig darauf los, denn wünschte sich, der Thal sei dort.

Und wirklich, am Lagerfeuer saß der Mann aus Munz auf einem Baumstamm. Das dunkle Haupt hielt er gesenkt. Als die Thorgesttochter näher trat, hob er den Blick und der Schein des Feuers vertrieb die düsteren Schatten aus seinem Antlitz. Nur wo einst sein Aug´, dort wich das Dunkel nicht.
Die stumpfige Rechte lag auf seinem Schoß, die gepanzerte Linke auf dem Knauf des schwarzen Schwertes, das vor ihm in der Erde steckte.
Nun wusste die Jelke, dass dies nicht der Thal war. Der hatte ja sei Schwert verloren.
Ein Lächeln fuhr durch seine narbigen Züge, als er die Jelke ansprach:
>Verdammt! Hab´ ich mich wohl verraten, was? Nein, ich bin nicht Thal, zumindest nicht der wirkliche, nur sein Abbild, dass du im Traume ersonnen. Vielleicht solltest du etwas genauer träumen! Nein, nein, schon recht so, denn dies Schwert ist ein Teil von ihm.<
Er bedeutete der Thorgesttochter sich zu setzen. Dann zog er wieder einen Weinschlauch hervor, reichte ihn der Jelke, die gierig von dem rotem Saft trank.
>Heute habe ich nur einen Schlauch! Wenn er leer ist, musst du gehen!<
Jelke sah ihn fragend an. >Warum, Freund? Gern würde ich länger mit dir sitzen, denn hier ist´s friedlicher, als meine Seele es je gesehen. Nein, ich ahne´s ja, ich bin am Scheideweg angelangt! Sage, werde ich leben, oder führst du mich in den Tod, das dunkle Nichts? Wohin, Freund?<
Der zwinkerte neckisch mit dem heilen Auge und meinte:
>Zum Leben meine ich! Ich wäre auch etwas enttäuscht, wenn du mein Bild dir erwählst, das dich in den Tod schicken soll! Oder würdest du deinen Freund auf die andere Seite führen wollen?<
Jelke schüttelte ihr Haupt, nahm einen tiefen Zug aus dem Schlauch, obwohl sie es nicht wollte. Sie sah des Thals trauriges Nicken nicht.
Als sie absetzte, merkte sie zu ihrem Erstaunen, dass sie den Schlauch bereits zur Hälfte geleert.
Sie reichte ihn dem Thal, der ablehnte und meinte, den müsse sie ganz alleine neigen.
>Gut!<, sagte Jelke grimmig. >Dann rede schnell, denn ein seltsamer Durst hat mich befallen!<
Widerwillig nahm sie noch einen Schluck, wartete, dass ihr Freund etwas sagte. Der Mann aus Munz aber hüllte sich in Schweigen. Erst als sie einen weiteren Schluck getan, sagte er:
>Jelke Eisenseite, Tochter des Thorgest! Du bist eine besondere Frau!<
>Schönen Dank!<
>Keine Ursache! Mal unseren geliebten Spaß bei Seite. Fühlst du nicht selbst, dass du etwas besonderes, etwas anderes bist?<
Sie nickte leicht, errötete etwas, denn der Thal rührte an ein Wissen, das tief in ihr lag, bewusst, allgegenwärtig und das nur die Scheu vorm Übermute in ihr zurückhielt.
>Und doch bin ich eine Kriegerin, wie alle anderen!<, meinte sie.
>Ja, Jelke, und keine schlechte will mir scheinen! Viel hast du gesehen, viel erlebt.<
>Zuviel, Freund Thal!<
>Ja, wir beide! Ist dein Gemüt nicht streitbar?<
>Ja, man sagt so. Andere fanden schlimmere Worte.<
>Und dein Herz?<
>Erkaltet. Tot von als den Gräuel, die ich getan und auch erlitten!<
>Dein Leben?<
>Was fragst du, Freund? Du weißt es besser doch als jeder and´re! Ziel- und haltlos leben wir für´s Leben selbst.<
Thal sah die Jelke durchdringend an. Die spürte, wie es ihr den Rücken kalt hinunter lief, nicht von dem Blick des einen Auges, wohl von der Furcht der nächsten Worte:
>Und doch...<, sagte Thal.
Erregt schoss Jelke in die Höhe, stemmte die Fäuste in die Hüften und funkelte den Thal an:
>Und doch! Und doch? Freund, was habe ich Dir getan, dass du mit diesen beiden Worten in mich dringst? Und doch? Und doch? Willst du wirklich, dass ich die letzte Illusion vernichte und an dem einen Zweifel rühre?<
Mächtig wölbte sich ihre Brust, denn ganz erregt was sie nun. Sie sah auf den Freund herab, dann wich die hitzige Wut aus ihr, wie wenn einer eine Türe öffnet und die kalte Luft ins Zimmer schießt, die Kerze zum verlöschen bringt und es dunkel wird. Sie sank zurück neben den Thal, barg erschöpft das Haupt in den Händen. >Verzeih, Freund<, sagte sie leise. >Es ist nicht deine Schuld! Du bist ja nur ein Traum, ein wahrer Alpdruck, wie´s mich dünkt! Da ist die Tür, die Du mir aufgestoßen! Muss ich, soll ich wirklich hindurch? Und doch? Und doch? Noch einen Schluck, dann will ich´s wagen!<
Sie trank und trank. Viel war bald nicht mehr in dem Schlauch.
>Auf nun! Ich will´s wagen. Und doch? Und doch! Ich leb´ in einer allzu blut´gen Zeit und der Krieg ist mein Handwerk, mein Leben. So ist die Welt, so bin ich. Und doch, oh weh, ekelt es mich an. Ja, meine Taten lassen mir keine Ruh´, halten mich Nachts wach. All die Schrecken, die ich erlebt, lasten mir auf der Seele. Und doch? Und doch lebe ich so fort, und ändere nichts. Mein Gemüt ist streitsüchtig, und doch sehne ich mich nach Frieden. Mein Herz ist kalt, und doch ertrinke ich in der wenigen Güte, die nicht aus mir weichen will.
Ich lebe für mich, hoffe nicht. Und doch ist da der Name! Lollius! Hoffe ich nicht auf ihn? Liebe?
Und doch? Ist´s nicht der letzte Hauch von Hoffnung, der mich mein Leben weiter leben lässt? Ist das wirklich Liebe, oder klammer ich mich nur an diese Illusion, wie ein Ertrinkender sich an den Mast des Schiffes, das längst unter ihm zerborsten, um nicht unterzugehen? Ich treibe übers Meer. Nirgendwo liegt Land! Und doch klammere ich mich an den Mast und hoffe, er könne mich doch zu Gestaden tragen, die es nicht gibt! Verlängere ich nicht meine Qual? Warum lasse ich nicht ab und schwimme fort, bis meine Kraft mich verlässt und ich ertrinke? Ich glaube nicht an Errettung! Und doch lässt mich allein die Vorstellung, der geborstene Mast könne noch an Land geschwemmt werden, während ich schon lange auf dem Grund des Meeres liege, mich die Finger nicht von ihm lösen!
Mir ist, als stehe ich vor einer Waage mit zwei gleich schweren Gewichten. Gegen jede Vernunft wünsch ich mir, die eine Seite würde sinken und erwarte doch, die andere würde es tun. Dabei weiß ich´s doch genau: keine von beiden wird sich bewegen. Und doch hoffe und fürchte ich weiter!<
>So ist das Leben!<, sagte Thal da.
Jelke sah auf. Tränen rannen ihr über die Wangen:
>So ist das Leben? Toll! Ist das etwa die ganze Weisheit, die du mir mitzuteilen hast? Hätte eigentlich etwas mehr erwartet!<
>Du zweifelst an dem Zweifel selbst!<, meinte Einhand.
>Womit du meinen Monolog prima zusammenfasst! Aber warum ist das so? Haben andere es nicht leichter?<
>Vielleicht. Aber du bist ein Mensch! Vielleicht kein guter, vielleicht kein schlechter, aber ein Mensch! Und das ist mehr als so manch einer von sich behaupten kann!<
>Zuviel der Ehre!<, sagte Jelke bissig.
>Nein, ich hoffe nicht. Die Kraft dazu ist in dir. Liegt im ewigen Zweifeln nicht die Gewissheit, dass alles ungewiss ist? Schöpfe daraus Kraft! Nein, die Waage wird auch dann sich nicht neigen. Aber Du kannst dich für eine Seite entscheiden! Der Zweifel wird einschlafen, aber nie vergehen. Das ist gut so, das hält wachsam! Vielleicht macht es auch das Erleben intensiver!<
Thal betrachtete die Freundin, die den Schlauch erneut an die Lippen führte.
>Und er?<, fragte sie, als sie getrunken hatte. >Liebe ich ihn? Ich liebe ihn. Ach, so leicht ist´s zu sagen, so leicht es zu glauben, doch schwelt der Zweifel tief in mir. Doch rufe ich Nein, laut, bestimmt, so fürcht ich, ich belüge nur mich selbst! Und unter dieser Lüge die nächste und so fort bis in alle Ewigkeit. Darf ich denn keine Gewissheit haben, außer dieser, dass es keine gibt? Sind denn die anderen Narren, die den eignen Worten glauben, oder bin nur ich verflucht? Ach, ich verzehre mich nach Sicherheit! Und auch nach ihm, doch lässt gerade meine Sehnsucht mich hüten vor solch Sicherheit, die wohl nur hohler Schein, weil allzu sehr ersehnt. Scheiß Dilemma, sage ich! Ich würde die Liebe nicht erkennen und tät sie mir mitten ins Gesicht schlagen!<
Sie sah den Freund an, legte ihre Hand auf die seine und sagte:
>Ach, Thal! Weh, du bist es nicht! Besser ist´s vielleicht, denn wer hört ja schon auf Freundes Rat in solch Dingen? Nur auf sein Herz hört man, und damit ist man stets schlecht beraten. Nun Herz, sprich, denn ich will dir Glauben schenken, kommst du doch in Gestalt des Mannes, den ich lieb gewonnen in dieser kurzen Zeit.
Sprich, weißt du keinen Rat? Wie soll die Liebe sein, dass ich ihrer sicher sein kann?<
Da schenkte ihr der Thal einen Blick und erhob sich. Er trat ans Feuer heran und deutete in die Flammen. >Brennend heiß muss sie sein!<, sagte er mit seiner dunklen Stimme.
Und Jelke blickte in das lodernde Feuer, wie sie es vor einer Ewigkeit getan, damals, als sie den kleinen Mann getroffen.
>Heiß genug, um mein kaltes Herz zu wärmen?<, fragte sie.
Der Mann hielt seine Linke in die Flammen, die gierig an dem Fleisch zügelten.
>Heißer!<, sagte er.
>Heiß genug, dass sie mich verbrennt?<
Da lachte der Thal und zog seinen Arm zurück, der in Flammen stand. Er hielt das brennende Fleisch der Jelke hin und blies es mit seinem Lachen aus:
>Das wird sie ohnehin tun. Nein, heißer noch!<
>Verstehe! Verdammt heiß, also! Hm, heiß genug, dass der Zweifel zur Schlacke verglüht und die Gewissheit übrig bleibt?<
Der Munzianer schüttelte das Haupt, griff erneut ins Feuer und hob ein Stück Glut hervor. Das hielt er wieder der Jelke hin. Die sah, wie das Fleisch Blasen warf.
Dann riss Thal den Arm gen Himmel, dass Funken stoben, als er die Glut in seiner Hand zermalmte und schrie:
>Heiß! Heiß muss sie sein! Heiß genug, um in ihrem Feuer eine Zukunft zu schmieden!<
Jelke spürte die Hitze des Feuers in ihr aufsteigen. Schnell griff sie nach dem Schlauch, um sie zu ersticken.
>Eines, Freundin, darfst du nie vergessen:<, sagte Thal noch. >Was immer aus diesem Feuer hervorgeht, vergiss nie das, was darin vergangen! Denn das lehrt einem die Demut vor dem, was man hat!<
Da aber hatte die Jelke Thorgesttochter schon den Schlauch geleert und erwachte.
Ein schreckliches Heulen und die Rufe sterbender Männer drangen an ihr Ohr. Als sie versuchte sich aufzusetzen, warf sie ein brennend heißer Schmerz in der Schulter wieder zu Boden. Es kamen ihr die Arme von Kameraden zur Hilfe und brachten Jelke in eine aufrecht sitzende Position. Sie war noch immer auf dem Leichenberg. Der Feind hatte von ihnen abgelassen. Mitten unter ihnen war der Thal, wie der Löwe, nachdem er die Hirten zerrissen, nun mordend unter der Herde wütet. Der Mann aus Munz ging den Berserkergang.

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